Die medialen Kontroversen um das „Manifest für den Frieden“ wie auch auf die Veröffentlichung der Position „Chinas zur politischen Lösung der Ukraine-Krise“ haben zumindest die bundesdeutsche Diskussion über den Fortgang des Krieges in der Ukraine belebt und das Diskussionsspektrum erweitert. Vielleicht markieren sie im Rückblick den Übergang von der „Pathos- zur Ernüchterungsphase“. Die moralische Frage, wie viele junge Menschen in diesem Krieg elendig sterben oder lebenslang verstümmelt werden, und damit insgesamt eine „pazifistische“ Diskussionslinie, spielt offensichtlich derzeit medial keine wirkliche Rolle – die erschreckenden Zahlen toter und verkrüppelter Soldaten werden nur als relevante Kennziffern militärischer Erfolge/Niederlagen behandelt. Selbst in den Filmbesprechungen zu Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ in den Feuilletons wird der Bezug zum Ukraine-Krieg eher peinlich vermieden – ein deutscher Film mit vier Oscar-Auszeichnungen zur Unzeit. „Pazifismus“ wird einmal mehr in der deutschen Diskussion über den Ukraine-Krieg als Ausdruck politischer „Naivität“ klassifiziert, sogar disqualifiziert. Und sie wird als politische Haltung der Linken, der Sozialdemokratie und den Grünen zugeordnet – historisch und analytisch weitgehend unzutreffend. Die sozialistische Linke hat seit ihren Ursprüngen im frühen 19. Jahrhundert den bewaffneten Kampf immer – zumindest als Ultima Ratio – als legitimen Bestandteil des Kampfes um politische und soziale, antikoloniale und nationale Befreiung verstanden. Der „Pazifismus“ hingegen hat sich historisch als eigenständige Bewegung entwickelt und seine Dynamik aus den schrecklichen Erfahrungen der Weltkriege sowie seit Hiroshima aus der planetarischen Zerstörungswirkung nuklearer Waffensysteme bezogen. Er misst dem Wert menschlichen Lebens und Überlebens einen in jeder Hinsicht höheren Wert als jeglichen politischen und sozialen Zielen zu und verhält sich insofern kritisch sowohl zum militärischen Machteinsatz zum Erhalt existierender Machtverhältnisse als auch zur militärischen Überwindung unterdrückender Machtverhältnisse. Gewaltfreie Konfliktlösung ist insofern seine DNA. Die Dimensionen von Gewalterfahrung moderner Kriege und Waffensysteme haben die schon immer fragwürdige Differenzierung zwischen militärischer und ziviler Gewalt vollends obsolet werden lassen. Insofern sollte „Pazifismus“ als politische und moralische Haltung und als Alternative zu militärischen Konfliktlösungen ernsthaft diskutiert und bewertet werden – und nicht als naiv, lebensfremd abqualifiziert werden.
Gleichwohl klammere ich diese pazifistische Variante beim Nachdenken über eine nachhaltige Lösung des Ukraine-Krieges aus – aber nur angesichts seiner aktuellen Irrelevanz.
Unter nachhaltig verstehe ich, dass ein Ende der militärischen Aggression auch mit einer Lösung der territorialen, der ökonomischen wie ökologischen sowie der sicherheits- und abrüstungspolitischen Fragen verbunden sein muss, die meines Erachtens sowohl als Konfliktursachen als auch als Elemente einer Konflikt- und Kriegslösung bearbeitet werden müssen. (Diese Perspektive lag auch meinem Initiativantrag IA003 auf dem DGB-Bundeskongress zugrunde, der unter dem Titel „Für eine neue globale Friedens- und Sicherheitsarchitektur zur Realisierung der Pariser Klimaziele“ einstimmig angenommen wurde.)
Die Konturen möglicher Lösungen werden seit Beginn des Jahres 2023 transparenter und verdichten sich auf nur zwei Wege – allerdings mit sehr unterschiedlichen Varianten: die Kriegslösung und die Verhandlungslösung. Ich beginne mit der Darstellung der Kriegslösung und ihrer Voraussetzungen, Annahmen und Dynamiken.
1. Kriegslösung:
Was verstehe ich unter Kriegslösung? Darunter fasse ich alle Auffassungen zusammen, die in einem militärischen Sieg der Ukraine den entscheidenden Weg zur Beendigung des russischen Angriffskrieges sehen und deshalb Waffenstillstandsforderungen und Verhandlungsinitiativen ablehnen.
Diese Variante wird offensichtlich innenpolitisch von der Bundesaußenministerin als Vertreterin der Grünen und Teilen der CDU, außenpolitisch von Großbritannien, den baltischen Staaten und Polen sowie relevanten Teilen der NATO-Führung präferiert.
Diese Lösungsvariante beruht auf mindestens drei Annahmen:
– Mit Putins Russland gibt es keine Verhandlungsbasis, weil Russland inakzeptable Bedingungen für Verhandlungen stellt und den Rückzug aus allen ukrainischen Gebieten als Vorbedingung für Verhandlungen nicht akzeptiert.
– Mit verstärkten weiteren Waffenlieferungen der NATO-Staaten, ggf. auch deren Einsatz gegen die Nachschubdepots auf russischem Boden, ist es möglich, die russische Aggressionsarmee in überschaubarer Zeit und mit kalkulierbaren, akzeptablen Kosten an Menschenleben und zerstörter Infrastruktur bis an die russisch-ukrainischen Grenzen zurückzudrängen.
– Angesichts der bisherigen Erklärungen Russlands und Chinas sowie der unkalkulierbaren Risiken für Russland selbst kann ein Einsatz von Nuklearwaffen durch Russland mit nahezu 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden (Nuklearer „Bluff“ Russlands).
Aus den aktuellen öffentlichen militärischen Einschätzungen ergeben sich wenig belastbare Aussagen über
a) den Umfang weiterer notwendiger Waffen- und Munitionslieferungen (abgesehen von der qualitativen Erweiterung um Kampfflugzeuge),
b) die möglichen Zeiträume für die Realisierung einer Kriegslösung,
c) die Dynamik der finanziellen Belastungen für die russische Seite.
d) die Dynamik der finanziellen Belastungen für die USA und Europa (Waffen, Flüchtlinge, externe Finanzierung des UA-Staatshaushalts).
Mit Sicherheit kann nur davon ausgegangen werden, dass der quantitative Umfang der Unterstützung bis zur Realisierung der Kriegslösung zunehmen wird.
Aus den öffentlich rekonstruierbaren militärischen Lageanalysen geht nicht hervor, ob der gegenwärtige Zustand eines Abnutzungskrieges fixiert ist, welches Offensivpotential die russische bzw. ukrainische Armee besitzen, um aus dem Stellungskrieg in einen Bewegungskrieg überzugehen.
Eine Kriegslösung, die die territoriale Integrität der Ukraine militärisch wiederherstellt, würde faktisch zu einem fragilen Waffenstillstand führen, wenn sie nicht von einer rechtlichen, militärischen und wirtschaftlichen Vertragslösung begleitet wird, die von allen Kriegs- und Unterstützerstaaten akzeptiert wird. Mit anderen Worten: Auch eine kriegerische Lösung bedarf am Ende des Tages einer Verhandlungslösung all der bisher strittigen Fragen, z.B. welche Waffensysteme auf ukrainischem Boden stationiert werden, was mit den Sanktionen gegen die russische Wirtschaft geschieht, welche Sicherheitsgarantien es für die Ukraine gibt, wie die fossile russische Wirtschaft in globale ökologische Transformationsprojekte eingebunden wird.
Innerhalb der Kriegslösung bleibt zumindest die Frage offen, an welchen Kriterien ein Sieg über Putin-Russland festgemacht wird. Auch hier werden sehr unterschiedliche temporäre oder strukturelle Ziele genannt (Regimewechsel; Zerstörung des russischen militärisch-industriellen Komplexes; Systemwechsel, Schwächung Russlands militärischer Angriffsfähigkeit (US.-Verteidigungsminister Lloyd Austin) ).
Es ist durchaus nachvollziehbar, dass eine transparente öffentliche Diskussion dieser Themen schwierig ist.
Offene Fragen, die auch nach einer militärischen Kriegslösung offen bleiben, sollten aber transparent diskutiert werden. Mindestens diese konfliktreichen Themen bleiben auch am Ende einer militärischen Lösung offen:
– Welche längerfristigen Sicherheitsgarantien hat die Ukraine einschließlich der europäischen Staaten, wenn die russische Armee militärisch auf die ursprünglichen Grenzen (vor 2014, nach 2014(?); inklusive/exklusive Krim) zurückgedrängt wird und sich die geopolitische Blockbildung verfestigt?
– Wie sieht eine tragfähige, von allen Akteuren akzeptierte europäische Sicherheitsarchitektur nach einer Kriegslösung aus?
– Wie werden die globalen Fragen der Rüstungskontrolle und der Begrenzung von Rüstungsspiralen sowie der Kontrolle neuer autonomer, KI-gestützter Waffensysteme beantwortet? Dies betrifft insbesondere die Frage der Einbindung Chinas in neue internationale Abrüstungs- und Rüstungskontrollregime.
– Wie erfolgt die Reintegration Russlands als einem der größten CO2-Emittenten in die globalen Pariser Klimaziele?
– Wird die Wirtschaftssanktionspolitik gegenüber Russland fortgesetzt oder aufgehoben und unter welchen Bedingungen?
– Welche exemplarische Bedeutung hat die „Kriegslösung“ für Konfliktlösungen in den derzeit offenen Konflikt- und Kriegsherden (Libyen, Syrien, Jemen, Israel, Indien/Pakistan), in denen territoriale Integrität, nationale Souveränität ebenso wichtig sind wie die Frage der „humanitären Intervention“?
– Wer trägt die Kosten für den Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur?
Die alte Forderung kluger Politiker, ein Problem auch von seinem Ende her zu denken, gilt insofern auch für den Ukraine-Krieg. Dies betrifft z.B. die Frage, wie die Entstehung neuer „Revisionismus“-Themen verhindert werden kann oder die Verlagerung der militärischen Konflikteskalation aus der Ukraine in andere regionalen Gebiete (Taiwan-Frage, Naher Osten, Afrika). Von Putin bis Erdoğan: Wie pazifiziert man die Revisionisten?, Blätter für deutsche und internationale Politik Nr.1/2023, Herfried Münkler https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/januar/von-putin-bis-erdogan-wie-pazifiziert-man-die-revisionisten)
2. Verhandlungslösung
Das Thema Verhandlungslösung wird in der öffentlichen Diskussion auch unter den Stichworten „Waffenstillstand“, „Diplomatie statt Waffenlieferungen“ etc. diskutiert. In der kritischen öffentlichen Diskussion gegen Waffenstillstand und Verhandlungslösung wird – in unzulässiger Weise – eine Unterstellung gemacht: Ein Waffenstillstand mit Beginn von Verhandlungen beinhalte quasi naturgesetzlich die Festschreibung der jeweils aktuell militärisch dominierten, rechtlich beanspruchten Territorien.
Und sie unterstellt damit zugleich, dass allein militärische Ressourcen über das Ergebnis von Verhandlungen entscheiden. Darüber hinaus wird die Unmöglichkeit von Verhandlungen mit der Unvereinbarkeit der russischen und ukrainischen Positionen begründet. In diesem speziellen Fall – einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg – wird eine klassische Verhandlungslösung, bei der sich die Kontrahenten in irgendeiner imaginären Mitte entsprechend der eingebrachten Machtressourcen treffen, prinzipiell ausgeschlossen.
Eine genauere Analyse des Krieges zeigt, dass militärische Machtressourcen zwar eine wesentliche Rolle spielen, aber bei weitem nicht die einzigen Faktoren sind, die Verhandlungen und Verhandlungsergebnisse beeinflussen. Nehmen wir das Beispiel der Getreidelieferungen: Hier wurde ein Verhandlungsergebnis erzielt, obwohl Russland zunächst ein erkennbares Interesse daran hatte, die ukrainischen Getreideexporte und die damit verbundenen Exporterlöse zu unterbinden. Dennoch funktioniert dieses relativ schnell erzielte Verhandlungsergebnis bislang weitgehend effektiv. Hintergrund: Wichtige internationale Kooperationspartner Russlands in Afrika und Asien (u.a. China) sind existentiell auf diese Getreidelieferungen angewiesen, eine verweigerte Verhandlungslösung hätte Russland in schwierige Legitimationskonflikte gegenüber solchen Ländern gebracht. Das „Getreideabkommen“ steht insofern als Blaupause für meine Annahme, dass Verhandlungen und deren Ergebnisse von mehr als nur militärischen Machtpositionen abhängen.
Welche nicht-militärischen Interessen und Machtressourcen können Russland zu einem Waffenstillstand und zur Aufnahme von Verhandlungen bewegen?
- Die Wirtschaftssanktionen, insbesondere für High-Tech-Komponenten, gefährden zunehmend die Qualität des russischen Militär-Industrie-Komplexes. Damit sind zwei Probleme verbunden: Erstens sind die militärischen Machtressourcen der russischen Armee und zweitens die Exportfähigkeit des russischen Militär-Industrie-Komplexes (zweitgrößter Exportfaktor nach fossilen Energieträgern, Hauptabnehmer Indien, China) bedroht.
- Die Einsparung ökonomischer Ressourcen für mehr nukleare und nicht-nukleare Aufrüstung durch den Abschluss neuer globaler Rüstungskontrollabkommen. Hier droht Russland – wie in den 80er Jahren der Sowjetunion – eine zusätzliche Überforderung der russischen Wirtschaft, gemessen am ökonomischen Potential der NATO-Staaten.
- Schwindende Legitimationsressourcen des Putinschen Herrschaftssystems, insbesondere in der jüngeren, urbanen, hochqualifizierten Generation, die bereits heute den größten Teil der geflüchteten Russen stellt und in technologisch relevanten Sektoren zu Fachkräfteengpässen führt.
- Schwindende Kooperationsressourcen für Russland mit den BRICS-Staaten, die sich bisher aus eigenen wirtschaftlichen und/oder geopolitischen Gründen der westlichen Sanktionspolitik gegenüber Russland verweigert haben.
Ein unmittelbarer Zusammenbruch der technologischen, finanziellen, militärischen Infrastruktur ist bisher in keinem dieser Machtbereiche – entgegen ersten optimistischen Erwartungen – zu beobachten. Dennoch begründen sie m.E. schon heute gewichtige Interessen Russlands für eine russische Offenheit für Waffenstillstand und Verhandlungen.
Die genannten Themen beinhalten vielfältige Möglichkeiten, auch ohne vorherigen militärischen Rückzug Russlands zu einem Verhandlungsergebnis zu kommen, das die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine einschließt.
Gleichzeitig erfordert dies aber die Etablierung einer komplexen Verhandlungsstruktur, die je nach Themenkomplex unterschiedliche Akteure erfordert:
- Eine neue globale Rüstungskontroll- und Sicherheitsarchitektur kann nicht mehr allein zwischen den USA und Russland – wenngleich sie zwischen ihnen beginnen müsste – verhandelt werden, sondern erfordert auch die sukzessive Einbindung Chinas. Einbezogen müssten auch regionale Nuklearwaffenakteure wie Frankreich, Großbritannien, Indien, Pakistan, Israel, Iran und Nordkorea. Neben den klassischen ABC-Rüstungskontrollthemen könnten neue Themen wie KI-gestützte autonome Waffensysteme nicht ausgespart werden. (Die zu verhandelnden Themen sind zeitgleich mit dem Kriegsbeginn 2022 aufgelistet worden in dem Papier: “Internationaler Gewerkschaftsbund/Olaf Palme Institut/Internationales Friedensbüro (Hrsg.). Gemeinsame Sicherheit 2022. Stockholm 2022)
- Das Thema der Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland ist nicht allein zwischen den sanktionierenden Staaten und Russland zu verhandeln, da die Sanktionen nicht allein durch den Krieg in der Ukraine ausgelöst wurden. Das Thema betrifft insgesamt die Zukunft des Welthandels und der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung. Insofern könnte für diesen Verhandlungskomplex die G20-Struktur als Verhandlungsinitiator aktiviert werden.
- Für das Thema der gegenseitigen Sicherheitsgarantien könnte ein Verhandlungsformat sinnvoll sein, das die relevanten europäischen Anrainerstaaten der Ukraine und Russlands einbezieht, aber auch Initiativen der UN und der OSZE sind gefragt.
- Die Verhandlung aller Bedingungen eines Waffenstillstands, der Kontrolle seiner Einhaltung sowie aller damit verbundenen Themen liegt zuerst in der Verantwortung der Ukraine und Russlands selbst, eine Moderation wie bei den Getreideabkommen wird erforderlich sein. Der UN fällt eine Schlüsselrolle für die Überwachung und Garantie zu.
Angesichts der Komplexität der Verhandlungsthemen und ihrer Akteure wird deutlich, wie naiv die Vorstellung ist, die Ukraine und Russland könnten allein die Entscheidung über Kriegs- oder Verhandlungslösungen treffen. Alle Themen betreffen – in unterschiedlicher Intensität – eine Vielzahl von Staaten, die als wirtschaftliche und/oder militärische Kooperationspartner Russland oder die Ukraine unterstützen bzw. in hohem Maße von den schwerwiegenden Kollateralschäden des Krieges betroffen sind (Energie- und Rohstoffpreise; globale Finanzierungskonflikte zwischen Aufrüstung, Green-Deal und Armutsprojekten).
Kurzer Exkurs zur Verhandlungslogik
Nicht erst seit der Veröffentlichung des Harvard-Verhandlungskonzepts (Roger Fisher, William Ury, Bruce M. Patton (Hrsg.): Das Harvard-Konzept. Der Klassiker der Verhandlungstechnik. Campus-Verlag, Frankfurt am Main / New York 1984), das auf die Herstellung von Win-Win-Situationen abzielt, ist bekannt, dass Verhandlungslösungen jenseits der Ausgangsforderungen liegen und in der einen oder anderen Form Kompromisse beinhalten. Insofern sind Verhandlungen unmöglich, wenn die Umsetzung der Ausgangsforderungen zur Vorbedingung für Verhandlungen gemacht wird. (Rückzug der russischen Armee, Anerkennung der eroberten ukrainischen Gebiete usw.).
In Verhandlungssituationen, in denen sich die Ausgangsforderungen völlig ausschließen, muss entweder von einem völligen Scheitern ausgegangen werden oder das Spektrum der Verhandlungsthemen muss so erweitert werden, dass gemeinsame Win-Win-Situationen in den Verhandlungen hergestellt werden können.
In erfolgreichen Verhandlungen legen die Verhandlungspartner ihre roten Linien, Verhandlungsspielräume etc. nie vorzeitig auf den Tisch. Unvereinbare Ausgangsforderungen sind vielmehr selbst kommunikativer Bestandteil der Verhandlungen – und können insofern gerade nicht ernsthaft als Begründung für die Unmöglichkeit von Verhandlungen angeführt werden.
In den Anfangsphasen von Verhandlungen werden vor allem die Verhandlungsspektren und -interessen abgesteckt. Nur selten gelingen Verhandlungen, in denen der Gegenseite fertige Verhandlungslösungen zur Unterschrift vorgelegt werden. Dies ist nur bei Kapitulationserklärungen denkbar. Insofern kann es keine sinnvolle Kritik an der Forderung nach einem Waffenstillstand mit Verhandlungen sein, dass sie nicht gleichzeitig die Lösung mitliefert, die nur das Ergebnis der Verhandlungen selbst sein kann.
Gefährlich erscheinen mir alle Diskussionen, die Waffenstillstand und Verhandlungen aus moralischen Gründen oder unter Berufung auf historisch singuläre Erfahrungen verengen. Historische Analogien sind nur dann produktiv, wenn sie aus der Vielzahl historischer Verhandlungslösungen das Spektrum möglicher Lösungsformen erweitern.
(Vom Westfälischen Frieden über den Wiener Kongress bis zu den jeweiligen Nachkriegslösungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges oder der Vielfalt regionaler Konfliktlösungen – Vietnam, Korea, Afghanistan, Jugoslawien, Nahostkriege 1967/1973).
Pariser Klimaziele und Beendigung des Ukraine Krieges
Weder für die Ukraine noch für Russland ist die nachhaltige Beendigung des Krieges mit der Erreichung der Pariser Klimaziele verbunden. Für Russland und seine fossilen Energieexporte stellt die Energiewende hin zu erneuerbaren Energien eher ein wirtschaftliches Bedrohungsszenario dar, in geringerem Maße auch für die Ukraine. (Putins Krieg gegen die Ukraine – ein Krieg gegen die Energiewende – Europa Blog, Jürgen Klute, 20.2.2023)
Für die USA und die EU hingegen, die sich den Pariser Klimazielen verpflichtet haben, stellt der Krieg in der Ukraine mit seinen geopolitischen Folgen eine ernsthafte Bedrohung für die Erreichung dieser Ziele dar. Mit der sich abzeichnenden wirtschaftlichen Blockbildung geht die Gefahr einher, dass zwei der Länder mit den höchsten CO2-Emissionen (Russland, China) ihre angekündigten ökologischen Programme nicht mehr ernsthaft verfolgen. Die sinkenden Preise für russisches Erdöl und Erdgas fördern deren Verbrennung in den afrikanischen und asiatischen Abnehmerländern. Insofern erforderte eine nachhaltige Beendigung des Krieges in der Ukraine auch Konzepte für den ökologischen Umbau der russischen Wirtschaft. Ein Interesse, das die USA und die EU aus wohlverstandenem Eigeninteresse in Verhandlungen einbringen müssen.
Chancen, Interessen und Vorteile einer Verhandlungslösung
Welche Chancen gibt es für eine Kriegs- oder Verhandlungslösung? Die Chancen für eine Kriegslösung, die zwingend den erneuten Übergang aus einem Stellungskrieg zu einer ausgreifenden militärischen Offensive erfordert, sind nicht sehr groß, da sie eine erhebliche Steigerung der militärischen, ökonomischen, finanziellen und personellen Ressourcen voraussetzt. Den Belastungen einer Kriegslösung steht angesichts der Zerstörung der Infrastruktur und der Entvölkerung der militärischen Kampfzonen durch Flucht und Tod, kein ersichtlicher ökonomischer Gewinn gegenüber. Der Gewinn für die Bevölkerung besteht in der Sicherung politischer Freiheitsrechte und vor allem in der beschleunigten, wenn auch zunächst nur informellen Integration in den westlichen Wohlstandsraum. Auch für Russland stellt die Sicherung der territorial besetzten Gebiete – gemessen an den ökonomischen und politischen Verlusten – keinen wirklichen ökonomischen Kriegsgewinn dar. Und für die Ukraine und ihre Unterstützer bleiben auch nach einer militärischen Kriegslösung alle wesentlichen Konfliktthemen ungelöst.
Allerdings hat auch eine Verhandlungslösung nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die genannten notwendigen globalen Akteure sich Vorteile von einer nachhaltigen Lösung versprechen, d.h. einer Lösung entlang der Themenkomplexe „neue Sicherheits- und Abrüstungsarchitektur“, „faire Welthandelsorganisation“, „Realisierung der Pariser Klimaziele“.
Erkennbar ist, dass es global ein ebenso breites wie differenziertes Spektrum von Interessen in Europa, in den USA, in Asien, in den Ländern des „globalen Südens“ an einer übergreifenden, nachhaltigen Lösung der Themen gibt, die sich im Ukraine-Krieg geradezu brennglasartig verdichtet haben – aber auch von Interessen, die sich Vorteile von einer verfestigten globalen Blockbildung versprechen.
Allein die Komplexität der Interessen, der Themenkomplexe, der notwendigen Akteure einer nachhaltigen Verhandlungslösung duldet keinen Aufschub bei der Inangriffnahme diplomatischer Initiativen für eine Verhandlungslösung. Ein Waffenstillstand als Beginn dieses Prozesses würde unendliches menschliches Leid verhindern, ist aber nach aller historischen Erfahrung keine zwingende Voraussetzung für die Etablierung von Verhandlungsformaten. Die Koppelung von Verhandlungsinitiativen und Verhandlungsbereitschaft an eine bestimmte militärische Ausgangslage birgt sowohl alle Risiken einer „Fehlkalkulation“ für beide Seiten als auch in jedem Fall einen erheblichen Zeitverlust für notwendige nachhaltige Verhandlungslösungen.
Unter diesem Aspekt ist auch der chinesische Friedensplan einer ernsthafteren Bewertung zu unterziehen – ernsthafter als zumindest in der bundesdeutschen Medienlandschaft.
Der chinesische Friedensplan
Mit einem bunten Sammelsurium von moralischen und politischen Argumenten wurde der von China vorgelegte 12-Punkte-Plan für eine Beilegung des Ukraine-Krieges in den bundesdeutschen Medien als Propaganda in den Papierkorb befördert, weil er Russland nicht definitiv zum Rückzug aus der Ukraine auffordert. (Felix Wemheuer, Chinas Haltung zum Ukraine-Krieg: Strategische Autonomie gesucht) Was als Ergebnis von Verhandlungen angestrebt werden sollte, wird mit dieser Forderung zur Vorbedingung von Verhandlungen gemacht, die dann überflüssig wären. Insofern wird von China verlangt, das Ziel einer „Kriegslösung“ gegenüber Russland machtpolitisch durchzusetzen. Was immerhin auch unterstellt, dass China über jene Macht verfügte, die die NATO-Staaten gegenüber Russland bislang nicht mobilisiert haben. Interessant auch, dass vor allem Chinas Warnung vor dem Einsatz von Atomwaffen begrüßt wird. Interessant vor allem deshalb, weil der Nichteinsatz von Atomwaffen eine der drei zentralen Bedingungen für die „Lösung des Krieges“ ist.
Ein weiterer Kritikpunkt: China mache seine eigenen Interessen zum Ausgangspunkt des Friedensplans. Es liegt jedoch in der Logik jeder Verhandlung, dass ihre Akteure ihre eigenen Interessen zum Verhandlungsgegenstand machen.
Damit wird der eigentlichen Frage des chinesischen Positionspapiers ausgewichen: Welche Verhandlungsthemen sieht China als Voraussetzung für ein Ende des Krieges in der Ukraine? Und für Deutschland stellt sich die Frage, wo es Schnittmengen mit den deutschen und europäischen Interessen an einer nachhaltigen Beendigung des Krieges in der Ukraine gibt:
Immerhin gibt es eine Schnittmenge, die Olaf Scholz in Foreign Affairs benannt hat: Die Verhinderung einer neuen globalen Blockbildung, eines neuen kalten Krieges, die den freien und fairen Welthandel und damit auch den Erhalt globaler Wertschöpfungsketten in Frage stellt. (Olaf Scholz, Die globale Zeitenwende. Wie ein neuer Kalter Krieg n einer multipolaren Ära vermieden werden kann, Foreign Affairs v. 05.12.2022)
Interessant an Chinas 12-Punkte-Plan ist aus verhandlungslogischer Sicht,
– dass wesentliche Verhandlungsthemen und damit das notwendige Verhandlungsspektrum angesprochen werden, wie z.B. legitime Sicherheitsinteressen, wirtschaftliche Sanktionen, Perspektiven des Welthandels, Einhaltung der Ziele und Prinzipien der UN-Charta.
– Dass ein wichtiger globaler Akteur Themen und Interessen offenlegt, an denen sich andere Akteure orientieren können. Interessant wäre ein analoges Papier z.B. der EU und der USA mit einer Stellungnahme zu den einzelnen Punkten.
– Dass sich China als Akteur für eine Verhandlungslösung deutlich zu Wort meldet. Die wenig hilfreiche Alternative wäre gewesen: keine Vorschläge und Waffen-/Technologielieferungen an Russland.
– China tritt dezidiert nicht selbst als Vermittler auf, sondern ruft Dritte dazu auf.
Für den Ukraine-Krieg mag es sicher auch eine militärische Lösung geben. Aber in allen Varianten um den Preis der ungelösten Themen eines nachhaltigen Friedens, einer nachhaltigen ökonomischen und ökologischen Perspektive. Dies sollten alle Akteure im Sinne des preußischen Kriegstheoretiker von Clausewitz im Auge behalten, deren Blickwinkel die Produktion, Lieferung und den Einsatz von Militärtechnologie nicht überschreitet. (Christian Th. Müller, Frag mal Clausewitz, taz v. 23.03.2023)
ANHANG:
China`s position on the Political Settlement of the Ukraine Crisis, 2023-02-24
Position Chinas zur politischen Lösung der Ukraine-Krise
Anmerkung zu diesem Positionspapier in der Berliner Zeitung v. 25.02.2023: „Es werden bestimmte Grundprinzipien genannt, deren Anwendung jedoch nicht ausschließlich in der Macht der beiden Kriegsparteien liegt. Von den Kriegsparteien gelöst werden könnten sieben Punkte: „Respektierung der Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität; Einstellung der Feindseligkeiten; Wiederaufnahme der Friedensgespräche; Lösung der humanitären Krise; Schutz von Zivilisten und Kriegsgefangenen; Sicherheit für Kernkraftwerke herstellen; Erleichterung des Getreideexports“. Fünf weitere essenzielle Punkte müssten dagegen zwischen den USA und Russland oder aber auf Ebene der globalen Großmächte verhandelt werden: „Abkehr von der Mentalität des Kalten Krieges; Reduzierung strategischer Risiken bei Atomwaffen; Beendigung einseitiger Sanktionen; Sicherung der Stabilität von Lieferketten; Wiederaufbau nach Konflikten“.
Zum Autor: Witich Roßmann, Politikwissenschaftler und Historiker. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter des Marburger Instituts für und Mitherausgeber und Autor mehrerer Studien zur Geschichte und Politik der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung. Bevollmächtigter der IG Metall Köln-Leverkusen bis 2017. Vorsitzender des DGB Köln.
Ein wohltuend differenzierter, Moralisierungen vermeidender Beitrag, der nahezu allen Entscheidungsträgern in den Parteien, Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften und Journalisten zu empfehlen wäre. Die gegenwärtige Verengung des Diskurses nahezu ausschließlich auf eine militärische Lösung wird dauerhaft zu einer Beschädigung der Demokratie führen.