Vom 18. bis 24. Februar 2024 findet eine Aktionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien statt, die auf die Situation der geschätzt gegenwärtig drei Millionen Kinder in Deutschland aufmerksam machen will, die mit mindestens einem suchtkranken Elternteil aufwachsen und deren Situation all zu oft „vergessen“, sprich übersehen wird. Im Rahmen dieser Aktion gibt es unter anderem eine Fotoausstellung, die unter dem Motto steht: „Gesicht zeigen – Was erwachsene Kinder aus suchbelasteten Familien stark gemacht hat.“ Sie erzählt die Geschichten von zehn Erwachsenen unterschiedlichen Alters, die trotz der elterlichen Suchterfahrung zu starken Menschen geworden sind. Einer, der sein Gesicht zeigt und sich durchaus als starker Mensch versteht, ist auch der Sänger Max Mutzke, der in seinen Konzerten, so sagt er, oft Tränen fließen sieht, wenn er seinen Song „Hier bin ich Sohn“ singt, in dem es um seine alkoholkranke Mutter geht.
Die Bekämpfung von Sucht ist ein großes Thema, gerade zurzeit auch im Zusammenhang mit der Legalisierung des Cannabis-Konsums. Am Rande sei nur erwähnt, dass der Schirmherr der Aktionswoche und Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhard Blienert (SPD), als Befürworter einer Legalisierung von Cannabis gilt. Aber das steht vielleicht auf einem anderen Blatt. Vergessen wird oft – daher der Titel der Aktion -, dass nicht nur die Süchtigen, sondern auch ihr familiäres Umfeld leiden. Hier ist gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Hilfe dringend erforderlich, denn Sucht und Abhängigkeit sind immer noch Tabu-Themen. Deshalb ist der Aktion große Aufmerksamkeit zu wünschen – aber leider ist zu befürchten, dass es immer wieder viel zu viele Kinder geben wird, die ein Leben lang das Thema Sucht als Päckchen oder Paket mittragen müssen. Blienert: „Zwei von drei Kindern aus suchtbelasteten Familien werden später selbst suchtkrank oder sind psychisch beeinträchtigt.“
Mutzke spricht von einem Trauma, das ihn aber auch stark gemacht habe. Diese Aussage hat bei mir – und jetzt wird es persönlich – etwas zum Klingen gebracht. Denn: Auch mein Vater war alkoholabhängig! Er trank jeden Abend zwei bis drei Flaschen Bier – aber, und das war das Schlimme, in regelmäßigen Abständen kam er bevorzugt freitags so betrunken vom Dienst – er war Beamter -, dass er manchmal auf dem Weg zwischen der nahegelegenen Kneipe, wo er versackte, und unserer Wohnung stürzte und von meiner Mutter oder mir, als ich groß genug war, nach Hause geholt werden musste. Der Blick über den Balkon Richtung Kneipe – wo bleibt er denn? – war immer angsterfüllt. Anschließend war er mehrere Tage krank, aber dann „funktionierte“ er wieder für drei oder vier Wochen. Trotz seiner Sucht machte er beruflich durchaus Karriere und brachte es bis zur Endstufe im gehobenen Dienst, ging allerdings vorzeitig in den Ruhestand und starb mit 63 Jahren. Der Alkohol hatte seine körperliche Gesundheit stark beeinträchtigt.
Er stammte vom Land, genauer von einem Bauernhof im Kreis Paderborn, und hatte zehn Geschwister. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, als er, Jahrgang 1928, zum Volkssturm eingezogen und noch militärisch ausgebildet werden sollte, versteckte ihn seine Mutter. Als Schulabschluss hatte er die Mittlere Reife. In normalen Zeiten hätte er das Abitur gemacht und womöglich studiert, wie zwei seiner jüngeren Brüder, die Lehrer wurden. Sein Schulenglisch war so gut, dass er beim Einmarsch der Amerikaner als Dolmetscher in deren Jeep mitfuhr. Er fing beruflich als Sekretär in der Stadtverwaltung seines Heimatortes an, heiratete 1951, wurde Beamter in der Kreisverwaltung in Wiedenbrück und dann in der Bezirksregierung in Arnsberg. Von dort wurde er 1963 nach Düsseldorf versetzt – und das Elend begann.
Seinen ursprünglichen Wohnort hatte er bis dahin nicht verlassen müssen, sondern war mit dem Zug oder später dem eigenen Auto zum Dienst gefahren. Er war Jäger und viel in der freien Natur, wovon seine Aufsätze, die er für die Zeitschrift „Wild und Hund“ schrieb, Zeugnis ablegen. Sein Alkoholkonsum hielt sich bis dahin in den im ländlichen Westfalen üblichen Grenzen. Die Versetzung nach Düsseldorf machte aber einen Umzug der Familie erforderlich, weshalb auch ich – als einziges Kind – mit neun Jahren vom Land in die Großstadt verpflanzt wurde. Auch meiner Mutter fiel der Umzug schwer, denn sie stammte aus einer großen und in unserer Heimat stark verwurzelten Familie. Sie war fünf Jahre älter als mein Vater und eine starke Frau, die als ältestes von sieben Kindern einer Kaufmannsfamilie den Haushalt hatte versorgen müssen, als ihr Vater kurz nach Kriegsende bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war und ihre Mutter das Geschäft weiterführen musste. Von ihren Brüdern wurde einer in Stalingrad vermisst und zwei weitere, Jahrgänge 1926 und 1927, waren als Soldaten in westliche Kriegsgefangenschaft geraten, aus der sie erst später zurückkamen. Es war keine Frage, dass nicht etwa die älteste Tochter, sondern die Söhne eines Tages die Leitung der Firma übernehmen sollten. Unter normalen Umständen hätte meine Mutter eine Ausbildung gemacht, aber so reichte es zur Hauswirtschaftsschule; nach ihrer Heirat wurde sie Hausfrau und Mutter.
Die Behörde, in die mein Vater versetzt wurde, konzentrierte die Besoldung und Versorgung der nordrhein-westfälischen Beamten in einer neuen Landesbehörde in Düsseldorf. Ihre Bediensteten stammten zu großen Teilen aus den unterschiedlichen Bezirksregierungen. Das hatte einerseits häufige Fahrten unserer Familie mit einer Kollegin meines Vaters in die westfälische Heimat zur Folge, andererseits waren unter der Woche Umtrunke unter den Kollegen – fern der Heimat – keine Seltenheit. In dieser Zeit wuchs sich das Alkoholproblem meines Vaters deutlich aus. Da wir nie sicher sein konnten, wann es wieder so weit war, dass er betrunken nach Hause kam, entwickelte ich als Kind eine Abwehrstrategie: Ich kapselte mich ab, verschlang Bücher, Karl May rauf und runter, traute mich nicht, Schul- oder Spielkameraden nach Hause einzuladen. Als Messdiener hatte ich einen Freundeskreis, der bis heute Bestand hat, aber auf die Frage nach Schulfreunden hatte ich selten bis nie eine Antwort, weder in der Volksschule, wie sie damals noch hieß, noch im Gymnasium.
Kein Wunder, dass ich als stilles Kind galt. Aufgrund meines Lesehungers machte mir das Lernen in der Schule keine zu große Mühe – selbst in Mathematik kam ich zurecht, hatte der Mathelehrer doch meiner Mutter – mein Vater war in Schulfragen nicht präsent – schon beim ersten Elternsprechtag im Gymnasium den beruhigenden Satz mit auf den Weg gegeben: „Er ist keine Leuchte, aber er wird es schaffen!“ Meine Angst, dass die Alkoholsucht meines Vaters von anderen beziehungsweise von Schulkameraden oder Messdienerfreunden bemerkt würde, war omnipräsent. Wie meine Mutter das ausgehalten hat, ist mir bis heute ein Rätsel. Gesprochen hat sie zu Lebzeiten nie darüber, weder mit mir noch mit anderen. Denn auch das war eine Folge der Sucht: Einen Bekannten- oder Freundeskreis im engeren Sinne hatte nicht nur ich nicht, sondern auch meine Eltern nicht, nachdem wir nach Düsseldorf gezogen waren. Auf Fotos der Zeit davor kann man erkennen, dass das einmal anders war.
Für meinen späteren Lebensweg hat mich die familiäre Situation natürlich maßgeblich geprägt. Es war keine leichte Kindheit, aber ich habe mich darin zurechtgefunden. Die Welt der Bücher hat mich aufrechterhalten und viel Wissen vermittelt. Das unterbewusste Gefühl, alles unter Kontrolle haben zu müssen, damit meine Welt nicht zerbricht, bin ich wahrscheinlich bis heute nicht losgeworden. Alkohol war für mich selbst eigentlich nie ein Problem, dafür hatte ich das Negativbeispiel zu deutlich vor Augen. Natürlich war ich als Jugendlicher auch hin und wieder betrunken, aber anschließend ging es mir immer so schlecht, dass das nur selten vorkam. Beruflich habe ich meinen Weg gemacht, wofür ich meinen Eltern sehr dankbar sein kann, denn sie haben mich zu Studium und Promotion ermuntert und mir die Unterstützung gegeben, die ich dafür brauchte. Vielleicht wollten sie damit wiedergutmachen, was sie mir an unbeschwerter Kindheit nicht hatten bieten können.
Mit meiner Frau und meinen Kindern konnte und kann ich über diese Geschichte sprechen. Das ist nicht selbstverständlich, denn leider herrscht in vielen Familien ein Schweigegebot, das es aber zu brechen gilt. Deshalb ist die Aktionswoche für die „vergessenen Kinder“ ein so wichtiges und dringendes Anliegen. Man kann nicht genug dafür tun, dass Kinder mit suchtkranken Eltern besser gesehen und gehört werden und dass sie Hilfe bekommen. Dafür darf der Umgang mit Sucht und Abhängigkeit aber kein Tabuthema bleiben. Und dafür müssten mehr derartige Geschichten erzählt werden, selbst wenn sie Persönliches offenlegen, das bisher selbst im engeren Umfeld kaum jemand kannte beziehungsweise kennen sollte. Das gilt für starke Menschen und eigentlich erst recht auch für schwache, was immer man darunter versteht.