Frage: In den nächsten Jahren werden in Deutschland viele Hundert Milliarden Euro vererbt, doch der Anteil der Erbschaftssteuer am gesamten Steueraufkommen des Staates beträgt heute gerade mal 0,8 Prozent, 40 Prozent der Großerben zahlen überhaupt keine Steuern. Ist das gerecht?
Gosepath: Das ist nicht gerecht. Zum einen, weil einige erben, andere nicht. Diese Ungleichheit verletzt unser Empfinden für Chancengleichheit. Wenn Kinder schon in jungen Jahren erben, dann erhöht das natürlich ihre Lebenschancen, und das ist gegenüber denen, die nicht erben, ungerecht. Und diejenigen, die erst mit 60 oder 70 Jahren erben, nachdem sie selbst ein gutes berufliches Auskommen hatten, geben es dann an ihre Kinder weiter, so dass sich die Chancenungleichheit auf die nächste Generation überträgt.
Frage: Und der zweite Grund?
Gosepath: Erben verletzt das meritokratische Prinzip, das Leistung belohnt. Die Idee dahinter ist: Ich soll das, wovon ich lebe, mir selbst erarbeitet haben. Dagegen verstößt klarerweise jede Erbschaft. Das ist wie ein unverhofftes Geschenk oder die Lotterie der Natur, weil ich mir meine Eltern nicht ausgesucht habe. Diese beiden Prinzipien der Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Verdienstprinzip, werden in unserer Gesellschaft weithin anerkannt. In Erbschaften liegt also ein inhärenter Widerspruch dazu.
Frage: Obwohl der frühere britische Premierminister David Cameron mal gesagt hat, es sei ein urmenschlicher Instinkt, seine Nachkommen auch über den eigenen Tod hinaus zu versorgen?
Gosepath: Das stimmt, deshalb gilt das Vererben trotz des Widerspruchs gegen die Chancengleichheit als durchaus anerkannte Praxis. Aber das Bestreben, seine eigenen Kinder zu befördern, bedeutet nicht unbedingt eine finanzielle Alimentation. Viel wichtiger ist doch, seinen Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, das schließt zwar auch materielle Leistungen ein, aber mehr noch elterliche Anstrengung. Es soll bei uns in Deutschland jedenfalls nicht so sein wie in den USA, wo Eltern ihre Kinder in Elite-Universitäten regelrecht eingekauft haben.
Frage: Es gibt also Grenzen elterlicher Fürsorge?
Gosepath: Es gibt zumindest Regeln der Gerechtigkeit, an die sich alle in der Gesellschaft halten sollten und die elterliche Fürsorge limitieren.
Frage: Wirtschaftliche Ungleichheit ist – wie der große us-amerikanische Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls sagt – nur solange akzeptabel, wie sie dem Vorteil aller gereicht?
Gosepath: Ja, vor allem zum Vorteil der Schlechtergestellten, die besonders davon profitieren müssen, dass es ungleichen Reichtum gibt. Es geht nicht darum, alle schlechter zu stellen, sondern alle besser.
Frage: Das heißt: Umverteilung zugunsten der Schwächeren. Reicht es für ein höheres Maß an Gerechtigkeit, wenn man – wie schon der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) forderte – die Tarife der Erbschaftssteuer in Deutschland auf ein international vergleichbares Maß anhebt?
Gosepath: Als Philosoph, der die Freiheit hat, die Dinge ganz grundsätzlich anzugehen, würde ich sagen: Das reicht nicht. Für die Politik, die sich in der Kunst des Kompromisses üben muss, wäre das ein Schritt in die richtige Richtung.
Frage: Aber eine moderate Erhöhung der Erbschaftssteuer oder selbst die Wiedereinführung der Vermögensteuer würden extremen Reichtum kaum schmälern?
Gosepath: Das stimmt. Es gibt mit den Superreichen in Deutschland eine eigene Klasse, die sich deutlich von anderen Schichten abhebt. Demokratie aber funktioniert nur, wenn sich – bei allen Einkommensunterschieden – alle Bürger als eine Gesellschaft von Gleichen verstehen. Dagegen verstößt eine extreme Ungleichheit mit einer Klasse der Superreichen, die sich abschottet. Das wird schon sozial nicht als angenehm empfunden, aber noch bedenklicher wird diese Aufspaltung dadurch, dass mit Reichtum immer auch Macht und Einfluss verbunden sind, wie z.B. besonders stark in den USA oder Süd-Amerika zu sehen ist.
Frage: SPD und Grüne hatten vor der Wahl einen stärkeren Zugriff auf hohe Erbschaften und Vermögen angekündigt, doch die FDP verhinderte das. Hätten die rot-grünen Pläne tatsächlich die persönliche Freiheit der Bürger gefährdet?
Gosepath: Mein philosophisches Argument für eine viel stärkere Beschneidung oder sogar Abschaffung von Erbschaften ist: Was rechtfertigt den Erwerb von Eigentum? Eigentum ist die Bedingung für ein freies Leben. Dann ist aber auch klar, dass ich nach meinem Tod keine Freiheit mehr habe. Ich brauche also keine materiellen Güter mehr, um meine persönliche Freiheit zu verwirklichen. Logisch gedacht heißt das: Mein Recht auf Eigentum erlischt mit meinem Tod. Das ist die Konsequenz, für die ich argumentiere: Eigentum sollte zeitlich begrenzt sein, nämlich auf Lebenszeit.
Frage: Das klingt radikal.
Gosepath: Ich sage ja nicht, dass man dieser steilen philosophischen These folgen muss, auch ich bin an einer demokratischen Lösung interessiert, die auf eine möglichst breite gesellschaftliche Akzeptanz trifft. Dennoch muss es erlaubt sein, sich mindestens gedanklich einer extremen Position zu nähern, wenn man zu der Einsicht gelangt, dass die heutige Form des Vererbens extrem ungerecht ist – wie eine Lotterie.
Frage: Wenn Erbschaften nicht mehr möglich sind, kann man Vermögen ja auch verschenken?
Gosepath: Schon heute gilt, dass Schenkungen (unter bestimmten Bedingungen) rechtlich wie ein Erbe angesehen werden. Wenn damit die Erbschaftssteuer umgangen werden soll, müssten Schenkungen jenseits eines gewissen Freibetrags genauso behandelt werden wie Erbschaften, weil sie die gleichen problematischen Effekte auf die Chancengleichheit haben.
Frage: Könnte der Staat für Erbschaften und Schenkungen nicht eine Zweckbindung im Interesse der Allgemeinheit verordnen?
Gosepath: Das ist ein interessanter Gesichtspunkt. Man könnte bestimmte Formen von Schenkung prämieren, aktuell etwa die finanzielle Zuwendung an ukrainische Flüchtlinge. Das wird, durch den Tatbestand der steuerlichen Absetzbarkeit, heute bereits bei Spenden so praktiziert, die als gesellschaftlich nützlich anerkannt sind. Doch auch bei der Philanthropie gibt es, wie man wieder in den USA sehen kann, Probleme: Wenn alle für den gleichen Golfclub oder dieselbe Elite-Uni spenden, für Flüchtlinge oder Obdachlose aber nicht, kommen wir an einer Umverteilung nicht vorbei.
Frage: Wie?
Gosepath: Da würde es helfen, wenn wir eine öffentliche Liste von Einrichtungen oder Organisationen hätten, die von Spenden oder Schenkungen profitieren sollen, und sobald eine dieser Institutionen überproportional viele Spenden bekommen hat, wird sie für einige Zeit von der Liste gestrichen, damit auch die anderen zum Zuge kommen.
Frage: Die Weitergabe von Vermögen soll also nicht nur eine individuelle Angelegenheit sein, sondern auch einen kollektiven Nutzen haben?
Gosepath: Auf jeden Fall soll das Gemeinwohl berücksichtigt werden, im Grundgesetz steht: Eigentum verpflichtet. Und da haben wir gerade im Deutschland nach der Wiedervereinigung einen akuten Bedarf, denn während im Westen der Republik in nächster Zeit erhebliche Erbschaften anfallen – die Generationen des Wirtschaftswunders vererben an die Babyboomer-Generation -, erben die Menschen im Osten aus den bekannten Gründen wenig bis nichts. Daraus entsteht eine innergesellschaftliche Spaltung.
Frage: Vererben sichert im Falle von Familienunternehmen nicht bloß Wirtschaftsgüter und Arbeitsplätze, sondern auch Tradition und nicht zuletzt die enge Bindung unter Familienangehörigen. Wollen Sie das aufs Spiel setzen?
Gosepath: Gegen diese Art der Weitergabe an die nächste Generation spricht nichts, wenn damit keine Privilegien verbunden sind, die andere ohne guten Grund nicht haben. Solange mit diesem Akt nur der Erhalt eines Firmennamens oder der Belegschaft verbunden ist, wird niemand die hundertprozentige Besteuerung dieser Erbschaft fordern, sondern eher eine Stundung eines angemessenen Steueranteils. Doch dürfen die Erben ihren Gewinn nicht dadurch materialisieren, dass sie Vermögen aus der Substanz des Betriebes herausziehen. Auch unternehmerische Macht muss Grenzen haben.
Frage: Es gibt eine beachtliche Zahl von Milliardären oder auch jungen Millionenerben in Deutschland, die sagen, wir wollen freiwillig mehr Erbschaftssteuer zahlen. Warum greift die Politik diese Initiative („Tax me now“) nicht auf?
Gosepath: Ich vermute, dass es daran liegt, wie sich Politiker häufig verhalten: Wenn sie glauben, dass die Bevölkerung gewisse Entscheidungen scheut, dann schrecken sie auch davor zurück.
Frage: Weil im Wahlkampf gleich der Vorwurf von Enteignung oder Sozialneid droht?
Gosepath: Dieser Ruf schallt eher aus dem bürgerlichen Lager, aber auch bei den klassischen SPD-Wählern und Wählerinnen steht dieses Thema nicht ganz oben auf der Agenda. Offenbar glaubt selbst der Arbeitnehmer mit kleinem Einkommen, dass die Erbschaftssteuer schon bei dem zugreift, was er seinen Kindern vererben will. Aber so ist es ja nicht. Wir haben hohe Freibeträge, und der Staat sollte bei „Oma ihr klein‘ Häuschen“ oder bei Großvaters Golduhr tatsächlich nicht kleinlich sein. Es bleibt für mich ein Rätsel, warum viele Leute trotz dieser Freibeträge sehr zurückhaltend gegenüber Veränderungen bei der Erbschaftssteuer sind.
Frage: Und wenn man Mehreinnahmen bei der Erbschaftssteuer damit begründet, künftig jedem Bundesbürger mit Vollendung des 18. oder 21. Lebensjahres ein „Gesellschaftserbe“ von 20 000 Euro zu zahlen, wie es schon vorgeschlagen wurde?
Gosepath: Das ist theoretisch eine gute Idee für eine gerechte Umverteilung. Aber es gibt dabei zwei praktische Probleme. Steuereinnahmen sind bei uns nicht zweckgebunden, sondern fließen in den allgemeinen Staatshaushalt. Was die Politik mit diesem Geld macht, unterliegt ihrer demokratischen Entscheidung, kann also auch für andere Zwecke ausgegeben werden. Das andere Gegenargument ist: Was machen die 18-Jährigen mit 20 000 Euro? Nutzen sie das Geld für ihre Ausbildung, für ihr Studium oder geben sie es sofort aus, für ein Auto oder einen Urlaub zum Beispiel? Da müsste es schon die Gewähr dafür geben, dass dieses gesellschaftliche Erbe einer sinnvollen Investition in die Zukunft der jungen Generation dient.
Frage: Erben Sie selbst auch?
Gosepath: Sehr wahrscheinlich. Deshalb ist es für mich auch ein persönliches Anliegen, mich für eine Reform des Erbrechts einzusetzen. Doch dieses strukturelle Problem lässt sich – ähnlich wie beim Klimaschutz – nur gesamtgesellschaftlich lösen, nicht durch die freiwillige Bereitschaft zum Verzicht oder zur individuellen Änderung des Verhaltens. Es muss in beiden Fällen eine insgesamt gerechte Regelung für alle geben.
Prof. Dr. Stefan Gosepath: 1959 in Mainz geboren, studierte Philosophie in Tübingen, Berlin und Harvard. Er ist Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin und Direktor der Kolleg-Forschergruppe „Justitia Amplificata: Erweiterte Gerechtigkeit – konkret und global“. Seit dem 1. Oktober 2021 ist er mit einem „Opus-Magnum“-Stipendium der VW-Stiftung zu Forschungszwecken beurlaubt. Gosepath ist verheiratet, das Paar hat zwei Kinder.
Dieses Interview wurde erstveröffentlicht in der Südwestpresse am 4.5.2022