Deutschland steht wirtschaftlich gut bis sehr gut da, die Welt beneidet uns darum. Was nicht bedeutet, dass alles in bester Ordnung sei, dass es nicht noch besser werden könnte. Es gibt Verlierer in der Gesellschaft, um die die Politik sich kümmern muss, Langzeitarbeitslose, die man wiedereingliedern muss, damit sie sich nicht abgehängt fühlen. Und sicher muss man die Sorgen der Menschen wegen der Flüchtlingskrise ernstnehmen, und überhaupt ihre Ängste vor der Zukunft. Aber eines ist grundfalsch: Wenn gelegentlich der Eindruck erweckt wird, als stünde Deutschland vor dem Abgrund. Da gehen einige der AfD auf den Leim.
Ob die Kanzlerin Angela Merkel mit ihrer Bemerkung in der Bundestags-Debatte über die politische Gesamtlage der Republik, Deutschland werde Deutschland bleiben, in jeder Hinsicht Recht hat, sei dahingestellt. Denn natürlich wird sich das Land verändern, es hat sich auch in der Vergangenheit mit den Zeitläuften verändert. Stillstand bedeutet Rückschritt. Aber Merkel wollte ja die Gemüter vor allem in den eigenen Reihen beruhigen, die sich nach der Wahl-Niederlage der Christdemokraten in Mecklenburg-Vorpommern niedergeschlagen geäußert hatten. An der Spitze CSU-Chef und Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, der von einer „äußerst bedrohlichen Lage“ gesprochen hatte.
CSU sorgt sich um absolute Mehrheit
Die Enttäuschung im Lager der Union, vor allem der CSU, war und ist riesengroß. Vom Wähler auf Platz drei gesetzt zu werden und das im Merkel-Land, das muss man erstmal verdauen. Einige verstanden das als „Demütigung“, andere als „Scherbengericht“. Sie haben natürlich die Bundestagswahl im nächsten Herbst vor Augen, die Christsozialen mehr noch die Landtagswahlen im Freistaat 2018. Seehofer und sein Finanzminister Söder sorgen sich um die absolute Mehrheit der CSU in Bayern, die verloren gehen könnte, wenn die Proteststimmen weiter so bei der AfD landen. Aber eine Katastrophe wäre das nicht, ärgerlich ja, weil die CSU sich wieder mal einen Koalitionspartner suchen müsste.
Die Lage ist nicht bedrohlich, geschweige denn äußerst bedrohlich. Wir haben Probleme zu lösen, die Integration von einer Million Flüchtlingen geht nicht über Nacht. Es dauert, bis sie alle registriert sind, es dauert, bis die Lehrkräfte und Sozialarbeiter bereitstehen, es dauert nun mal länger, bis die entsprechenden Wohnungen gebaut werden. Aber das ist in Arbeit. Man mag das Tempo kritisieren, man darf hier auch nichts schönreden, was die besorgten Bürger mit eigenen Augen erleben. Und man muss bei allem aufpassen, dass es nicht so aussieht, als würde die deutsche Politik sich um die heimischen Problemkinder nicht mehr in ausreichendem Maße kümmern. Was sie ja auch nicht tut.
Fernsehen mit Fluchtpunkt Deutschland
„Fluchtpunkt Deutschland“ hieß die letzte Sendung „Hart, aber fair“ mit der Zusatzfrage: Überfordert Angela Merkel Deutschland. Der Satz der Kanzlerin vom letzten Jahr „Wir schaffen das“ ist für ihre Kritiker zum Reizwort geworden. Hätte sie besser „Wir schaffen das nicht“ sagen sollen, als Hunderttausende vor der Grenze standen? Dass Merkel hier human gehandelt hat, zutiefst christlich und sozial, wird nicht bestritten. Aber die Strategie danach wird gesucht, der Master-Plan, den es wohl so nicht gibt. Sie hätte mehr erklären müssen, wird eingeworfen. Kann sein, dass sie das Problembewusstsein bei manchen Bürgern stärker hätte bedienen müssen. Aber dass die Forderung aus München nach einer Obergrenze nicht erfüllt werden kann, dürfte eigentlich Seehofer klar sein. Das Asylrecht ist grundgesetzlich verbrieft, es kann also keine Obergrenze geben.
Dabei hat Merkel längst das zum Ausdruck gebracht, was die Bayern fordern: die Grenze ist dicht, es kommen nur noch vereinzelt Flüchtlinge nach Deutschland. Das Abkommen mit der Türkei ist hier hilfreich, auch wenn man Erdogan nicht schätzt, um es höflich auszudrücken. Sigmar Gabriel, SPD-Chef, Wirtschaftsminister und Vizekanzler, hat mehrfach betont, dass das, was im letzten Jahr passierte, natürlich nicht wieder geschehen darf. Deutschland könne nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen. Es ist unbestritten, dass es Grenzen bei der Aufnahmefähigkeit gibt, aber das mit der Obergrenze von 200000 ist nun mal falsch, weil nicht machbar. Siehe Grundgesetz.
Dass die Flüchtlingskrise Geld kostet, überrascht niemanden, sie wird sogar Milliarden Euro kosten, Belastungen, mit denen man die Kommunen nicht allein lassen darf. Vielleicht muss das Geld schneller ausgezahlt werden, die Klagen der Gemeinden sind nicht zu überhören. Hier sollte sich Merkel mehr einschalten, damit mehr geschieht- zum Wohle nicht nur der Flüchtlinge.
AfD-Mann, der von der SPD kam
In der genannten Fernseh-Sendung mit Frank Plasberg kam auch ein ehemaliger SPD-Mann aus dem Essener Norden zu Wort. Der Mann, Guido Reil, der die Partei nach 26 jähriger Mitgliedschaft Richtung AfD verlassen hat, teilte mächtig aus. „Wir schaffen die Integration nicht“, hatte Reil vor Monaten schon in einem Interview mit der WAZ betont. Jetzt bei Plasberg legte er nach und nutzte zugleich das Fernsehen, um seine Vorurteile im Sinne seiner neuen politischen Freunde von der AfD öffentlichkeitswirksam zu präsentieren. So sprach er von sexuellen Belästigungen beim Stadtfest „Essen Original“ und solchen im Grugabad, an denen Flüchtlinge beteiligt waren. Auch die wachsende religiöse Aufladung migrantischer Milieus machte er zum Thema wie vormodernde Einstellungen zu Geschlechterfragen.
Peter Altmeier: Propaganda
Einmal in Fahrt sah Reil „in jedem Essener Supermarkt“ Wachmänner stehen, die ihre Augen auf diebische Flüchtlinge richten. Und überhaupt funktioniere das Zusammenleben in den Siedlungen im Essener Norden überhaupt nicht. Dann hatte er noch verbal das Vorurteil vom „Rundum-sorglos-Paket“, das für Flüchtlinge geschnürt würde, im Angebot und stellte diesem deutsche Rentner gegenüber, die darben müssten. Gut, dass Kanzleramtsminister Peter Altmeier mit am Tisch bei Plasberg saß und dazwischenfuhr und Reils Äußerungen als „pure Propaganda“ einstufte.
Nun ist die Essener SPD seit einiger Zeit ein ziemlich zerstrittener Haufen und die Niederlage bei der letzten OB-Wahl kam nicht von ungefähr. Und es mag sein, dass es dort Zeitgenossen gibt, die sich der Realität verweigern, wie Reil engagiert vortrug. Aber die Art und Weise, wie der neue AfD-Mann hier Flüchtlinge und Terrorgefahr zusammenmixte, das war schon unverantwortlich. Peter Altmeier empörte sich zu Recht. Die Polizei stehe vor Festen und Geschäften wegen der Terrorgefahr und die gehe nicht von Flüchtlingen aus, sondern von Menschen, die hier aufgewachsen seien. Der AfD-Mann wolle „Hunderttausende Flüchtlinge“, die hier nur friedlich leben wollen, “in Verbindung bringen mit der Terrorgefahr“.
„Aus Frust über die CDU zur AfD“, so der Titel einer dpa-Geschichte, die der Bonner Generalanzeiger nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern veröffentlicht hat. Ein Richter, ein Professor, ein Rentner, der gelernter Elektromonteur war, schafften den Sprung in den Landtag, sie hatten ihre politische Heimat, die CDU, verlassen und waren der AfD beigetreten. Keine Einzelfälle, wie zu hören ist. Dabei ist die Lage der Bürger auch in ihrer eigenen Einschätzung ausgesprochen gut. So berichtet spiegel-online von einer Studie des Meinungsforschungs-Instituts Allensbach für die SPD-Fraktion. Danach beurteilt die übergroße Mehrheit die eigene materielle Lage als günstig und 71 Prozent der Befragten sind weiterhin der Meinung, dass es ihre moralische Pflicht war, den Flüchtlingen zu helfen. Vermisst haben sie die Strategie. Von bedrohlich kein Wort. Aber die Politik muss sich mehr um sie kümmern.