1. Einleitung
Es gibt Anlass, grundsätzlich zu werden. Die theoretischen Sicherheitspolitiker haben begriffen, dass auch in Allianzen etwas auftritt, was „moral hazard“-Verhalten genannt wird. Es handelt sich um einen aus der Versicherungsökonomie bestens bekannten Schematismus, bei dem ein Versicherter nichts mehr dafür tut, dass der Schadensfall nicht eintritt – die Impfgegner auf Intensivstationen sind ein beredtes Beispiel. Auch in der Sicherheitspolitik tritt das auf, wie mit etlichen historischen Beispielen belegt.
Modell war das Verhalten Österreichs, welches zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs geführt hat – da hat der manipulative „client“ den „patron“ zum Krieg verführt, da hat der Schwanz mit dem Hund gewackelt. Ähnlich das provokative Verhalten Georgiens, das zum Krieg mit Russland im August 2008 geführt hat; und zur Niederlage des im Stich gelassenen Klienten – fünf Monate nach dem doppelbödigen Aufnahme-Beschluss der NATO in Bukarest, der sich offenbar als verführerisch erwies. Der Patron „USA“ hielt lieber Distanz, war nicht so tumb wie das Deutsche Reich unter einem kriegslüsternen Kaiser.
Ein sicherheitspolitischer Klient neigt erfahrungsgemäß dazu zu meinen, aus dem Abstatten seiner Eintrittsgebühr in ein Bündnis ein unbedingtes Recht auf Unterstützung ableiten zu können – selbst wenn er sich, wie manche pathologische Feuerwehr-Mitarbeiter, persönlich ans Zündeln macht.
Es gibt drei Anlässe zu berichten, wo die erforderliche klare Kommunikation der Bundesregierung zumindest öffentlich nicht bekannt ist – es fragt aber auch niemand im Deutschen Bundestag bislang danach. Wie Colin Clark und 80 Jahre vor ihm Hermann Broch konstatierten: „Schlafwandler“!
2. Die in Kanada blockierte Gasturbine, die für Nord Stream 1 vorgesehen ist
Die kanadische Regierung hat bekanntlich die Rückführung einer reparierten Siemens-Gasturbine untersagt, mit Verweis auf die westlichen Sanktionen. Gazprom hatte dies zum Anlass genommen, den Durchfluss von Erdgas über Nord Stream 1 deutlich zu senken.
Die Bundesregierung hält die Drosselung zwar für einen Vorwand. Doch man wolle, so Habeck, der russischen Regierung diesen Vorwand nehmen und habe Kanada um die Freigabe der Turbine gebeten. Dazu gibt es auch positive Signale seitens der kanadischen Regierung.
Nach einem Bericht des US-Newsportals Politico setzt sich jedoch die ukrainische Regierung gegen eine Freigabe der Turbine ein. Der ukrainische Energieminister habe die kanadische Regierung gebeten, wegen der Gasturbine keine Ausnahme von den Sanktionen gegen Moskau zu machen, da es Russland freistehe, sein Gas durch die Ukraine zu leiten.
Vorbereitet wurde das durch ein Schreiben des ukrainischen Abgeordneten Galuschtschenko vom 23. Juni an die stellvertretende kanadische Premierministerin Chrystia Freeland. Darin heisst es, dass „alle notwendigen Infrastrukturen … vorhanden sind, um ausreichende Gasmengen in die EU zu transportieren … Dennoch weigert sich Gazprom, die verfügbare Kapazität des ukrainischen [Gasfernleitungsnetzes] zu nutzen, für die es zahlt.“
Man fragt sich schon, was noch geschehen muss, bis das Außenamt den Botschafter der Ukraine einbestellt. Der Sinn eines Bündnisses ist, dass man am selben Strick zieht – aber nicht in entgegengesetzte Richtungen.
3. Litauen beharrt auf Beschränkung des Waren-Transits nach Kaliningrad
Am 18. Juni um Mitternacht trat ein litauisches Verbot der Durchfuhr bestimmter Waren (Eisen und Stahl) aus Litauen in das Kaliningrader Gebiet Russlands, eine Enklave, in Kraft. Am 10. Juli werden Zement und Alkohol unter das Verbot fallen, einen Monat später folgt Kohle. Gegen Ende des Jahres werden auch Öl und Raffinerieprodukte von den Sanktionen betroffen sein.
Litauen behauptete, dazu durch das vierte bzw. fünfte EU-Paket der Russland-Sanktionen verpflichtet zu sein. In Brüssel sah man das, aber erst nach einer Intervention Deutschlands, nicht so. Deutschland hatte darauf verwiesen, dass ein „Transit“ kein „Export“ sei. Ob Brüssel bei der Formulierung unsauber gearbeitet hatte oder nur Litauens rechtliche Interpretation an den Haaren herbeigezogen ist, blieb zunächst unbekannt.
Ende Juni hat man aus Brüssel durchsickern lassen, wie es kommissionsintern zu dem Unglück gekommen ist. Die ursprüngliche Weisung sei vom Handelskommissariat unter Kommissions-Vizepräsident Valdis Dombrovskis ausgegangen, einem früheren lettischen Premierminister. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen habe die konfrontative Haltung inzwischen revidiert, auch mit dem Hinweis, dass sie im rechtlichen Widerspruch zur „Gemeinsamen Erklärung“ der EU und Russlands über den Transitverkehr von November 2002 stehe. Kein Bezug genommen wird auf den völkerrechtlichen Vertrag, den Litauen am 18. November 1993 mit Russland geschlossen hat.[4] Aus Kreisen der EU-Kommission wurde zuletzt verlautbart, man wolle Russland den Warentransit per Schiene auf dem alten Niveau wieder erlauben. Eine entsprechende Erklärung aber steht aus.
Nun wird berichtet, die litauische Präsidentenberaterin Asta Skaisgiritė habe sich am 7. Juli im nationalen Radio LRT drastisch ausgedrückt – wenn auch vermutlich für inländische Zwecke. Aber exakt das Innenpolitische gilt es wahrzunehmen.
„Die bisherige Politik Litauens besteht darin, den Transit sanktionierter Waren zu verbieten und zu kontrollieren. Das Moment der Kontrolle muss erhalten bleiben, und wenn jemand öffentlich von ‚grünen Korridoren‘ spricht, kann nicht daran gedacht werden, nicht zu kontrollieren, was wo und warum auf litauischem Gebiet passiert“, sagte Skaisgiritė.
Auch sie wies darauf hin, dass Litauen mit der Europäischen Kommission über den Text des kommenden Dokuments zur Klärung der Transitsituation verhandle. Doch in dieser Tonlage: Es sei nicht so, „dass die EU nur befiehlt und wir nur ausführen“.
Zum Hintergrund: Die Bundeswehr steht mit wesentlichen Kräften, rd. 900 Soldaten und Soldatinnen in einer von Deutschland geführten Battlegroup, in Litauen. Sie sind mit die ersten, die im Gefecht mit russischen Truppen stünden. Was Litauen selbst zu seiner Verteidigung auf die Beine stellt, ist von recht geringem Umfang nur. Deutschland steht deshalb in besonderer Verantwortung, Realismus einkehren zu lassen. Es wäre gut beraten, einen provozierten Bündnisfall nach dem Vorbild Österreichs 1914 klar abzulehnen und das auch pro-aktiv zu kommunizieren.
4. Polen plant den Verkauf von Unternehmen mit russischer Beteiligung
Der polnische Minister für Entwicklung und Technologie, Waldemar Buda, gab Anfang Juli bekannt, dass man beabsichtige, Unternehmen mit russischer Beteiligung, gegen die Sanktionen verhängt wurden, unter Zwangsverwaltung zu stellen, um sie zu verkaufen.
„Wir haben eine wichtige Entscheidung getroffen, um die Institution der so genannten vorübergehenden Zwangsverwaltung einzuführen„, teilte er auf einer Pressekonferenz nach einer Regierungssitzung mit. Diese Institution werde sich mit Unternehmen befassen, die „restriktiven Maßnahmen“, also Sanktionen, unterliegen. Das „vorübergehend“ hat dabei eine unorthodoxe Bedeutung. Nämlich diese, so Buda:
„Diese Regelung wird es ermöglichen, ein von Sanktionen betroffenes Unternehmen zu verwalten, um es zu verkaufen, und die Interessen der Arbeitnehmer zu wahren.„
Mit dieser Entscheidung werden Sanktionen unumkehrbar, sind nicht mehr zurückzunehmen, sind nicht als Mittel der Wirtschaftskriegsführung gegen Russland einsetzbar. Ein solcher Grundsatzbeschluss ist von der Allianz zu treffen, hier der EU, nicht von einzelnen Mitgliedern im Alleingang.
Luhmann hat Recht.