„Unser schwieriges Vaterland“ nannte einst Gustav Heinemann die Bundesrepublik. Der Sozialdemokrat aus Essen, der als Christdemokrat parteipolitisch gestartet war, dann die CDU wegen der Wiederbewaffnungs-Anstrengungen des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer(CDU) die Union aus Protest verlassen, danach die Gesamtdeutsche Volkspartei mit Johannes Rau und Dieter Posser gegründet hatte, um sich später der SPD anzuschließen. Unser schwieriges Vaterland mit der bleischweren Geschichte der Nazi-Zeit. Frank-Walter Steinmeier, der Sozialdemokrat, der an der Seite von Gerhard Schröder aufstieg, als dieser zunächst Ministerpräsident und dann Bundeskanzler wurde, hatte Heinemann zitiert, als Steinmeier seine Dankesrede nach seiner Wahl zum deutschen Staatsoberhaupt 2017 hielt. Und Steinmeier berief sich in seiner Rede auf eine junge Frau in Tunesien, die ihm zugerufen hatte: „Ihr Deutschen macht mir Mut!“ Die Frau war eine Aktivistin, die sich in ihrer Heimat für Demokratie und Menschenrechte engagierte. „Ist es nicht wunderbar“, griff der frisch gewählte Bundespräsident den Satz der Tunesierin auf, „dass dieses Deutschland, unser schwieriges Vaterland, für viele auf der Welt ein Anker der Hoffnung geworden ist?“
Gerade jetzt, da wir dabei sind, den 75. Geburtstag unseres Grundgesetzes zu feiern, darf man diese Zitate wieder hervorholen. Ungeachtet aller Probleme in diesem Land und mancher Sorgen, darf man den Bundespräsidenten zitieren, „weil wir gezeigt haben, dass es besser werden kann, dass nach Kriegen Frieden werden kann; und nach Teilung Versöhnung… dass uns vieles geglückt ist in unserem Land.“ Dass „wir den Mut brauchen, zu bewahren, was wir haben! Freiheit und Demokratie in einem vereinten Europa, dieses unser Fundament wollen wir verteidigen. Es ist nicht unverwundbar- aber es ist stark.“
Wenn ich durch das alte Regierungsviertel gehe, stolpere ich fast über diese Fundamente, die die Grundrechte des Grundgesetzes ausmachen. In Höhe des Hauses der Geschichte, beim Eingang in den Tunnel zur U-Bahn lese ich das mit der Würde des Menschen, die unantastbar ist. Ich sehe in der Glasfassade die Gesichter der damaligen Politiker, darunter Theodor Heuss, der der erste Bundespräsident war. Ja, dieser kluge Freidemokrat steht auch für das schwierige Vaterland. Man denke an den 23. März 1933, als das Ermächtigungsgesetz in der Berliner Kroll-Oper beschlossen wurde, womit der Weimarer Demokratie endgültig der Todesstoß versetzt und Hitlers Nazireich ermächtigt wurde, alle Rechte abzulösen und an diese Stelle den Führer zu setzen mit seiner Allmacht.
Damals hatte Parlamentspräsident Hermann Göring zur namentlichen Abstimmung über das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ aufgerufen. Und der Liberale Heuss gab seine Ja-Stimmkarte bei den Schriftführern ab, wie es seine vier Kollegen der damaligen Demokratischen Staatspartei taten. Damit stimmte er dem faktischen Grundgesetz der Nazis zu, wodurch das Parlament ausgeschaltet und der Führerstaat quasi allmächtig geworden war. Heuss hat dieses Kapitel schwer zugesetzt. Im Grunde hatte er Hitler unterschätzt, den er eigentlich ablehnte. Möglich, dass die Drohkulisse der Nazis, das ausgebrannte Reichstagsgebäude, die riesige Hakenkreuzflagge über dem Rednerpult, Hunderte SA- und SS-Leute in Uniformen standen herum, kommunistische Abgeordnete wurden schon verfolgt, einige saßen im Gefängnis wie einige Sozialdemokraten. Jedenfalls begründeten Carlo Schmid und Kurt Schumacher 1949 ihre Ablehnung des Liberalen als Gemeinschaftskandidaten für das Amt des Staatsoberhauptes ausdrücklich mit Heuss Ja-Stimme zum Ermächtigungsgesetz.
Schlitzohrigkeit Adenauers
Mein Deutschland, beginnt der frühere SZ-Chefredakteur Kurz Kister seine Geschichte anlässlich des 75. Geburtstages und gibt ihr den vielsagenden Titel: Meine andere Republik. Kister stammt aus Dachau, der Stadt des ersten KZ der Hitler-Diktatur und des letzten, das befreit wurde von den Amerikanern. Mein Deutschland, so haben wir nie gesprochen, muss ich gestehen. Es ist nicht meine Sprache, aber ich betone immer wieder: Ich bin Deutscher und lebe gern im Land, damals am Rand des Ruhrgebiets, heute im schönen Bonn. Wobei ich zugeben muss, wir haben uns im Revier, wo wir mit Familie Jahre lebten, stets wohl gefühlt, die Kinder sind dort geboren, wuchsen da auf. Der Ruhri ist ein angenehmer Zeitgenosse, ziemlich zuverlässig, wenn man ihn einmal als Freund gewonnen hat. Er steht auf dem Boden, zieht das Pils dem Champagner vor, was einiges sagt über seine Mentalität. Er packt mit an, hilft über den Zaun und ist oft normal. Er würde nie „mein Deutschland“ sagen, gehört ihm ja nicht, hat er nicht gekauft und nicht gemietet. Er lebt in dem Land und er tut es gern.
Das mit der Bundeshauptstadt Bonn war ja eine besondere Geschichte, die auch Teil der Schlitzohrigkeit des ersten Kanzlers entsprang, der unweit von Bonn im herrlich gelegenen Rhöndorf sein Haus hatte.(Es ist längst ein Museum) Der Alte trickste wohl bei der Sache die SPD aus. Bonn hatte den Vorteil, dass es trotz mancher Bombenschäden Viertel hatte, die quasi unbeschädigt waren. Aber es spielte auch eine Rolle, dass nicht jede Stadt daran interessiert war, Hauptstadt zu werden. So erzählte der ehemalige ZDF-Chefredakteur Reinhard Appel, dass er als junger Journalist im Auftrag der Stuttgarter Zeitung nach Bonn geschickt worden war, damit Stuttgart möglichst keine Rolle beim Rennen um die künftige Hauptstadt spielte. Man fürchtete dort, dass der Bund zu viele der erhaltenen Immobilien in Stuttgart in Anspruch nehmen könnte, was den Wohnungsmangel im Schwabenland nur vergrößern würde.
Bonn war immer ein Provisorium, so sah man sich. Aber niemand glaubte daran, dass die Russen den Ostteil Berlins wieder hergeben würden oder gar die DDR. Und als die Mauer gebaut wurde, schien der Riss endgültig, zwei kleinere Staaten waren aus dem einstigen Großdeutschland geworden. Wobei Teile des alten Reichs verloren waren wie Schlesien und Ostpreußen. Das war der Preis von 1933, dem der Weltkrieg folgte, die Kapitulation, die Alliierten hatten sich verständigt, daran gab es nichts zu rütteln. Wir hatten nicht mit am Tisch gesessen. Alles was später in Sonntagsreden gesagt wurde, über die Wiedervereinigung zum Beispiel, war Gerede. Der 17. Juni 1953 war ein Volksaufstand, aber Steine können gegen Panzer nichts ausrichten. So verlief es 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR.
Riesengebirge und Rübezahl
Als ich als Student für die WAZ in den Semesterferien gearbeitet habe, musste ich auch über Treffen von Vertriebenen berichten. Ich erinnere mich an ein Schlesier-Treffen in einem voll besetzten Saal in Datteln, da waren ganze Familien teils in ihren schlesischen Gewändern gekommen. Nein, revanchistisch waren die nicht, die hätten zwar gern ihre Heimat zurückgehabt , aber die Frauen, Männer mit Kindern waren längst heimisch geworden im Ruhrgebiet, hatten Häuser, Jobs, Freunde. Wenn man ihnen zuhörte, schwärmten sie von Oberschlesien mit Tränen in den Augen. Und nach zwei bis drei Stunden sangen sie zum Abschluss: Du mein liebes Riesengebirge, wo die Elbe so heimlich rinnt, wo der Rübezahl mit seinen Zwergen heut´noch Sagen und Märchen spinnt. Riesengebirge, deutsches Gebirge, meine liebe Heimat du. Ehrfurchtsvoll standen sie da, inbrünstig sangen sie. Und danach gingen sie friedlich nach Hause.
Bonn als Hauptstadt. Dem haben viele auch deshalb zugestimmt, weil sie davon ausgingen, dass diese kleine Stadt nie den Anspruch erheben würde, auf ewig politische Zentrale der Republik zu bleiben. Aber mit der Zeit richtete man sich am Rhein ein und fühlte sich wohl. Die große Politik kreuzte hier auf und fuhr mit ihren großen Limousinen über die B9, davor weiße Mäuse der Polizei. De Gaulle war hier, der Kaiser von Äthiopien Haile Selassie. Man schaue sich das Haus der Geschichte an und die dazu gehörenden Bilder hinter Glas gegenüber der Treppe zu U-Bahn. Bilder vom Bundespresseball mit Helmut Kohl, Willy Brandt, Kurt-Georg Kiesinger, Walter Scheel.
Hier am Rhein fanden die großen Debatten im alten Bundestag statt, später im ehemaligen Wasserwerk. Redeschlachten zur
Wiederbewaffnung, zur neuen Bundeswehr, später zur Spiegel-Affäre, die zum Rücktritt von Strauß führte, zu den Notstandsgesetzen, zur Lage der Nation, die von Studentenunruhen begleitet waren, zur Ostpolitik des ersten SPD-Kanzlers Willy Brandt mit dem FDP-Außenminister Walter Scheel, der dann Bundespräsident wurde.
Bonn-Berlin-Debatte
1991 gab es die große Debatte über Bonn und/oder Berlin. Berlin setzte sich in der Hauptstadtfrage durch. Es wird bis heute betont, Wolfgang Schäuble, der vor Wochen verstorbene CDU-Politiker, habe in der Plenardebatte mit seiner Rede die Stimmung zugunsten Berlin gedreht. Mag sein. Ich kann mich gut erinnern, wie diese Debatte im Vorfeld geführt wurde, da nahmen die großen Alten Einfluss auf die Jüngeren, Helmut Kohl auf die Union, Willy Brandt auf die SPD, auch Hans-Jochen Vogel war für Berlin, Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff auch. Da soll es manchen Puffer gegeben haben, manche Ermahnung, Einflussnahme. Gegen diese starke Riege konnten Johannes Rau und Norbert Blüm nicht gewinnen. 1999 verabschiedete sich der Kanzler Gerhard Schröder von Bonn. Und in Berlin erfand man das Gerede von der Berliner Republik. Sollte wohl heißen, alles würde anders. Erstens das nicht und besser auch nicht. Ich wiederhole mich gern: Das Fundament dieser Republik wurde in Bonn gebaut. Solide, vielleicht etwas kleiner, eben passend zu Bonn. Berlin ist da ja eher großspurig unterwegs.
Ich kann mich an viele Treffen am Rhein erinnern, an Gespräche, Diskussionen, an Pressekonferenzen und Hintergrundgespräche in den Landesvertretungen. Wir trafen uns mit unserem Kreis „Provinz“ oft in den Räumen des Presseclubs, als Gäste hatten wir Politiker wie Heiner Geißler eingeladen oder Rudolf Dressler, der andere Hintergrundclub, Baden-Württemberg-Kreis“ genannt, tagte in der Landesvertretung Ba-Wü. Dort empfingen wir eines Tages Rudolf Scharping. Das Treffen war deshalb so interessant, weil der rheinland-pfälzische Ministerpräsident kurz vorher erklärt hatte, er werde als Kanzlerkandidat gegen Helmut Kohl antreten. Und nicht Oskar Lafontaine. Dass Scharping gegen den Pfälzer Kanzler verlor, steht auf einem anderen Blatt.
Es war in Bonn, wo die Nachricht, dass die Berliner Mauer geöffnet sei, wie eine Bombe einschlug. Es war der 9. November 1989, der Kanzler weilte in Warschau beim Abendessen seines polnischen Gastgebers, des Ministerpräsidenten, Tadeus Mazowiecki. Das Fernsehen sendete ununterbrochen aus Berlin, das war aktuelle Politik, die niemand zu hoffen gewagt hatte. Der Bundestag diskutierte über einen Nebenaspekt der Rente, als Rudolf Seiters, der Kanzleramtsminister Kohls, der amtierenden Präsidentin einen Zettel überreichte mit der Nachricht: die Mauer ist offen. Ich telefonierte am nächsten Tag mit Kohls Pressechef Eduard Ackermann, der am Abend zuvor mehrfach versuchte, den Kanzler beim Essen zu stören. Und als Kohl schließlich ans Telefon eilte, weil Ackermann nicht locker ließ und dem Kanzler sagte: Herr Bundeskanzler, die Mauer ist offen, reagierte Kohl zunächst sehr irritiert und fragte noch einmal nach, ob denn in Bonn und im Kanzleramt alles in Ordnung sei. Ackermann wiederholte: „Das Fernsehen überträgt live.“
Es waren auch schwere Zeiten darunter, die Bonn zu ertragen hatte. Die Morde der RAF machten aus Teilen der eigentlich offenen Hauptstadt eine belagerte Festung. Überfall bewaffnete Polizei, Kontrollen. Das war nicht mehr das charmante Bonn, das ja alles andere als eine Stätte eines Polizeistaates war, rheinisch-fröhlich war vieles. Und plötzlich so etwas. Aber das Rheinische setzte sich durch, die RAF ist längst Geschichte. Dass Arbeitgeber-Präsiden Hanns Martin Schleyer früher SS-Mann gewesen war, hatte für die RAF eine wichtige Rolle gespielt, weil er als Teil der alten und neuen Elite gezeichnet wurde. Damit jedoch konnte man im Rheinland nicht punkten. Hier hatte zum Beispiel die NPD keine größere Rolle gespielt, als diese Partei in einige Landtage einzog, aber schließlich bei der Bundestagswahl an der 5-vh-Hürde scheiterte. Im Grunde hatte sie verloren, weil das Tabu in der Gesellschaft Gültigkeit hatte: man wählte nicht rechtsradikal.
Gewicht der Geschichte
Unser schwieriges Vaterland? Wegen des Gewichtes der Geschichte? Wegen Holocaust, Vernichtungskrieg, Ermächtigungsgesetz? All der Toten und Zerstörungen, die ihren Ausgang hatten bei den Nationalsozialisten? Und jetzt könnte einer wie Björn Höcke, den man laut Gericht einen Faschisten nennen darf, Ministerpräsident werden in Thüringen, dem Land, in dem viele Jahre Bernhard Vogel Ministerpräsident war, ein Freund von Helmut Kohl, dem Kanzler der Einheit? Ist das vorstellbar? In Bonn vielleicht nicht, aber in Berlin, wo die AfD im Bundestag sitzt und sich dort nach Darstellung von Abgeordneten anderer Parteien als eine Art Störenfriede betätigt, um dem Ruf der Politik, der etablierten Parteien zu schaden, dem Ruf der Demokratie und auch des Grundgesetzes, wo es wie gemauert steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Würde aller Menschen, auch der Geflüchteter.
75 Jahre Grundgesetz. Es ist die Leitkultur des Staates, formuliert nach Ende des Krieges, aus und auf den Ruinen des von Nazi-Deutschland angezettelten Krieges. Rührt es daher, dass AfD-Politiker wie Gauland vom Fliegenschiss reden, wenn sie sich lustig machen wollen über die deutsche Erinnerungskultur, die ja Teil des Grundgesetzes ist. Dass sich einer wie Höcke darüber verächtlich hinwegsetzt, wenn er die Holocaust-Gedenkstätte in Berlin Mahnmal der Schande nennt? Und ist die große Zustimmung von Wählerinnen und Wählern zur AfD Ausdruck des wachsenden Desinteresses an der Erinnerungskultur? Dass es den Leuten egal ist, was wir feiern und woran wir glauben?
Die Gründungsgeschichte dieser Republik mit Bonn und all den Geschichten, großen Debatten und auch den Affären, aber auch den Leistungen der Frauen und Männer dürfen wir uns nicht nehmen lassen. Sie gehört zu Deutschland. Wie das Grundgesetz, das im übrigen in wenigen Tagen in Bonn feierlich begangen und äußerlich festgeschrieben wird. Die Grünen- Oberbürgermeisterin der Stadt, Katja Dörner, wird dem Platz mit den vielen Fahnen der Völker der Vereinten Nationen am Ende der Autobahn A 562 einen neuen Namen geben: Platz des Grundgesetzes. Der Name fehlte noch in der alten Bundeshauptstadt, die viele Straßen nach den Kanzlern und Außenministern benannt hat, nach Helmut Schmidt, Willy Brandt, Helmut Kohl und Theodor Heuss, Konrad Adenauer, Franz-Josef Strauß, Hans-Dietrich Genscher, um nur die zu nennen. Und in der jetzt das Grundgesetz, das hier vor 75 Jahren beschlossen und verkündet wurde, auch äußerlich seinen Platz hat.