Die 65 Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich auf sehr unterschiedliche Weise in die Beratungen des Parlamentarischen Rates eingebracht. Ihre Biografien sind mehr oder weniger intensiv erforscht und erklären viel über die individuellen Beweggründe und Initiativen für die Formulierung und Ausgestaltung der einzelnen Artikel dieser anfangs als Provisorium gedachten Verfassung. Einer der Mitglieder des Parlamentarischen Rates war ein Cousin meines Großvaters mütterlicherseits, nämlich der Zentrumsabgeordnete Johannes Brockmann (1888-1975). Seit 1947 war er Vorsitzender der Zentrumsfraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Im Parlamentarischen Rat war er der Vorsitzende der Gruppe des Zentrums, die allerdings nur aus zwei Mitgliedern bestand, beide aus Nordrhein-Westfalen.
Das Zentrum war dabei als einzige Fraktion bzw. Gruppe paritätisch besetzt, denn mit Helene Wessel gehörte der Gruppe, die für den Status einer Fraktion zu klein war, eine von nur vier Frauen im Parlamentarischen Rat an. Neben ihr waren das noch Helene Weber von der CDU sowie zwei Vertreterinnen der SPD, nämlich Friederike Nadig und Elisabeth Selbert. Letzterer verdanken wir im Wesentlichen den heute selbstverständlichen Satz, um den sie damals aber hart kämpfen musste: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ (Art. 3 Abs. 2 GG).
Die Tatsache, dass mein Großonkel 2. Grades (seine Mutter und mein Urgroßvater waren Geschwister) an der Entstehung des Grundgesetzes mitgewirkt hat, ist sicherlich nicht der Grund für meine Wertschätzung dieser unserer Verfassung. Aber natürlich hat mich als Historiker interessiert, an welcher Stelle oder zu welchen Themen er sich eingebracht hat. Und: Bei der Schlussabstimmung über das Grundgesetz am 8. Mai 1949 stimmte er wie elf weitere Abgeordnete nicht zu, weil er die katholischen Interessen nicht ausreichend berücksichtigt sah. Dies erklärt sich aus seiner familiären Herkunft aus einer kinderreichen katholischen Paderborner Familie ebenso wie aus seinen leitenden Funktionen vor der NS-Zeit in katholischen Lehrerverbänden. Sein jüngerer Bruder Hermann war übrigens später ebenfalls Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags, und zwar für die SPD.
Neben seinem Einsatz für ein starkes Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) und dem vergeblichen Versuch, im Grundgesetz plebiszitäre Elemente wie Volksbegehren und Volksentscheid (Art. 20 Abs. 2 GG) zu verankern, war es zum großen Teil Johannes Brockmann, der trotz Widerstands aus den großen Fraktionen eine Regelung durchsetzen konnte, die den Parteien die Pflicht zur Rechenschaft über ihre Finanzierung auferlegte: „Die politischen Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. […] Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft ablegen.“ (Art. 21 Abs. 1 GG).
Die verpflichtende Offenlegung der Finanzierung der Parteien aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und staatlichen Mitteln hat für eine entsprechende Transparenz gesorgt, selbst wenn es immer wieder zu Versuchen gekommen ist und nach wie vor kommt, die Regeln am Grundgesetz vorbei zu umgehen oder sie kreativ auszulegen. In der Geschichte der Bundesrepublik ist es bekanntlich wiederholt zu kleineren und größeren Skandalen um verdeckte Zuwendungen an einzelne Politiker oder Parteien gekommen, weshalb wir Johannes Brockmann in diesem Sinne eine ganze Reihe von Parteispendenskandalen „verdanken“, die er eigentlich verhindern bzw. ausschließen wollte. Ohne seine Hartnäckigkeit und Durchsetzungsfähigkeit im Parlamentarischen Rat hätte es aber wohl keine Rechenschaftspflicht der Parteien über ihre Finanzierung gegeben.
Es ist für mich eine Besonderheit des Grundgesetzes, dass diese Pflicht zu einem wesentlichen Teil mit dem politischen Engagement meines Großonkels 2. Grades zusammenhängt.
Johannes Brockmann im Parlamentarischen Rat © Bestand Erna Wagner-Hehmke, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn
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