In Thüringen wird eine Debatte über ein Thema geführt, das wir eigentlich längst hinter uns hatten. Ein Vierteljahrhundert nach Hans-Dietrich Genschers Auftritt in der Prager Botschaft der Bundesrepublik, in die über 4000 Bürger der DDR geflohen waren, um dem Regime der SED und seinen Ungerechtigkeiten und der Willkür seiner Machthaber zu entkommen, streiten wir darüber, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder „nur“ eine Diktatur, in der auch Unrecht geschah. Das ist schon erbärmlich, was sich der Linken-Politiker Gregor Gysi hier geleistet hat. Die DDR, Herr Gysi, ist Geschichte und das ist gut so. Warum, meinen Sie wohl, wollten so viele Menschen den Ostteil Deutschlands verlassen, dem sozialistischen „Wunderland“ den Rücken kehren? Und warum, meinen Sie, hat Ostberlin 1961 die Mauer gebaut und danach jeden, der sie überwinden wollte, um in den Westen zu gelangen, abgeknallt wie die Hasen, wie das einmal ein Korrespondent aus der Bundesrepublik auf den Punkt brachte und anschließend abgeschoben wurde?
In Erfurt diskutieren Linke, Sozialdemokraten und die Grünen darüber, ob sie eine rot-rot-grüne Koalition unter einem Linken-Ministerpräsidenten Ramelow führen sollen oder besser können. Eine Weile dachte man, das ungewöhnliche Bündnis könnte zustande kommen, bis die Debatte über die DDR wieder einmal losbrach. Und ich frage mich warum? Was war denn in der DDR rechtsstaatlich? Gab es überhaupt Recht, das der Bürger der DDR einfordern, ja einklagen konnte? Gab es freie Wahlen, demokratische Parteien, die sich frei gründen und denen jeder hätte beitreten und die frei gegen die SED hätten kandidieren können?
Gab es Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit? Gab es unabhängige Gerichte? Konnte man den Wehrdienst verweigern, ohne schwere Nachteile zu erfahren? Wie war das eigentlich in diesem gelobten sozialistischen Land mit dem Umweltschutz? Ich könnte weitere Fragen stellen, die in die Richtung weisen: Freiheit. Und? Wie hätten die Antworten gelautet? Nein, nein, und nochmals nein.
Die Stasi hat Millionen ihrer eigenen Landsleute ausgehorcht, überwacht, sie gegeneinander ausgespielt, hat dafür gesorgt, dass Menschen mit anderer Meinung eingesperrt wurden. Wo sind eigentlich diese ganzen Stasi-Leute geblieben? Wo leben sie und was machen sie? Wurden sie jemals zur Verantwortung gezogen? Auch hier lautet die Antwort: Nein.
Was, Herr Gysi, soll in der DDR denn rechtsstaatlich gewesen sein? Nein, ich vergleiche die DDR nicht mit der Hitler-Diktatur, die sechs Millionen Juden umbringen ließ, die den 2. Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen auslöste und Deutschland in den Ruin stürzte. Nein. Diesen Vergleich darf man nicht ziehen. Aber dass die DDR ein Unrechtsstaat war, steht für mich fest.
Ich konnte als Journalist mehrfach in die DDR reisen und mir ein Bild machen. Das Land war heruntergewirtschaftet worden, vieles war einfach kaputt. Das konnte man noch Anfang der 90er Jahre sehen, wenn man in das ehemalige Ostberlin fuhr, Hauptstadt der DDR, hieß das früher. Ich habe Anfang der 2000er Jahre erlebt, wie z. B. die Häuser in der Kollwitz-Straße in Berlin Prenzlauer Berg saniert wurden. Sie waren vorher kaum noch bewohnbar. Ähnliches habe ich Jahre vorher in Weimar erlebt, wenn man sich ein paar Straßen vom Zentrum wegbewegte: Elendig sah es aus, der Putz bröckelte von den Mauern, Fenster hingen schief, Balkone mussten mit Holzpfosten gestützt worden.
Dass in der Bundesrepublik alles gut war, habe ich nie behauptet. Auch im Westen hat es Skandale gegeben, die aber aufgedeckt wurden. Auch bei uns hat es Ungerechtigkeiten gegeben, gab und gibt es immer wieder welche, die gleicher sind als die anderen. Aber ich durfte die Zustände so beschreiben, wie sie sich mir darboten. Ich durfte reisen, wohin ich wollte. Und, und und. Ich habe die Bewohner der DDR um ihr Leben jenseits von Mauer und Stacheldraht nie beneidet, im Gegenteil taten sie mir Leid. Schließlich war es ein Zufall, dass sie auf der östlichen Seite leben mussten, während wir auf der westlichen Seite aufwuchsen. Und ich habe im Gespräch mit Menschen, die in der DDR gelebt haben, oft erfahren, dass sie ihre eigene Biographie anerkannt haben wollten. Dieses Recht steht ihnen zu. Auch sie haben in ihrem Leben vieles geleistet, das unseren Respekt verdient. Nein, sie waren nicht verantwortlich für das, was diese SED, was diese Ulbrichts und Honeckers aus dem Land gemacht hatten. Über die Jahre mussten sie sich anpassen, um überleben zu können, traten sie der SED bei, damit ihre Kinder keine Nachteile erfuhren und studieren konnten. Das werfe ich ihnen nicht vor. Ich werfe ihnen gar nichts vor, weil es ein Zufall war, dass ich auf der Sonnenseite des Landes leben durfte.
Herr Gysi, diese Debatte ist doch vorbei. Gerade noch habe ich Genschers Worte auf dem Balkon der Botschaft in Prag gehört, als er den Tausenden versprach, sie dürften nun ausreisen. Genscher, der Mann aus Halle, wusste und weiß, wovon er redete. So war es damals und so war es gut. Die DDR hat sich im Grunde selbst erledigt, ihre Hinterlassenschaft glich einem einzigen Bankrott.
In Erfurt diskutieren sie weiter über die Zukunft ihres Landes und in diesem Zusammenhang auch über die mögliche politische Führung: Rot-Rot-Grün oder Schwarz-Rot-Grün. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer- der Tag jährt sich in wenigen Wochen- haben wir andere Probleme zu lösen, als Geschichts-Klitterung zu betreiben. Es geht um Thüringen, um dessen Rolle in Deutschland und Europa und nicht mehr um das Gebilde, das sich einst DDR nannte und ein Unrechtsstaat war, dem die eigenen Bürger am liebsten entflohen wären, wenn man sie denn gelassen hätte. Heute leben sie gern in diesem Land.
Bundesarchiv Bild 183-A1227-0007-001, Berlin, Prozess gegen Fluchthelfer, Toeplitz, von Hesse Rudolf .
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