Kann sich der geneigte Laie ein Buch über die Lehre von der Volkswirtschaft vorstellen, das ausführlich und sorgfältig und verständlich, ja sogar leicht lesbar ist????
Anthony Barnes Atkinson hat es geschrieben und es ist soeben in einer flüssigen Übersetzung auf deutsch erschienen, bei Klett-Cotta. (Anthony B. Atkinson, Ungleichheit. Was wir dagegen tun können. Stuttgart 2016)
Unmittelbar bevor mir dieses Buch in die Hände fiel, hatte ich mit einem Interview, das der von der Presse so betitelte Starökonom Jagdish Bhagwati der „Zeit“ gewährt hatte (Ausgabe vom 25. 8. 2016) das genaue Gegenteil in der Hand. Man erkennt nicht Ziel und Interessen und statt Aufklärung kommen nur allgemeine Glaubensbekenntnisse und Fatalismen heraus. Gelernt habe ich dadurch allenfalls Mißtrauen gegen Starökonomen.
Ganz anders Atkinson! Ziele und Absichten, Erkenntnisinteressen und Veränderungswille liegen klar ausformuliert auf der Hand. Der Ökonom, Jahrgang 1944, befasst sich nicht mit dem Freihandel sondern mit den Einkommen der Menschen. Denn nach seiner Meinung müsse es Raum geben für Debatten über die Gerechtigkeit der Ergebnisse des Wirtschaftens. Dank dieser Meinung und weil er sich früh diesen Fragen wissenschaftlich gewidmet hat, gilt Atkinson als weltweit führender Spezialist für Fragen der Einkommensverteilung und der sozialen Ungleichheit.
Das samt Glossar und Quellenangaben stattliche 474 Seiten umfassende Buch geht auf die denkbar einleuchtendste Art und Weise mit dem Thema um. Zuerst wird die aktuelle Ungleichheit diagnostiziert und definiert; danach unterbreitet der Autor Vorschläge zum Handeln wider die Ungleichheit und schließlich setzt er sich mit allen möglichen Einwänden gegen seine Vorschläge auseinander.
Schon bei der Lektüre der Diagnose lernt man eine Menge über die Qualität der Daten, denen wir Laien samt der laienhaften Journalisten gerne auf den Leim gehen. Er stellt kleinschrittig dar, wie die Diagnose von statten geht und was alles dabei berücksichtigt werden muss. Selten fühlt man sich als Leser eines wissenschaftlichen Buches so sehr als Zeuge der Untersuchung des Gegenstandes.
„Das Buch“, schreibt Atkinson einleitend, ,“ist nicht nur das Ergebnis meiner Betrachtungen über die Frage, welche Ursachen die Ungleichheit hat und was sich gegen sie unternehmen lässt, sondern fasst auch meine Gedanken über den gegenwärtigen Zustand der Wirtschaftslehre zusammen.“ Das, darf man vorwegnehmend sagen, ist nicht ausnahmslos gut für die Reputation dieser Lehre. Mit schöner britischer Ironie setzt er hinzu, er habe daran gedacht, „die Abschnitte, in denen ich von der Lehrmeinung abweiche, besonders zu kennzeichnen, damit sich Leser, die solchen Unfug befürchten, in Acht nehmen können.“ Und beschlossen hat er. „..ich gebe Ihnen ein Zeichen, wenn ich vom Mainstream abweiche.“ Und auf die Ironie folgt das understatement: „Ich möchte betonen, dass ich meine Ansätze nicht unbedingt für besser halte, aber doch der Meinung bin, dass es mehr als nur eine Wirtschaftstheorie gibt.“ Eine namentlich unter deutschen Lehrstuhlinhabern geradezu exotische Auffassung – aber das ist ein anderes Thema.
1980 ist das Wendejahr, seit dem sich die Ungleichheit der Einkommen und der Chancen umkehrt.
Bis dahin war es eine ganze Weile gelungen, die Schere zwischen arm und reich ein wenig zu schließen. Seither aber öffnet sie sich wieder. Wir lernen, dass für diese Wende weder die Computerisierung noch der demografische Wandel verantwortlich gemacht werden können, weil beides zu Beginn der Vergrößerung von Ungleichheit noch nicht relevant gewesen war.
Im Zentrum steht die Auswertung von Daten über Großbritannien und die USA. Da viele Abweichungen davon innerhalb der OECD oder der EU angemerkt und erläutert werden, schmälert das den Wert der Darstellung in keiner Weise. Selbstverständlich kann niemand die Ungleichheit in nur einem Land erforschen, vor allem will er doch lernen, aus welchen Gründen sie an einem Ort größer, an einem anderen aber geringer ausfällt. Daraus – und aus dem historischen Überblick, den die Daten über die vergangenen 100 Jahre erlauben, kann man Instrumente ableiten, mit deren Hilfe die heute wachsende Ungleichheit wieder verringert werden kann. Auf diesem Weg findet man bestätigt, dass „die Entwicklung der globalen Ungleichheit während der letzten hundert Jahre einem einfachen Verlauf (folgt): Es gab eine erste Phase, in der die Ungleichheit innerhalb der reichen Länder zurückging aber die Ungleichheit zwischen den Ländern anwuchs. Heute wird globale Ungleichheit abgelöst durch eine Phase, in der sie innerhalb der reichen Länder anwächst, während sich die Ungleichheit zwischen den Ländern verringert.“
Alles, was diesem Zitat folgt, lohnt die Lektüre; der Rezensent aber macht einen großen Sprung und landet bei der Erörterung der Abhilfen – und hier wird gerechnet! Im Ergebnis gibt es 15 Handlungsvorschläge – mit der Einschränkung, dass im Unterschied zu Großbritannien nicht alle europäischen Länder jeden einzelnen davon benötigten.
Die Handlungsoptionen sind marktwirtschaftlich aber gemessen an den aktuellen Kräfteverhältnissen in den kapitalistischen Ländern recht kühn: „Die Berechnungen zeigen, welche Grenzen der konventionellen Umverteilung durch Steuern und Sozialleistungen gesetzt sind. Sie unterstreichen die Bedeutung der Vorschläge, die das Ziel haben, die Ungleichheit vor Steuern und Transfers zu verringern. Vollbeschäftigung mit einer gerechteren Lohnverteilung und einem breiter gestreuten Kapitaleigentum sind Elemente jeder Strategie, der es darum geht, Ungleichheit zu reduzieren.“ Und: „Ein entscheidender Punkt ist, dass ich nicht bereit bin, die steigende Ungleichheit als unvermeidlich hinzunehmen: Sie ist nicht nur das Ergebnis von Kräften, die unserer Kontrolle entzogen sind. Es gibt Maßnahmen zur Verringerung der gegenwärtigen Ungleichheit, die von Regierungen individuell oder kollektiv ergriffen werden können, von Firmen, von Gewerkschaften und Verbraucherverbänden – und von uns als Individuen.“
Also: Unbedingte Lektüreempfehlung für alle „mit einem Interesse für Wirtschaft und Politik“(Atkinson in der Einleitung) Besonders möchte ich es auch den Herren und Damen Gabriel und Kraft, Bartsch und Wagenknecht, Merkel und Laumann empfehlen mit dem Ziel, ihre politischen Programme aufzufrischen und uns alle durch politische Visionen gegen Rechtspopulismus zu immunisieren.