Wer den jüngsten Essay von Jürgen Habermas zum Ukraine Krieg aufmerksam gelesen hat, wird die Skepsis des Autors teilen, die Ukraine könne ihr völkerrechtlich unumstrittenes Staatsgebiet komplett erhalten. Die historische Entwicklung der Ukraine seit Beginn des 18. Jahrhunderts gibt dazu Hinweise.
Der Doppelstaat Polen-Litauen umfasste zu Beginn des 18.Jahrhunderts und schon lange Zeit vorher große Teile der heutigen Ukraine und von Belarus. Die im Jahr 1569 gebildete Realunion des Königreichs Polen und des Großfürstentum Litauen war ein Vielvölkerstaat, der sein Machtgebiet stets gegen Russland, das Osmanische Reich und das Königreich Preußen verteidigen musste. Erst mit den polnischen Teilungen ab 1772 und mehreren Kriegen gegen das Osmanische Reich wurde das russische Staatsgebiet um große Teile der heutigen Ukraine einschließlich der Krim erweitert. Weitere erhebliche Teilgebiete der Ukraine gehörten nach den Teilungen bis 1919 zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn.
Daraus lassen sich zwei historisch bedingte Erkenntnisse ableiten:
Die Ukraine als Ganzes ist kein natürlich gewachsener integraler Bestandteil Russlands.Sie wurde vielmehr sukzessive von Russland erobert, was dem seit Jahrhunderten und auch noch heute anhaltenden imperialen Selbstverständnis dieses Landes entspricht.
Kulturell ist die Ukraine durch die viele Jahrhunderte dauernde Zugehörigkeit zu Polen-Litauen und der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn stark europäisch geprägt. Vor dem 14.Jahrhundert war das Gebiet der heutigen Ukraine hauptsächlich Bestandteil der Tataren Khanate, die ihren Ursprung im Mongolischen Reich und bei Turkvölkern hatten.
Nicht zu bezweifeln ist aber auch, dass die Russifizierung in den östlichen Teilen der Ukraine seither nicht ohne Spuren geblieben ist. Die historische Entwicklung und die sich daraus ergebenden Erfahrungen haben uns gelehrt, dass sich das Rad der Geschichte nicht vollständig zurück drehen lässt. Polen hat dies zum Beispiel nach seinem Überfall 1920/21 auf das Sozialistische Russland ( die Sowjetunion wurde erst 1922 gegründet ) mit dem ein Teil des alten Reiches vor 1772 erobert wurde, nach dem 2. Weltkrieg zur Kenntnis nehmen müssen.
Mit dem brutaler werdenden Verlauf des Krieges in der Ukraine stellt sich immer dringender die Frage an die Politik in den Unterstützerländern, bis zur Erreichung welcher Kriegsziele dem überfallenen Land gefolgt werden kann. Ist der Versuch einer vollständigen Befreiung des Staatsgebiets der Ukraine nicht nur wünschenswert sondern unter den gegeben militärischen Bedingungen auch realistisch? Oder anders ausgedrückt: Was heißt es überhaupt, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren? Eine einigermaßen klare Definition der Kriegsziele ist Voraussetzung für einen Weg zu Verhandlungen. Waffenlieferungen allein sind keine Lösung