„1927 können -bei einer Bevölkerung von schätzungsweise 14 Millionen- nur 1,1 Millionen Personen lesen.“ Das schreibt die Journalistin und Schriftstellerin Cigdem Akyol in ihrem spannenden Buch „Die gespaltene Republik“, das kurz vor den gerade zu Ende gegangenen Wahlen auf den Markt kam. Ich habe diese eine Stelle bewusst zitiert, um aufzuzeigen, wo das Land einst stand, als Atatürk sich auf den Weg machte, um das große Land zu modernisieren, das zwischen Europa und Asien liegt und seit Atatürk eine rasante Entwicklung genommen hat. Heute leben in der Türkei rund 85 Millionen Menschen, die Türkei spielt außenpolitisch eine wichtige Rolle, ist Mitglied der NATO und kungelt mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, sehr zum Ärger des US-Präsidenten Biden. Der Islamist Recep Tayyip Erdogan spielt dieses Spiel, das ihm die Tür zur Mitgliedschaft in der EU verbauen wird. Wobei man fragen darf, wohin gehört die Türkei denn eigentlich, nach Europa oder ist sie eher Teil des Mittleren Ostens, also Kleinasien?
Man sollte das Buch der in Herne geborenen Journalistin Cigdem Akyol lesen, die heute in der Schweiz lebt, die die Türkei, ihre Geschichte, ihre Entwicklung, Sitten und Gebräuche gut kennt. Der Titel „Die gespaltene Republik“ ist gut gewählt, denn die Türkei ist gespalten. Man nehme das Wahlergebnis, Erdogan hat gewonnen, aber angesichts des präsidialen Systems, das der Herrscher sich seit Jahr und Tag errichtet hat, um seine Macht zu festigen, angesichts der staatlichen Medien, die auf ihn zugeschnitten sind und der Opposition kaum Raum widmen, war sein Sieg knapp. Denn die Wahl mag frei gewesen sein, aber nicht fair.
Blicken wir zurück auf Atatürk und in die Türkei der 20er Jahre. „Die meisten Bewohner sind Bauern, die nun im staatlichen Rundfunk westliche Musik statt orientalischer Klänge hören- und die Reden ihres Staatschefs, der voller -Eifer seine Reformen vorantreibt“, schildert Cigdem Akyol die Anfänge der modernen Türkei. Atatürk wirbt für die neuen Buchstaben, weil er im Stil eines Lehrer an einer Schiefertafel in einem Dorf das lateinische Alphabet anpreist. „Freunde, unsere harmonische, reiche Sprache wird mit den neuen türkischen Buchstaben voll zur Geltung kommen. Ihr müsst dies begreifen, um uns von unverstehbaren und für uns unverständlichen Zeichen zu erlösen, die seit Jahrhunderten unsere Gehirne in ihren eisernen Fesseln gefangen halten.“ Die Alphabetisierungskampagne erfasst alle Schichten der Bevölkerung, Männer und Frauen, niemand soll sich dem entziehen. Es wird ein völlig neues Schul- und Universitätssystem eingeführt, säkulär und dem entsprechenden Ministerium untergeordnet. In jedem Dorf eine Schule, so fordert es Atatürk, es gibt eine Schulpflicht, der Besuch ist kostenlos.
Richtung Europa
Man muss sich zurückversetzen in die Zeit, um zu verstehen, was Atatürk alles inszenierte, um sein Land zu modernisieren, der Zug sollte Richtung Europa rollen. Sogar musikalisch sollten sich die Menschen umorientieren, schreibt Cigdem Akyol. „So wird auf den Fähren in Istanbul eine Zeit lang der Bolero des französischen Komponisten Maurice Ravel gespielt. Türkische Volksmusik wird aus dem Radioprogramm gestrichen, stattdessen dürfen nur noch nationale Stücke gespielt werden, die sich der westlichen Kompositionstechnik bedienen“. In den Städten werden Theater und Opernhäuser gebaut. Emigranten aus Deutschland und Österreich, die vor den Nazis fliehen, helfen beim Umbau. Auch deutsche Professoren kommen ab 1933 ins Land, welche die Hochschulreform vorantreiben. Die Flüchtlinge verändern Architektur und Städteplanung. Cigdem Akyol nennt Berliner Architekten wie Hermann Jansen, Martin Elsässer und Bruno Taut, die in Ankara arbeiten, der spätere Berliner Bürgermeister Ernst Reuter(Ihr Völker in der Welt, schaut auf diese Stadt) unterrichtet Stadtplanung in Ankara. Eduard Zuckmayer, Bruder des Schriftstellers Carl Zuckmayer, baut die Akademie für Musiklehrer in Ankara auf, er bleibt dort bis zu seinem Tod 1972.
„Die neue Republik ist auf Zwang gegründet“, schreibt Cigdem Akyol. „Und nach der Gründung endet der Zwang nicht. Die arabisch-islamischen Wurzeln werden jäh abgeschnitten, stattdessen sollen plötzlich alle wie in Paris leben.“ Mit Atatürks durchgepeitschten Reformen sei die Kluft zwischen der bitterarmen Peripherie und den Städten immer größer geworden. Man stelle sich das Bild vor, das Cigdem Akyol beschreibt: Präsident Atatürk spielt Golf, besucht die neuen Opernhäuser in Frack und Zylinder, trinkt Champagner und ergötzt sich an Ballettvorführungen, während die Masse der Menschen in Anatolien keine Ahnung davon hat, was eigentlich Opern bedeuten. Und doch wird die Zeit als Erfolgsgeschichte beschrieben, die aber die Spaltung des Landes eher noch vertieft.
Wer heute in die Türkei reist, sollte sich an diese Geschichten erinnern. Das Buch von Cigdem Akyol ist eine wahre Fundgrube dafür. Die Autorin beschreibt die Entwicklung mit großer Kenntnis und entsprechender Anteilnahme, sie blickt nicht auf ihr Volk herunter, sondern lebt die Entwicklung mit. Wechselvoll ist die Geschichte und facettenreich von der Gründung bis heute, im Oktober blickt die Republik auf 100 Jahre zurück, eine Geschichte, die auch voller Konflikte ist, man denke nur an die geschilderten Reformen Atatürks nach europäischem Vorbild. Der einstige Kriegsheld, der die Republik auf den Trümmern des osmanischen Reiches errichtet, setzte vor allem auf die Trennung von Staat und Religion in dem mehrheitlich von sunnitischen Muslimen bewohnten Land und die nationale Einheit. Die neu geschaffene Republik sollte einheitlich türkisch wirken, kein einfaches Unterfangen, wenn man bedenkt, dass das osmanische Reich ein Vielvölkerstaat war mit zahlreichen Religionsgemeinschaften. Nunmehr wurde die Religion einer Aufsichtsbehörde unterstellt, die Minderheiten sollten „türkisiert“ werden, also religiöse und ethnische Gruppen wie Kurden, Armenier, Griechen, Aleviten, Schiiten, Christen, Juden.
Militär im Zentrum
Bei der Modernisierung des Landes spielte das Militär eine entscheidende Rolle, wie überhaupt das Militär in dieser 100jährigen Geschichte oft genug im Zentrum stand und hin und wieder durch einen Putsch die Macht an sich zog, um die nationale Einheit zu wahren. Oft genug ging es um den Laizismus vor allem nach Atatürks Tod 1938. 1960 putschte das Militär zum Beispiel gegen die Regierung Menderes, der wegen seiner islamfreundlichen Politik aufgehängt wurde.
Erdogans Jahre beginnen als Bürgermeister von Istanbul, der dann Regierungechef wurde und mit autoritären Mitteln seine Herrschaft ausbaute und die laizistische Ordnung veränderte. Man darf nicht vergessen, dass Erdogan zu beginn seiner Präsidentschaft sich Anerkennung im Westen verschaffte, ein EU-Beitritt schien möglich, die Kanzlerin Angela Merkel z.B. setzte mehr auf eine spezielle Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und der Türkei.
Mit der Zeit wurde Erdogans Machtstruktur immer autoritärer, hohe Militärs und politische Gegenspieler ließ Erdogan ins Gefängnis werfen wie auch viele Journalisten, Künstler, Intellektuelle, Politiker. Die Gefängnisse sind voll, liest man in dem Buch von Cigdem Akyol. Es gibt zwar weiterhin ein Parlament in Ankara, aber das Sagen hat der Präsident.
Seiner Willkür sind Kritiker ausgesetzt. Und nach seinem Wahlsieg hat er ihnen gegenüber gedroht, noch schärfere Maßnahmen zu ergreifen. Mit parlamentarischer Demokratie hat das nicht viel zu tun. Bei aller berechtigten Kritik an Erdogan sollte man dessen Beliebtheit bei den Millionen Auslandstürken wie seinen Anhängern der AKP nicht unterschätzen. Kurz vor der Wahl zog er für sich und seine Politik Bilanz: „Die Türkei ist nicht mehr ein Land, das Befehle entgegennimmt, sondern ein Land, das Befehle erteilt.“ Vielleicht ist es dieser damit einhergehende Stolz, den Erdogan vielen Türken zurückgegeben hat, verbunden mit dem Anschein, einer von ihnen zu sein, obwohl er selber längst in einem Riesenbau und Reichtum lebt.
Aufschlussreich die Kopftuch-Debatte, wie sie Cigdem Akyol beschreibt zwischen Populismus, Kemalismus und Islamismus. Die Gegner und Befürworter der religiösen Kopfbedeckung lebten lange in getrennten Welten, lese ich, sie begegneten einander mit einer Mischung aus Verachtung und Furcht. Was die Türkinnen und Türken auf dem Kopf trugen, sei seit dem Beginn der Republik keine reine Privatsache, sondern ein ideologisches Schlachtfeld,
betont die Autorin. Es ist ein ewiges Hin und Her zwischen Verbot und dem Tragen des Kopftuchs. Wobei Frauen in den Städten ideenreich seien im Umgang damit, sie nutzten das Kopftuch als modisches Accessoire, teils in grellen Farben. „Erdogan ist der erste Ministerpräsident, der sich demonstrativ gemeinsam mit seiner verhüllten Frau und seinen bedeckten Töchtern in der Öffentlichkeit zeigt.“ So Cigdem Akyot. Eine leidenschaftliche Debatte, überhitzt geführt, ob mit oder ohne Kopftuch, es gibt immer wieder Beispiele, dass Frauen deswegen diskriminiert, schlechter bezahlt oder gar nicht beschäftigt werden. Eine Meinungsumfrage aus dem Jahr 2021 besagt, dass 83 Prozent der Türken befürworten, dass Frauen im öffentlichen Dienst ein Kopftuch tragen dürfen.
Der Riss durch die Gesellschaft ist da wie der Riss in der Tiefe des Meeres auf dem türkischen Staatsgebiet, „wo sich wie große Scherben gleich fünf Kontinentalplatten aneinander reiben und als Hauptbrüche die nordanatolische und die ostanatolische Verwerfung bilden“. Schildert treffend Daniel Arnet vom Schweizer SonntagsBlick. Entlang dieser instabilen Linien komme es immer wieder zu Erdbeben wie zuletzt im Februar 2023 im Südosten des Landes mit über 50000 Toten. Und so wie sich die Türkei tektonisch geprägt zeigt, wie der Schweizer Kollege es formuliert, sieht man sie auch politisch.