Jean Ziegler pflegt eine harte, ja aggressive Sprache, um dem Leser die Katastrophe vor Augen zu führen. Die Katastrophe, das ist der Umgang in der Wertegemeinschaft EU mit den Menschenrechten, dem Asylrecht zum Beispiel, das mit Füßen getreten wird, milde formuliert. „Schauen Sie dort unten, das erste Kriegsschiff gehört der NATO, das zweite, etwas weiter westlich, FRONTEX. “ „Ich frage: Wieso ein Kriegsschiff der NATO?“ Mit bitterem Lachen antwortet er: „Um Europa zu schützen; sie müssen die Frauen und Kinder zurückdrängen, die in Afghanistan, Syrien und im Irak bombardiert wurden.“ Der Auskunft gebende ist Giorgos Pallis, Abgeordneter von Lesbos im Athener Parlament, Giorgos ist Mitglied der Grünen. Die NATO, wird Pallis weiter zitiert, habe mindestens vier Kreuzer vor der Küste von Lesbos. So groß muss also die Gefahr sein, die von Flüchtlingen ausgeht.
Manchmal wünschte man sich von Ziegler eine weniger reißerische Sprache, aber ich verstehe, dass er mit aller seiner Macht versucht, die Probleme aufzuzeigen, nicht die Probleme, die uns die Flüchtlinge bereiten, sondern mehr, was wir ihnen zumuten, wie wir, gleich ob Griechen, Türken, Polen, sie aufnehmen, unterbringen. Zieglers Schilderungen, wie Geflüchtete auf dem Boden übernachten müssen, dass man ihnen teils ungenießbares Essen vorsetzt, dass sie ohne Toiletten auskommen müssen, in verschmutztem Wasser sich säubern sollen, wie sie von Menschen, die sich doch um sie kümmern müssen, verprügelt werden, wie ihre Kinder und Frauen misshandelt werden, wenn man all das liest, kann einem schlecht werden beim Lesen. Aber es ist wichtig, dass man das liest. Auch in dieser Schärfe. Den Vergleich der Flüchtlingslager mit einstigen Konzentrationslager hätte sich Ziegler sparen sollen, mit KZs lässt sich nichts auf der Welt vergleichen. Auschwitz und Treblinka stehen für sich, sie waren die Hölle auf Erden.
Flüchtlinge werden mit Gewalt zurückgedrängt, sie werden nicht an Land gelassen, ja man versucht, ihre Schlauchboote gar zum Kentern zu bringen und riskiert dabei den Untergang von Menschen, von Frauen und Kindern in Not. Das ist unmenschlich, das hat mit der Wertegemeinschaft Europäische Union nichts zu tun. Das spricht den Werten Hohn, die man doch gern im Westen anpreist als seine eigenen Werte, für die man lebt. Oder? Wie wäre es mit dem Satz: Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu?! Nächstenliebe nennt man das im Christentum oder lässt man das gegenüber Geflüchteten aus Afghanistan Syrien, dem Irak, dem Sudan, Somalia nicht gelten? Ich weiß, wir behaupten gern, wir könnten nicht alle aufnehmen, was ja auch niemand verlangt. Aber es ist schon ein unmenschliches Verhalten, wenn Mitgliedsstaaten der EU wie Ungarn immer gern die Hände aufhalten, wenn es um Zuweisungen aus Brüssel geht, aber im Gegenzug nicht bereit sind, Geflüchtete aufzunehmen.
„Ein Schiff, bis zum Rand gefüllt mit Männern, Frauen und Kindern, trieb keine hundert Meter vor der griechischen Küste. Es war ein kalter Frühlingstag. Das Wasser hatte knapp fünf Grad. Die Flüchtlinge zitterten, sie waren durchgefroren, ihre Kleider klatschnass. Wir hörten eine Frau einen schrecklichen Stoß ausstoßen. Wir riefen die FRONTEX-Kommandantur auf Lesbos an und fragten, ob sie Hilfe bei der Rettung von Flüchtlingen brauchten und ob wir einen unserer Ärzte auf das Schiff schicken dürften. Die Leute von FRONTEX antworteten, sie hätten alles unter Kontrolle. Dann warteten sie noch weitere Stunden, bis sie das Schiff in den Hafen von Mytilini dirigierten. ..Dabei sahen wir ein Baby, das sich nicht mehr rührte. Die Polizisten von FRONTEX hinderten unseren Arzt und zwei unserer Mitarbeiter, sich zu nähern, und drängten uns gewaltsam zurück. Das Baby war kalt und sein Gesicht gelb. Die Augen waren starr… Als wir später nach dem Zustand des Kindes fragten, sage man uns, es sei kein Baby eingetroffen.“ Das Baby hätte mit großer Wahrscheinlichkeit überlebt, betont Ziegler, wenn man das Schiff nicht hätte warten oder wenn man den Arzt zu den Flüchtlingen gelassen hätte.
Mit Vorwürfen konfrontiert, reagierte die FRONTEX-Kommandantur: „Wir haben nicht die Aufgabe, Schiffbrüchige zu retten, sondern für die Sicherheit der Grenzen zu sorgen.“
Ziegler zitiert einen Sprecher von Amnesty International aus 2015: „Die griechischen Küstenwachen stoßen die Boote der Asylbewerber gewaltsam in die türkischen Hoheitsgewässer zurück und setzen dadurch das Leben der Flüchtlinge aufs Spiel.“ Für die Rüstungsindustriellen und die Waffenhändler sei der Kampf gegen Flüchtlinge und Migranten „viel profitabler als jeder gegenwärtig wütende Krieg in Syrien, Darfur und Jemen“, schreibt Ziegler. „Die EU hat gerade ihre mehrjährige Finanzplanung bis 2027 veröffentlicht. Danach ist für die Posten „Grenzsicherung“ und „Migration“ eine Erhöhung der Finanzmittel auf bis zu 34,9 Milliarden Euro vorgesehen.(Das Dreifache der Summe von 2019)“
Das Buch beleuchtet die Misere der Flüchtlingspolitik, die seit Jahren anhält. (Übrigens war die Aufnahme deutscher Flüchtlinge nach dem 2. Weltkrieg auch nicht immer von Nächstenliebe getragen.) Es gibt, betont der Autor zu Recht, keine illegale Einwanderung. Wer in seinem Heimatland gefoltert wird, wer erlebt, wie sein Dorf, seine Stadt bombardiert, sein Haus zerstört wird, wer in seinem Heimatland verfolgt wird, der hat das unveräußerliche Menschenrecht, eine Grenze zu überschreiten, um in einem anderen Land Asyl zu beantragen. Sagt Ziegler. Sein Buch ist ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit gegenüber den unmenschlichen Zuständen in Flüchtlingslagern.
Der Schweizer Soziologe und Politiker Jean Ziegler, der auch als Globalisierungskritiker gilt, hat als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates die EU-Flüchtlingslager auf Lesbos besucht.
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