Beim Erzählen von meinen Leseerfahrungen mit Fontane kam ich darauf, dass ich in seiner Sprache immer wieder Redewendungen finde, die mir von meiner „Berliner Kindheit“ her vertraut sind. Bestimmte Formulierungen sind auch in meine Briefe an die Großeltern eingegangen; diese Briefe, die bei uns manchmal von der ganzen Familie geschrieben wurden, wenn es darum ging, sich für Geschenke zu bedanken, die fein säuberlich in Pakete verpackt waren. Alles in ihnen roch für meine Kindernase nach Berlin. Vor allem aber ging es darum, die Kommunikation mit den Großeltern zu verstetigen, die noch in Berlin lebten.
Das Briefeschreiben war für mich als 10Jährige eine regelrechte Schule des Schreibens und Formulierens. Alle in der Familie waren gute Briefeschreiber, und es wurde zudem noch Wert auf eine schöne Schrift gelegt. Die Oma war für ihre geschwungene, kalligraphisch anmutende Schrift in Sütterlin berühmt, die sie als junge Frau eingeübt hatte, als sie schon als 14Jährige auf ostelbischen Gütern des preußischen Landadels im Büro arbeitete. Und sie beherrschte zusätzlich zu ihrer Kunstschrift perfekt die Orthographie. Darauf legten auch die Eltern großen Wert, was sich auf uns Kinder übertrug. Dass der Vater als Architekt mit künstlerischem Einschlag ebenfalls eine sehr markante, ja kunstvolle Handschrift besaß, versteht sich.
Das Briefeschreiben war (und ist immer noch) eine kleine Kunst: Man musste überlegen, was man mitteilen oder erzählen wollte und was die angeschriebene Person interessieren könnte. Das verlangt Empathie und auch eine Portion Hingabe, denn Briefe waren keine Kurzmitteilungen, sondern hatten, da nicht alltäglich, einen gewissen Mitteilungswert. Meist umfasste ein einziger Brief daher mehrere Seiten. Schließlich wollte man den Adressaten mit der geschriebenen Erzählung erfreuen; also nicht nur Neuigkeiten verkünden, sondern auch unterhalten. Einen Brief zu schreiben: das erforderte Zeit und Muße, aber nach vollbrachter Tat empfand man oft auch ein wenig Stolz und Genugtuung.
Umgekehrt befand man sich als Briefempfänger in gespannter Erwartung, einer Art Vorfreude, ebenfalls bedacht zu werden. Kurzum: Das Briefeschreiben war eine besondere Form der Mitteilung und gleichzeitig eine Übung im Schreiben und Erzählen.
Heute, in Zeiten des Telefons, des Mobilfunks, der Computer und der sogenannten sozialen Medien scheint diese Wertschätzung des Briefes und der persönlichen Schrift nahezu gänzlich zu schwinden. Vielleicht sehen wir neuen Formen des Analphabetentums entgegen, da oft nur noch in Kürzeln kommuniziert wird oder gar übers Drauf- oder Hineinsprechen per Spracherkennungsgeräten. Zu befürchten ist mit der Zeit eine sprachliche Verkümmerung. Für jemanden, der das Briefeschreiben von der Pike auf gelernt hat und das Schreiben und Formulieren wertschätzt, eine schlimme Vorstellung.
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