Einleitende Bemerkung zu einem kontroversen Austausch
Zu den gesellschaftlich und politisch seit Jahrzehnten umstrittenen Themen gehört die Frage des Umgangs mit Gentechnik in der Landwirtschaft. Bisher gelten in der EU für alle gentechnischen Verfahren strenge Prüf- und Zulassungsregeln im Sinne des Vorsorgeprinzips. Gentechnik spielt auf deutschen Äckern keine und auf europäischen Äckern so gut wie keine Rolle. Das hat wesentlich damit zu tun, dass eine grosse Mehrheit der Verbraucherinnen und Verbraucher von Gentechnik auf dem Teller nichts wissen will.
Das soll sich nach dem Willen der EU-Kommission ändern. Sie will die Nutzung neuer gentechnischer Verfahren durch den Wegfall von Prüf- und Genehmigungsverfahren erleichtern. Zur Begründung sagt sie, das Ergebnis dieser neuen Verfahren unterscheide sich nicht von konventioneller Züchtung. Das Europäische Parlament hat am 7. Februar 2024 mit knapper Mehrheit im Grundsatz für die erleichterte Zulassung neuer gentechnischer Verfahren beschlossen, diese Entscheidung aber an bestimmte Voraussetzungen geknüpft.
Die wissenschaftliche Debatte über Sinn und Nutzen, über Risiken und potentielle Gefahren der neuen gentechnischen Verfahren ist für Laien schwer nachvollziehbar.
Eine Mehrheit der Wissenschaftler, die sich öffentlich äussern, plädiert für den Einsatz neuer gentechnischer Verfahren in der Landwirtschaft und für die Abschaffung von Regeln bei der Zulassung. Es gibt aber auch Wissenschaftler, die auf Grund ihrer Forschung zu dem Ergebnis kommen, auch für die neuen gentechnischen Verfahren sollten strikte Regeln im Sinne des Vorsorgeprinzips gelten.
In den deutschen Medien nehmen die meisten in den vergangenen Jahren veröffentlichten Beiträge klar Position: Pro neue Gentechniken und pro Wegfall von Prüf- und Genehmigungsverfahren. Zu denen gehört Philip Bethge, Redakteur beim „Spiegel“. Zuletzt in zwei Beiträgen vom 29. Dezember 2023 und vom 8. Februar 2024 hat er sich klar für erleichterte Zulassung und Deregulierung ausgesprochen.
Christoph Habermann hat am 9. Januar 2024 hier auf dem „Blog“ über eine Stellungnahme der u.a. für Fragen der Gentechnik zuständigen französischen Behörde berichtet. Sie kommt, gestützt auf eine breit angelegte Untersuchung einer Gruppe unabhängiger französischer Fachleute, zu folgenden Ergebnis: Die Begründung der EU-Kommission für ihren Vorschlag, neue gentechnische Verfahren erleichtert zuzulassen, ist ohne wissenschaftliche Grundlage.
Aus den drei Texten hat sich per mail ein Austausch zwischen Christoph Habermann und Philip Bethge entwickelt. Wir dokumentieren diesen Austausch, weil er über den einzelnen Fall hinaus zeigt, wie schwierig es zu sein scheint, in den Medien umfassend über ein Thema zu berichten, zu dem es nicht nur unterschiedliche Meinungen und viele Emotionen gibt sondern auch unterschiedliche wissenschaftliche Erkenntnisse.
Datum: Mittwoch, 10. Januar 2024
Betreff: Regulierung neuer gentechnischer Verfahren
Sehr geehrter Herr Bethge,
mit Interesse habe ich Ihren Text „Superpflanzen oder Öko-Albtraum“ auf Spiegel online gelesen. Ein wichtiger Aspekt kommt bei Ihnen nicht vor: Nicht nur politische Kritiker und Aktivisten lehnen die Deregulierung der neuen gentechnischen Verfahren ab. Auch viele Wissenschaftlerinnen und Forscher haben begründete Zweifel am Vorschlag der EU-Kommission.
Kurz vor Weihnachten hat die französische Behörde für Nahrungsmittelsicherheit, Umwelt und Arbeitsschutz (Anses) eine Stellungnahme veröffentlicht, die zu dem Ergebnis kommt, dass der von der EU-Kommission gemachte Vorschlag ohne wissenschaftliche Grundlage ist.
Ich habe dazu gestern auf dem „Blog der Republik“ einen Beitrag veröffentlicht, den ich Ihnen schicke zusammen mit der Stellungnahme der Anses, die bisher nur auf französisch vorliegt.
Mit freundlichem Gruss
Christoph Habermann
Datum 15.01.2024
Sehr geehrter Herr Habermann,
herzlichen Dank für Ihre Mail und Ihr Interesse. Ja, auch in der Wissenschaft gibt es eine Diskussion um das Thema, die ich dieses Mal nicht umfassend abbilden konnte. Selbstverständlich werde ich das Thema weiterverfolgen, der nächste Artikel kommt bestimmt, und ich werde mir Ihre Hinweise dazu bis dahin aufbewahren.
Mit besten Grüßen aus Hamburg.
Philip Bethge
Datum: Freitag, 9. Februar 2024
Betreff: Re: Regulierung neuer gentechnischer Verfahren
Sehr geehrter Herr Bethge,
Sie haben gestern auf Spiegel online einen Text zur Entscheidung des Europäischen Parlaments über die künftige rechtliche Behandlung neuer gentechnischer Verfahren veröffentlicht. Nach dem Lesen war ich ziemlich erstaunt, dass wesentliche Aspekte des Themas und der Entscheidung des EP bei Ihnen nicht vorkommen.
Sie erwecken wieder den Eindruck, bei der Frage, welchen Regeln für die neuen gentechnischen Verfahren gelten sollen, gebe es auf der einen Seite die Antwort d e r Wissenschaft („Die Logik der EU-Kommission, die von einer breiten Koalition von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geteilt wird“) und auf der anderen Seite „Befindlichkeiten“ von Leuten die „die üblichen Protestplakate gegen die Gentechnik in die Höhe“ halten.
Ich hatte Sie auf die Stellungnahme der französischen Fachbehörde hingewiesen, die dem Vorschlag der EU-Kommission bescheinigt hat, dass er ohne wissenschaftliche Grundlage sei. Diese Bewertung ist das Ergebnis der Arbeit einer unabhängigen Gruppe von Wissenschaftlern im Auftrag der ANSES. Warum erwähnen Sie diese Stellungnahme oder vergleichbare andere mit keinem Wort?
Wenn man Ihren Text liest, muss man den Eindruck gewinnen, das Europäische Parlament habe dem Vorschlag der EU-Kommission zur Deregulierung der neuen gentechnischen Verfahren zugestimmt. Sie erwähnen mit keinem Wort, dass der mit einer knappen Mehrheit gefasste Beschluss in wesentlichen Fragen vom Vorschlag der EU-Kommission abweicht. Das gilt für die Frage der Patentierbarkeit von Pflanzen, die durch neue gentechnische Verfahren hergestellt worden sind, und für die Frage der Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel und Futtermittel.
Gegen den Vorschlag der Kommission haben die Abgeordneten beschlossen:
„(45a) ….
Die NGT-Pflanzen sollten daher nicht dem Patentrecht unterliegen, sondern zum Schutz des geistigen Eigentums ausschliesslich dem System des gemeinschaftlichen Sortenschutzes… NGT-Pflanzen, die daraus gewonnenen Samen, ihr Pflanzenmaterial, damit verbundenes genetisches Material wie Gene, Gensequenzen sowie Pflanzenmerkmale sollten von der Patentierbarkeit ausgenommen werden.“
An einer anderen Stelle des vom Europäischen Parlament geänderten Textes heisst es: „…muss das Patentieren dieser Erzeugnisse unbedingt verboten werden.“
Warum informieren Sie Ihre Leserinnen und Leser nicht über diese wesentliche Veränderung des Textes, die weitreichende Folgen hätte, wenn sie schliesslich geltendes Recht würde?
Sie schreiben in Ihrem Text, es sei „noch offen, wie die neuen Saaten gekennzeichnet werden sollen und wie man sie zurückverfolgen kann.“ Sie verschweigen Ihren Leserinnen und Lesern aber, dass das Europäische Parlament klipp und klar sowohl die Rückverfolgbarkeit als auch die Kennzeichnung fordert.
Gegen den Vorschlag der Kommission haben die Abgeordneten beschlossen:
„(47b) Es sollten Anforderungen bezüglich der Rückverfolgbarkeit von mit NGT hergestellten Lebensmitteln und Futtermitteln festgelegt werden, um die genaue Kennzeichnung dieser Erzeugnisse nach Massgabe der Anforderungen der Verordnung…über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel zu erleichtern und damit sicherzustellen, dass den Unternehmen und den Verbrauchern genaue Informationen zur Verfügung stehen, sodass sie ihr Recht auf freie Wahl wirksam ausüben können und die Angaben in der Etikettierung leichter kontrolliert und überprüft werden können. Die Anforderungen an mit NGT hergestellte Lebensmittel und Futtermittel sollten ähnlich sein, damit bei einer Änderung des Endverwendungszwecks keine Informationslücken entstehen.“
Warum informieren Sie Ihre Leserinnen und Leser nicht über diese wesentliche Veränderung des Textes, die weitreichende Folgen hätte, wenn sie schliesslich geltendes Recht würde?
Anders als Sie sind die Abgeordneten offenbar nicht der Auffassung, dass es sich bei er Forderung nach Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung „einzig“ um „Befindlichkeiten“ handelt.
Nicht nachvollziehen kann ich, wenn Sie den Einsatz der neuen gentechnischen Verfahren für die Herstellung von Lebensmitteln gleichsetzen mit ihrem Einsatz in der Medizin. Sie schreiben: „In der Medizin schafft dieselbe Technologie derzeit Revolutionäres. Dort ängstigt sich kurioserweise kaum jemand.“
„Kurios“ ist Ihre Argumentation, die Ich als bewusste Irreführung von Leserinnen und Lesern empfinde, die mit dem Thema nicht ausreichend vertraut sind. Sie wissen doch ganz genau, welch grundlegenden Unterschied es macht, ob gentechnische Verfahren unter kontrollierten Bedingungen im Labor und bei der Herstellung von medizinischen Produkten genutzt werden oder ob gentechnisch veränderte Pflanzen massenhaft und nicht rückholbar in die Biosphäre eingebracht werden.
Ich frage mich, aus welchem Grund Sie so einseitig berichten und wesentliche Informationen weglassen. Dazu ist Ihr Text in einem Ton geschrieben ist, der eher zur PR-Abteilung eines interessierten Unternehmens passt als zu journalistischer Information, die ein Thema doch möglichst von allen Seiten darstellen sollte, ganz unabhängig von der Bewertung.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir erklären könnten, warum Sie geschrieben haben, was Sie geschrieben haben.
Mit freundlichem Gruss
Christoph Habermann
Datum Am 09.02.2024
Sehr geehrter Herr Habermann,
ich kann auf Ihre Argumentation aus Zeitgründen nicht im Einzelnen eingehen, möchte Sie aber darauf hinweisen, dass es sich bei dem Artikel um einen Meinungsartikel handelt. Sachlich stehe ich zu meiner Einschätzung, dass eine breite Koalition von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Technik für ungefährlich halten. Gerne weise ich Sie u.a. auf dieses Papier hin: https://www.leibniz-gemeinschaft.de/fileadmin/user_upload/Bilder_und_Downloads/Über_uns/Europa/G6_In-depth_statement_NGT.pdf
Stilmittel von Leitartikeln ist es, die Dinge zuzuspitzen. So kommen die Befindlichkeiten in den Text, zu denen ich aber ebenfalls stehe. Es ärgert mich, dass es ein Label wie gentech-frei so weit bringen konnte. Fast jede unserer Kulturpflanzen ist im Sinne des EuGH von 2018 gentechnisch verändert. Insofern ist das Label Verbrauchertäuschung. Es ist aus meiner Sicht auch keine besondere Qualität mit der Bezeichnung gentech-frei verknüpft.
Ich bitte um Verständnis, dass ich mit Ihnen nicht tiefer in die Diskussion einsteigen kann. Als weitere Lektüre empfehle ich Ihnen gerne meinen Text von vor einigen Wochen sowie den Gastbeitrag von Nobelpreisträgerin Nüsslein-Volhard.
Herzliche Grüße
Philip Bethge
Datum: 9. Februar 2024
Betreff: Aw: Regulierung neuer gentechnischer Verfahren
Sehr geehrter Herr Bethge,
haben Sie vielen Dank für Ihre Hinweise auf eigene und andere Veröffentlichungen. Die meisten kenne ich.
Den Hinweis, dass es sich bei Ihrem Artikel um einen „Meinungsartikel“ handle, finde ich bemerkenswert. Anlass Ihres Artikels ist eine aktuelle Entscheidung des Europäischen Parlaments zu einem Vorschlag der Europäischen Kommission.
Ich habe überhaupt kein Problem damit, dass Sie offenbar der festen Überzeugung sind, die gegenwärtig geltenden Regeln für die neuen gentechnischen Verfahren müssten gelockert werden. Diese Meinung respektiere ich und auch die zugespitzte Darstellung. „Meinungsartikel“ kann nach meinem Verständnis aber nicht bedeuten, dass Sie wesentliche Aspekte der Entscheidung des Europäischen Parlaments nicht einmal erwähnen. Ausserdem rechtfertigen es weder Ihre Meinung noch Ihre Freude an der zugespitzten Darstellung, wenn Sie mit keinem Wort erwähnen, dass es auch unter Wissenschaftlern und Forscherinnen unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, ob und wie die neuen gentechnischen Verfahren regulatorisch behandelt werden sollen.
Die Lust an der Zuspitzung sollte aus meiner Sicht auch nicht so weit gehen, die Dinge auf den Kopf zu stellen. Das tun Sie, wenn Sie behaupten, „fast jede unserer Kulturpflanzen ist im Sinne des EuGH gentechnisch verändert. Insofern ist das Label Verbrauchertäuschung.“ Das ist eine Meinung, die Sie ziemlich exklusiv haben dürften und die wohl Ausfluss Ihres Ärgers ist, woher auch immer der kommen mag, und nicht das Ergebnis nüchterner Betrachtung der Wirklichkeit.
Ich werde in Zukunft Berichte in den Medien noch kritischer lesen, hören und anschauen. Ich möchte mich ja in erster Linie darüber informieren, was geschehen ist, was beschlossen oder verhindert worden ist, und erst in zweiter Linie interessiert mich, welche Meinung der oder die haben, die journalistisch darüber berichten.
Mit freundlichem Gruss
Christoph Habermann
Anmerkung: Die Links in den Mailexten von Christoph Habermann wurden zum besseren Verständnis von der Redaktion ergänzt, in den Originaltexten waren diese nicht vorhanden.