Der Volkswille ist ein imaginäres Wesen, das gern aus dem Munde selbsternannter Führer spricht. Wer das besonders gut und laut kann, verdient den Ehrentitel Populist, vielleicht sollten wir „Volkist“ sagen, um der Deutschtümelei der Szene zu entsprechen. Wenn das lächerlich klingt, dann ist das Absicht, und wem das zu abstrakt ist, der denke an Björn Höcke in Thüringen und Herbert Kickl, den sich gerade 29% der Österreicher als „Volkskanzler“ gewünscht haben.
Populisten bilden sich einen homogenen Volkswillen ein und meinen damit, für das „echte“ Volk zu sprechen, dessen Denken noch rein sei, unverschmutzt von Fremdlingen und Einflüssen aus dem Ausland. Dieser imaginierte Volkswillen, von „Führern“ normativ definiert, gründet sich meistens auf Kurzschlüsse des „gesundem Menschenverstands“ und Geschichtsklitterung. In der Geschichte habe sich dieser so homogene Volkscharakter offenbart, weshalb ein Gutteil populistischer Rezepte aus der Wiederherstellung einer als „golden“ imaginierten Vergangenheit besteht.
Das Volk ist dabei zumeist nicht nur ein Kollektivbegriff für die Menschen, die lange genug in einem Territorium zusammenleben und die gleiche Sprache sprechen, sondern ein geradezu mythisches Etwas, das die besondere Aufmerksamkeit, ja Bevorzugung eines Gottes genießt: z.B. sagt Putin gemeinsam mit dem orthodoxen Patriarchen, das russische Volk sei „heilig“ ebenso wie das „Heilige Russland“. Vorwissenschaftlich ist auch die behauptete „Reinheit des Blutes“, wobei die Biologie der Gene ignoriert wird; denn es gibt keine genetische Reinheit heutiger Nationen. Wer auf Wiener Klingelschilder schaut, wird feststellen, dass da viele Nachkommen aus dem slawischen Teil des Habsburger Reiches leben und längst integrierter Teil des österreichischen Volkes geworden sind, vielleicht sogar Kickl wählen.
Aber es gibt gute Methoden, den vielgestaltigen Willen des heterogenen Volkes festzustellen, nämlich freie und fair gestaltete Abstimmungen über die Zusammensetzung von Parlamenten oder auch über wichtige Einzelfragen. Das „Volk“ ist dabei einfach nur die Gemeinschaft aller Staatbürger, die gemeinsame Regeln des friedlichen Zusammenlebens akzeptieren, die zumeist in einer Verfassung niedergelegt sind. Und dazu gehört die Institution von Parlamenten, in denen sich nach allgemeinen, freien Wahlen die Souveränität des Volkes realisiert. Wenn eine demokratische Verfassung eine allgemeine Gemeinwohlorientierung festschreibt, entspricht sie einem Volkswillen, den Rousseau vor 240 Jahren „volonté general“ genannt hat.
Wir Deutschen haben später als Angelsachsen und Franzosen zu stabiler Demokratie gefunden, stehen heute aber vor der traurigen Erkenntnis, dass ihre Regeln nicht mehr Konsens sind. So findet eine Partei in einigen Bundesländern um die 30% Zustimmung, die sich als Alternative zum „Parteienstaat“ sieht, ohne zu erklären, durch welche Staatsform das ersetzt werden soll. In USA stehen wir vor einer Präsidentschaftswahl, die nach dem dortigen Wahlsystem aus der Postkutschenzeit sehr knapp ausgehen dürfte, obwohl Frau Harris nach den derzeitigen Umfragen einige Millionen Stimmen mehr bekommen dürfte als Trump; es ist aber heute schon klar, dass sehr viele radikalisierte Trumpwähler ihrem „Führer“ folgen werden, wenn er seine eventuelle Niederlage wieder nicht anerkennen sollte. Schaut man auf die entscheidenden Zahlen in den Einzelstaaten, könnte ein Promille-Differenz in 7 Staaten wie Georgia, Arizona oder North Carolina Trump den Sieg oder die Niederlage bringen. Trumps Warnung vor einem Blutbad, dürfte von einen beträchtlichen Teil der Amerikaner als Aufforderung verstanden werden, den wahren „Volkswillen“ mit Gewalt durchzusetzen.
Wenn aber in USA das demokratische System zusammenbricht und einem selbst ernannten „Führer“ folgt, wird die Welt eine andere sein – eine, die Putins Vorstellungen einer von autoritär geführten Großmächten beherrschten Welt mit anerkannten Imperien statt souveräner Staaten. Und natürlich wird Trump als Putsch-Präsident behaupten, der Volkswille habe gesiegt!
Als vor 3 Jahren auf demokratische Weise der deutsche Volkswille gemessen wurde, war das Ergebnis alles andere als homogen – ja geradezu absurd: für eine Regierungsmehrheit gab es nur entweder die Möglichkeit einer weiteren Großen Koalition, jetzt aber unter SPD-Führung, oder die „Ampel“; eine neue GroKo war für die allgemeine Stimmung – und insbesondere der abgestürzten Union – unzumutbar. Auch der in AFD- und Linken-Stimmen konkretisierte Volkswille konnte in keine handlungsfähige Regierungsmehrheit integriert werden. Also blieb nur eine Ampel, von der jeder Verkehrssachverständige ahnen konnte, dass sie nicht funktioniert. Ich nannte sie mit meiner Erfahrung in der Verkehrsforschung absurd, weil eine Ampel, bei der Rot, Gelb, und Grün gleichzeitig leuchten wollen, eben absurd ist und den Verkehr nicht lenkt sondern behindert. So muss dann an jeder beampelten Kreuzung das Recht zu fahren neu ausgehandelt werden, weil jedes Mal mindestens ein Fahrer Angst hat, er werde seine Freunde oder gar sein Auto verlieren, wenn er sich nicht durchsetzt – und ampelfreie Vorfahrt für Rechts darf in der Politik keine Lösung sein.
Bei fairer Beurteilung und Anerkennung des souveränen Rechtes der Wähler, zu beauftragen wen sie wollen, leidet Deutschland gegenwärtig nicht an einer Ampel, sondern am darin realisierten Volkswillen in all seiner Widersprüchlichkeit. So bekennt sich die Ampel zum Klimaschutz, lässt also scheinbar Grün leuchten, besteht aber auf einer Steuer- und Finanzpolitik, die den verheißenen grünen Weg zur Schotterpiste macht. Und obwohl es da schon rumpelt, denkt sich die SPD immer neue soziale Verbesserungen an der Renten- und Armutsfront aus, obwohl sie mit beiden Partnern vor einer gigantischen Renovierungs- und Modernisierungsaufgabe steht und nicht vorankommt, weil keiner irgendjemandem etwas zumuten will. Dazu kommt, dass der 2021 konkretisierte Volkswille eines der ganz großen Probleme noch gar nicht berücksichtigen konnte, nämlich den dreisten russischen Eroberungskrieg gegen die Ukraine, hinter dem erkennbar ein ebenso unverfrorener (noch nicht militärischer) Krieg gegen die freien Gesellschaften des Westen steht, ausgetragen mit Cyber-Mitteln und Lügenpropaganda.
Nun meinen viele, es läge am Kanzler, und übersehen dabei, dass die Kanzler der Vergangenheit von Parteien mit großer Mehrheit gegenüber ihren gelben oder grünen Partnern regieren konnte. Und Deutschlands einzige Kanzlerin löste das Problem mit ihrem gleichwertigen Partner in der GroKo, indem sie überwiegend sozialdemokratische Politik machte; da musste sie nur ihre eigene Partei und ihr bayerisches Schwesterchen disziplinieren.
Es ist also im Interesse unserer Demokratie extrem wichtig, dass die Bürger dieses Landes trotz Ampelfrust ihre eigene Verantwortung dafür verstehen, dass sich der Volkswille nicht in immer mehr verschiedenen Spezial-Parteien zersplittert. Vor allem ist es ihre Verantwortung, den Populisten mit ihrer völkischen Homogenitätsideologie nicht auf den Leim gehen, sondern in den Wahlkabinen auch berücksichtigen, dass die gewählte Mehrheit schnell zu guten Kompromissen kommen muss. Dafür gibt es natürlich kein Konzept, aber es wäre schon ein Stabilitätsgewinn, wenn nicht so viele Stimmen auf populistische Bauernfänger und Vertreter von Einzelinteressen entfielen.