Die politischen Töne, die in jüngster Zeit aus Ankara zu vernehmen sind, klingen inzwischen weniger aggressiv und verletzend. Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Paladine üben sich nicht weiter in verbaler Scharfmacherei gegen die EU und gegen Deutschland. Immerhin waren noch vor kurzem Vergleiche mit dem Hitler-Reich auf den Sprechzetteln türkischer Politiker zu finden, wurde die deutsche Regierung gar der Unterstützung von Terroristen beschuldigt. Die türkische Regierung äußerte immer wieder den Verdacht, dass Deutschland sowohl die PKK als auch die Gülen-Bewegung duldet oder gar unterstützt und die Opfer, die die Türken im Konflikt mit den Kurden im Osten des Landes erlitten haben, einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Offenbar hat man in Ankara begriffen, dass das Maß an Geduld in Berlin nahezu erschöpft ist. Nach den Aufrufen zur Achtung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten sowie der Forderung, die willkürlich eingesperrten Deutschen aus den türkischen Gefängnissen frei zu lassen, ist die Bundesregierung in die Offensive gegangen. Außenminister Gabriel und Finanzminister Schäuble haben kein Blatt mehr vor den Mund genommen; den bislang diplomatischen Mahnungen folgten klare Warnungen.
Leisere Töne aus Ankara
Diese verfehlten ihre Wirkungen nicht. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim suchte nach einer Strategie der Deeskalation: Die Regierung in Ankara sehe Deutschland auch heute noch als einen wichtigen Partner. Ebenso sei es gelogen, dass gegen deutsche Unternehmen, die in der Türkei tätig sind, wegen Terror-Unterstützung ermittelt würde. Gewiss ist es voreilig, dieses osmanische Säuseln als Auftakt für die große Entspannung zu pari zu nehmen. Dafür ist im letzten Jahr viel zu viel Porzellan zerstört worden. Es wird lange Zeit brauchen, bis die Scherben eingesammelt und einige davon wieder zusammengeklebt sein werden. Derzeit ist jedenfalls nicht in Sicht, wie es zu der früher immer wieder beschworenen deutsch-türkischen Freundschaft oder gar „Blutsbrüderschaft“ kommen könnte. Denn das gegenseitige Vertrauen ist zerstört.
Enge wirtschaftliche Verbindungen
Immerhin haben Erdogan und seine Spießgesellen bemerkt, dass die EU, allen voran Deutschland, der wichtigste Wirtschaftspartner der Türkei ist. 40 % ihres Außenhandels wickeln die Türken mit der EU ab. Mehr als zwei Drittel der Direktinvestitionen in der Türkei werden von europäischen Firmen getätigt. Allein auf Deutschland entfallen 9 % des Außenhandels, 6.800 Firmen mit 140.000 Arbeitsplätzen, 10 % der ausländischen Niederlassungen und rund 12 Mrd. € Direktinvestitionen. Solche Partner mutwillig gegen den Bauch zu treten und zu verschrecken, das könnte die großen politischen Ziele von Erdogan nachhaltig gefährden. Denn mit den angestrebten Verstärkungen der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und China sind drohende Verluste bei den Geschäften mit den EU-Staaten nicht auszugleichen –sogar nicht mit dem besser laufenden Außenhandel, den die Türkei mit arabischen und turkmenischen Ländern betreibt.
Türkische Wirtschaft auf Schlingerkurs
Bereits im vergangenen Jahr gingen die deutschen Exporte in die Türkei um fast 2 % zurück; in diesem Jahr könnte das Minus im Außenhandel gar bis zu 10 % betragen. Mit neuen Investitionen in die türkische Wirtschaft halten sich angesichts der dortigen politischen Entwicklungen deutsche ebenso wie andere europäische Unternehmen zurück. Der Vizepremier, Mehmet Simsek, versuchte deshalb jüngst die Firmenchefs zu beruhigen und verkündete, dass „deutsche Mitarbeiter, Aktionäre, Verbraucher und Lieferanten keinen Anlass zur Sorge haben“ müssten. Sorgen sollte sich jedoch die türkische Regierung machen, wenn sie nicht bald die Rechtsstaatlichkeit und die demokratischen Standards stärkt, wenn sie nicht das politische und Investitions-Klima spürbar verbessert.
Auch im Tourismus zeichnen sich weitere schmerzliche Verluste für die Türkei ab. In diesem Jahr kalkulieren die deutschen Reiseveranstalter mit bis zu 3 Mio. Türkei-Urlaubern; in 2015 waren es immerhin 5,6 Mio.; die Hotels in Antalya und in anderen touristischen Hochburgen der Türkei melden viele freie Bettenkapazitäten. Der jüngste Reisehinweis des Auswärtigen Amtes wirkte jedenfalls wie ein Warnsignal. Denn der Tourismus ist für das Ferienparadies Türkei ein wichtiger Wirtschaftszweig, der im Jahre 2014 rund 30 Mrd. € an Einnahmen verbuchte, 2016 jedoch nur noch etwa 20 Mrd. €. Russen oder Briten gleichen das nicht aus.
Nicht nur die Tourismusindustrie wird von der Politik Erdogans negativ getroffen. Die türkische Volkswirtschaft, die sich viele Jahre positiv entwickelt hat, befindet sich auf einem Schlingerkurs. Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes ist schwach; es wird fast nur noch vom Bausektor getrieben. Die Arbeitslosenquote liegt über 10 %; fast jeder vierte Jugendliche ist ohne Job. Die Inflation bewegt sich mit etwa 10 % auf einem hohen Niveau. Die privaten Haushalte verschulden sich mehr und mehr; die Sparquote ist gesunken. Der Außenwert der türkischen Lira hat gegenüber dem US-Dollar und auch gegenüber dem Euro an Boden verloren. Ausländische Investoren haben Kapital abgezogen; nicht wenige Türken haben Gelder aus ihrer Heimat ins Ausland transferiert. Die internationalen Ratingagenturen verpassten der Türkei schlechte Bonitätsnoten – bis auf Ramschniveau.
Weniger Kredite für die Türkei
Die politischen und ökonomischen Entwicklungen in der Türkei haben Konsequenzen. So wird die Europäische Investitionsbank (EIB) ihr Kreditengagement drastisch zurückfahren: 2016 stellte die EIB der türkischen Privatwirtschaft und dem Staat ca. 1,9 Mrd. € an Krediten zur Verfügung; 2017 wird sich das Volumen voraussichtlich fast halbieren. Die Finanzierung der Transanatolischen Pipeline (TANAP), durch die Erdgas aus Aserbaidschan über Georgien quer durch die Türkei bis Griechenland und Bulgarien transportiert werden soll, wurde zunächst einmal von der EIB gestoppt; sie sollte für das Projekt, für das insgesamt 8,5 Mrd. € Kosten veranschlagt sind, Kredite über rund 600 Mio. € gewähren. Nun werden die Risiken als zu hoch eingeschätzt, zumal die EU sich bei der Energieversorgung nicht von dem autoritären und unberechenbaren Erdogan-Regime abhängig machen will. Ebenso werden im Zuge der Neuorientierung der deutschen Türkeipolitik die staatlichen Hermes-Bürgschaften für Exporte in die Türkei überprüft. In den meisten EU-Staaten und in der EIB werden jedenfalls menschenrechtliche Aspekte bei den finanziellen Hilfen für die Türkei eine größere Rolle spielen.
Die Zollunion mit der EU als Köder
Die EU macht der Türkei auch nur noch geringe Hoffnung auf eine Ausweitung der Zollunion. Eine Verbesserung ist nur machbar, wenn die Türkei wieder rechtsstaatliche und demokratische Bedingungen erfüllt. Die seit 1995 bestehende Zollunion befreit bislang insbesondere Industriegüter, die 95 % des Warenaustausches ausmachen, von Zöllen. Die türkische Regierung hat den Wunsch, dass in Zukunft auch Agrarprodukte und Dienstleistungen sowie öffentliche Ausschreibungen in dieses Abkommen mit der EU einbezogen werden. Schon bisher wickelt die Türkei etwa 40 % ihres Außenhandels mit der EU ab; seit Beginn der Zollunion hat sich das Volumen an gegenseitigen Exporten und Importen vervierfacht. Die Ausweitung der Zollunion würde zu großen Vorteilen für die Türkei führen – mit einem Plus von bis zu 95 % bei den Agrarexporten in die EU, mit einer Zunahme von bis zu 400 % bei den Dienstleistungen.
Noch hat die EU die Türkei als Beitrittskandidaten nicht endgültig abgeschrieben. Deshalb sollen vorerst die „Vor-Beitrittshilfen“ aus der EU-Kasse weiterfließen. Für 2014 bis 2020 sind dafür im EU-Haushalt 4,45 Mrd. € veranschlagt; die EU-Kommission beziffert die eingegangenen Zahlungsverpflichtungen auf 1,65 Mrd. €. Ausbezahlt wurden bislang etwa 190 Mio. €. Die EU-Kommission will das Geld verstärkt für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und rechtsstaatlicher Einrichtungen in der Türkei einsetzen.
Steiniger Weg zur Annäherung?
Von den 3 Mrd. €, die im Rahmen des Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei zugunsten syrischer Flüchtlinge vereinbart wurden, hat die EU inzwischen 826 Mio. € nach Ankara überwiesen. Auf jeden Fall hat dieser Deal dazu beigetragen, dass nur noch wenig Migranten über die Ägäis in die EU-Staaten kommen. Trotz mancher Drohungen von türkischen Politikern, das Abkommen zu kündigen, ist es auch für die Türkei von so großem Nutzen, dass in Ankara wohl niemand ernsthaft an eine Kündigung denkt.
Zwischen der EU und der Türkei herrscht zwar ein raues Klima, doch keine Eiszeit. Der hochrangige politische Dialog findet nach wie vor statt. Die meisten Europäer haben trotz aller Probleme längst begriffen, dass die Türkei ein sehr wichtiger Nachbar ist, mit dem auch weiterhin gesprochen und verhandelt werden sollte. Denn es gibt viele Felder gemeinsamer Interessen – Handel und Investitionen, Energie, Migration sowie Bekämpfung des Terrorismus.
Trotz oder auch wegen Erdogan muss alles versucht werden, aufeinander zuzugehen – und nicht aufeinander loszugehen. Die aktuellen Signale aus Ankara sind jedenfalls erste kleine positive Zeichen seit dem Putschversuch vor einem Jahr. Konkrete Schritte müssten indessen von Erdogan bald folgen. Die Richtung dafür hat die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, vorgezeichnet, nämlich „konkrete Schritte im Bereich von Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten, Demokratie und Medienfreiheit.“ Der Weg dahin könnte steinig werden, doch er sollte gewagt werden – im Interesse Europas, der Menschen in der Türkei und der Türken oder türkischstämmigen Deutschen.
Präsident Erdogan müsste auf diesen Weg einbiegen – und zwar schon in der nächsten Zeit, denn immer mehr Regierungen in den EU-Staaten – auch in Deutschland – verlieren die Geduld mit der türkischen Politik und drängen auf einen verschärften Kurs gegen Ankara. Sollten die einst mit der Türkei aufgenommenen EU-Beitrittsverhandlungen endgültig abgeblasen werden, dann dürften auch keine Milliarden Euro für Vorbereitungshilfen mehr von Brüssel nach Ankara überwiesen werden.
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