Auch jetzt wird in den Medien wieder darüber gerätselt, weshalb es nicht gelingen konnte, eine demokratische Mehrheit bei den Wahlen gegen Erdogan und die AKP zu erreichen. Trotz desolater Wirtschaftslage, rasender Inflation und bedrückender Hilflosigkeit nach der Erdbebenkatastrophe konnte Erdogan sich halten. Wohl in jedem anderen demokratisch regierten Land der Welt hätte die real existierende Situation zum Sturz des Machthabers geführt. Auch die Hinweise auf die extreme Benachteiligung der Opposition in den Medien liefern keine glaubwürdige Erklärung. Das Wahlergebnis der Auslandstürken in Deutschland , wo Erdogan eine zweidrittel Zustimmung erhalten hat und keine negative mediale Beeinflussung stattgefunden hat, bestätigt diese Annahme.
Ein Blick in die Geschichte der Türkei gibt deutliche Hinweise, weshalb dies so ist und wohl noch lange bleiben wird:
Am 29.05.1453 stürmten die Osmanen unter Führung Mehmed II Byzanz ( Konstantinopel) unter dem Zeichen des Islam. Darauf folgte der Türkensturm mit einer Welle der gewaltsamen Islamisierung großer Teile Europas, der erst nach der zweiten Belagerung Wiens im Jahr 1683 gestoppt werden konnte. Byzanz hat keine Hilfe der europäischen Mächte mehr erhalten. Die aktuelle Situation auf dem Balkan belegt noch heute die Auswirkungen einer der bedeutsamsten Ereignisse von welthistorischer Bedeutung.
Erdogan und seine AKP sind zur Speerspitze der erfolgreichen und fast vollzogenen Islamisierung der Türkei geworden. Der Laizismus Kemal Atatürks, des Vaters der sogenannten modernen Türkei, aus den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurde Schritt für Schritt zu Grabe getragen. Und dies nicht nur, weil die Partei Atatürks über Jahrzehnte an Korruption und mangelndem gesellschaftlichen Veränderungswillen gescheitert war. Die heterogene gesellschaftliche Struktur hat bedeutend zu dem Scheitern der Demokraten beigetragen.
Aufschluss über die explosive Lage in dem ganzen südeuropäischen Raum und der jungen Türkei gibt der Reisebericht „Orient-Express“ des Schriftstellers John Dos Passos aus dem Jahr 1921. Seine hellsichtige Analyse hat bis heute Gültigkeit. Der Völkermord an den Armeniern im ersten Weltkrieg, den die Türkei noch immer leugnet, die Folgen der ethnischen Säuberungen nach dem griechisch – türkischen Krieg, der aussichtslose Kampf gegen den islamischen Fundamentalismus und als gravierendstes Problem, die verweigerte Staatlichkeit für die Kurden, sind die entscheidenden Geburtsfehler.
Der Traum der europäisch und demokratisch gesinnten Türkinnen und Türken, ihr Heimatland europäisch reformieren zu können, ist ausgeträumt. Grandiose Flughäfen, Brücken, Autobahnen und eine Elektrifizierung auch der abgelegensten Dörfer sind nur sichtbare aber keine strukturellen Merkmale eines Staates. So lange türkische Bauern, des Lesens und Schreibens unkundig, in großer Zahl mit zwei Frauen leben können und der Staat den Schutz von Frauen ebenso von religiösen und ethnischen Minderheiten verhindert, kann eine Gesellschaft nicht befriedet sein. Man lese dazu auch Werke des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk, zum Beispiel „Schnee“.