Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hat in seiner neuesten Ausgabe ein langes Interview mit dem Historiker Heinrich August Winkler(84) geführt, das ich nur jedem empfehlen kann, der an deutscher Geschichte interessiert ist und an dem Urteil dieses großen historischen Erzählers, dessen mehrbändiges Werk „Geschichte des Westens“ meinen Schreibtisch ziert. Am Ende des Frage- und Antwort-Katalogs unter der Leitung von den Redakteuren Dirk Kurbjuweit und Klaus Wiegrefe wird Winkler die Frage gestellt: „Lieben Sie Deutschland?“ Und der Historiker antwortet mit den Worten des früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann: „Es gibt schwierige Vaterländer“, hatte der dritte Präsident und der erste aus den Reihen der SPD in seiner Antrittsrede 1969 gesagt. „Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland.“ Wie wahr. Winkler räumt ein, dass das etwas altmodisch klingt, aber „einen aufgeklärten, selbstkritischen Patriotismus halte ich für legitim und notwendig.“ Und hatte man nicht einen anderen Sozialdemokraten, dem es Deutschland nicht leicht gemacht hatte, um es höflich zu formulieren, am Ende bescheinigt, ein deutscher Patriot gewesen zu sein? Gemeint Willy Brandt.
Zu ergänzen wäre, um noch etwas bei Heinemann zu bleiben, dem streitbaren und umstrittenen Demokraten, dass dieser bei einem anderen Interview auf die Frage, ob er die Bundesrepublik liebe, geantwortet hatte: „Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig!“ Er verstand sich als Bürgerpräsident, der Jurist aus Essen, der nach dem Krieg Oberbürgermeister der Stadt war, Mitbegründer der CDU und für ein Jahr Adenauers erstem Kabinett als Innenminister angehörte, der aber 1952 die Partei verlies aus Protest gegen des CDU-Kanzlers Wiederbewaffnungspläne. Heinemann engagierte sich in der Friedensbewegung und war gegen die Nato-Mitgliedschaft der Bundesrepublik aus Sorge, dies werde die Wiedervereinigung erschweren. Heinemann gründete dann die eher pazifistische GVP zusammen mit Erhard Eppler, Dieter Posser und Johannes Rau, ehe er 1957 zur SPD wechselte. Probleme?
1966 gehörte Heinemann als Justizminister dem Kabinett der Großen Koalition an unter dem CDU-Kanzler Kurt-Georg Kiesinger, der Mitglied der NSDAP gewesen war, und Vizekanzler Willy Brandt, der vor den Nazis ins Ausland geflüchtet war. Die Große Koalition beschloss u.a. auch die umstrittenen Notstandsgesetze, gegen die die Studenten auf die Straße gingen. 1969 wurde Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt, was er als „ein Stück Machtwechsel“ bezeichnete. Und dieser Heinemann hatte als Gymnasiast ein Theaterstück verfasst, das Berliner Studenten ihm zum 72. Geburtstag vorspielten: „Nie wird es mich reuen, der Wahrheit und dem Recht den Mund geliehen zu haben. Bringt mich nur durch rohe Gewalt zum Schweigen! Recht bleibt Recht! Vor dem Stuhl des Richters, der euch einst fordert, werdet Ihr mich hören müssen.“ Deutschland, einig Vaterland?
Heinrich August Winkler, SPD-Mitglied seit 1961, weil er Adenauers Kampagne gegen das uneheliche Kind Herbert Frahm alias Willy Brandt verurteilte, spricht in dem Interview die Hoffnung aus, „dass Deutschland auch aus einer schweren Krise nicht wieder als Diktatur hervorgeht.“ Nun kann man nicht bestreiten, dass das Land, aufgebaut auf und aus den Ruinen des Nazi-Staates, nach dem Weltkrieg, dem Zivilisationsbruch, Krisen bewältigte, große Probleme löste, das Wirtschaftswunder erleichterte manches. Weil anderes lange verdrängt wurde, wie die Nazi-Zeit mit den vielen Millionen Mitgliedern der braunen Diktatur-Partei. Erst die Auschwitz-Prozesse brachten vieles davon ans Tageslicht und auf den Tisch. War die Republik damals gespalten? Zerrissen? Es gab heftige Diskussionen, der Bundestag erlebte Debatten, die man später als politische Hochämter pries. Das Land stand gut da, die Menschen genossen Freiheit und Wohlstand. Zumindest die im Westen, die im Osten wurden drangsaliert von der SED, der Stasi, die Mauer hielt sie zudem gefangen in ihren Grenzen nach Westen. Vielleicht erklärt sich so mancher Nachholbedarf, was die Kritik am Westen nicht schmälern soll. Er hat nach der Wende den Osten überrollt.
Migration gemeinsam lösen
Winkler sieht die heutigen Probleme des Landes auch durch das Erstarken der AfD und empfiehlt dagegen: „Wir müssen uns ehrlich machen. Wir dürfen nicht mehr versprechen, als wir halten können. Die westlichen Demokratien sind nicht mehr in der Lage, alle Menschen aufzunehmen, die vor Krieg und Not fliehen.“ In der Tat ist die Migration das Problem, von dem die Rechtsextremen leben, ohne dass sie Lösungsvorschläge hätten. Sie versuchen, das Land zu spalten. Hetzen gegen Ausländer, Geflüchtete, malen an die Wand, dass die Republik zunehmend verfremdet würde, schwadronieren von Umvolkung. Heinrich- August Winkler sieht Möglichkeiten der Lösung. Voraussetzung für die Verleihung der Staatsbürgerschaft müsse die „vorbehaltlose Anerkennung der Grundrechte sein, einschließlich der Gleichberechtigung von Mann und Frau und der Religionsfreiheit. Schon das setzt der Integration Grenzen.“
Womit wir in der aktuellen Lage angekommen sind mit dem Nahost-Problem. Dem Überfall der Terroristen-Vereinigung Hamas auf Israel, dem bestialischen Töten von Kindern, Frauen und Alten, der Antwort Israels mit Flugzeugen, Bomben und Panzern, den Debatten in Deutschland um Judenhass, um die Rechte der Palästinenser, Proteste mit rechtswidrigen Auswüchsen gegen Jüdinnen und Juden in Berlin, Essen und anderswo. Vor wenigen Tagen hatte der Grünen Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck in einer viel beachteten Video-Botschaft betont, für religiöse Intoleranz sei in Deutschland kein Platz. Wer hier lebe, müsse nach den hier geltenden Regeln leben. Dazu gehört selbstverständlich die Würde des Menschen. Und Habeck hatte auch denen, die auf offener Straße gegen Israel, gegen Jüdinnen und Juden pöbeln, mit Strafen gedroht. Und damit auch Muslime wie auch Deutsche gemeint, die das Existenzrecht Israels, was zu Deutschlands Staatsräson gehört, in Zweifel ziehen, israelische Flaggen anzünden. Damit war auch die Drohung mit Ausweisung gemeint.
Antisemitismus macht sich wieder mal breit im Land der Täter, wo es Stimmen gibt, die der Hamas-Lüge folgen und Israel die alleinige Schuld am militärischen Vorgehen in Gaza geben. So hatten es die Terroristen wohl von Anfang an geplant, erst das Morden gegen die israelischen Siedler, was dann überdeckt würde von den israelischen Vergeltungsangriffen. Mit der Folge, dass das Letzte hängenbleiben würde. Nein, gespalten ist unser Land nicht, die Demokraten sind sich einig, ihre Gegner, ja ihre Feinde protestieren und versuchen, die Menschen gegen Jüdinnen und Juden aufzuwiegeln. Angst macht sich breit in deren Reihen, wie früher, wie einst. Wer schützt sie?
Politische Spaltungen hat es viele gegeben, betont Winkler. Bei der Wiederbewaffnung, um die Ostpolitik Willy Brandts, um nur die zwei zu nennen. „Aber noch nie ist die liberale Demokratie von so vielen infrage gestellt worden,“ merkt der Historiker an. Wobei zu fragen wäre, ob Deutschland heute nicht insgesamt gut dasteht, AfD hin oder her, sie sitzt zwar in allen Parlamenten, aber noch hat diese Partei nur den einen oder anderen Landrat und Bürgermeister, eine Regierungsbeteiligung ist nicht zu sehen und sie wird, solange sich die Demokraten einig sind, auch nicht passieren. Einer wie der frühere Bundesfinanzminister und einstige CSU-Chef, Theo Waigel, hat kürzlich dazu geraten, CDU und CSU sollten mit der Ampel-Regierung das Problem Migration gemeinsam lösen, ausdrücklich meinte er damit keine neue Groko aus SPD und Union. Kanzler Scholz hat dieses Gespräch kürzlich geführt mit den Chefs von CDU, Merz, und dem CSU-Landesgruppenchef Dobrindt. Inhaltlich wurde nichts bekannt, aber man darf davon ausgehen, dass die Migration das beherrschende Thema gewesen sein könnte.
Riesen Probleme, so wird fast jede Debatte hier geführt, der Eindruck erweckt, als kaum lösbar. Man möchte an Hans-Jochen Vogel erinnern, der seine Partei, die SPD, vor vielen Jahren daran erinnerte, die Probleme nach dem Krieg seien wirklich kaum lösbar gewesen, alles kaputt, in Schutt und Asche, dazu die Moral am Boden, das Land geteilt. Später, als die Schröders regierten, stand die Republik sauber da, fast möchte man sagen blitzsauber. Und doch wurde gemäkelt, gemeckert. Auch Theo Waigel reagierte kürzlich auf die inflationäre Benutzung des Begriffs Dilemma, das viele Nachrichten bestimmte. Auch früher habe es Probleme gegeben, erinnerte der CSU-Chef an seine Zeit als Minister. „Auf dem Gebiet der früheren DDR standen 8000 sowjetische Panzer“. Die damaligen Spannungen seien „eine riesige Gefahr“ gewesen, denn „mit einem Knopfdruck wäre Westdeutschland damals… nicht mehr da gewesen. “ Wenn die Probleme Migration und Wirtschaft gemeinsam gelöst würden, „dann entzieht man der AfD wie der äußersten Linken ihre Argumente“. Die Ampel wurde von Waigel heftig kritisiert, es werde zu viel diskutiert, zu wenig entschieden, zu viel Rücksicht auf bestimmte Flügel genommen, man habe Angst vor Umfragen, vor Stimmungen, anstatt selber Stimmungen zu gestalten.
In Bonn tagte der Parlamentarische Rat
Zur aktuellen Debatte zählt auch die Diskussion über das Asylrecht. Winkler macht dazu einige interessante historische Bemerkungen, beginnend mit dem individuellen Recht auf Asyl, das zurückgehe auf eine Entscheidung im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz damals 1948 in Bonn ausgearbeitet hatte. Dem Ausschuss für Grundsatzfragen habe am 23. September 1948 ein Entwurf vorgelegen mit dem Satz: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts.“ Auf Antrag des SPD-Abgeordneten Carlo Schmid, so Winkler im Spiegel-Interview, seien die letzten fünf Worte aus redaktionellen Gründen gestrichen worden. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes seien sich damals nicht bewusst gewesen, dass sie mit der Streichung ein Recht begründeten, das es in keiner westlichen Demokratie gebe, „nämlich ein individuelles, subjektives Recht auf Asyl.“ Die Grundgesetz-Gründer hätten vielmehr das Asylrecht als eine Pflicht des Staates verankert gewollt, politisch Verfolgte nicht in Verfolgerstaaten zurückzuschicken. Winkler: „Mehr war nicht beabsichtigt.“ Aber die Kürzung habe zu einer Interpretation des Artikels 16 geführt, „wonach es ein Recht auf Zutritt zum Gebiet der Bundesrepublik gibt.“
Die Welt hat sich verändert. Politik darf nicht in Hass und Wut erstarren. Die Bundesrepublik hat hier und da Probleme. Aber es gibt keinen Grund, hier alles schlecht zu reden. Wer das tut, betreibt das Geschäft der AfD. Auch wenn nicht alles klappt im Land, manches verbesserungswürdig ist wie die Infrastruktur, Schulen, Straßen, Brücken, die Bahn. Aber die Gesellschaft, die Politik haben die Pandemie gelöst, der Rechtsstaat hat funktioniert und er funktioniert auch weiter. Niemand muss die Demokratie zurückholen, vielmehr müssen den Aiwangers die Grenzen aufgezeigt werden. Die Abhängigkeit von russischem Gas wurde in sehr kurzer Zeit gelöst, niemand musste frieren, die Wirtschaft brach nicht zusammen. Deutschland hilft der Ukraine seit dem Überfall von Putins Russland. Der Bundeskanzler reist durch die Welt, um Berlins Visitenkarte abzugeben, er redet mit den Regierungen auf Augenhöhe, will Vertrauen gewinnen oder sichern. Deutschlands Verantwortung gegenüber Israel hat gerade erst Robert Habeck in seinem Video betont, in aller Ruhe und Klarheit, schon meinten einige seiner alten Bewunderer in den Medien, da habe der neue Kanzler gesprochen.
Es stimmt ja: Wer am Abend die Nachrichten im Fernsehen hört und sieht, wird von einer Krise in die nächste gezerrt, vom Ukraine- zum Nahost-Krieg, und dann gibt es in Nepal ein Erdbeben, dringt ein bewaffneter Mann aufs Flugfeld des Hamburger Flughafens. Die Korrespondenten der Anstalten in aller Welt zeichnen das Bild, das uns manchmal den Schlaf raubt. Und dennoch muss ich sagen: Diese Republik ist die beste, die wir je hatten. Wir sollten das ruhig öfter mal sagen.
Bildquelle. Wikipedia, Thomas Wolf, www.foto-tw.de , CC BY-SA 3.0