Ein doppeltes Erschrecken ist es, das mich überkommt. Einmal der Schrecken über die Tat und den Tathergang auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin und das Erschrecken über Äußerungen zur Tat, die oft nicht weniger unmenschlich sind wie das Geschehen selbst. Und dann die Notwendigkeit mit der eigenen Ratlosigkeit umzugehen. Ich brauche den Abstand, um diese Ratlosigkeit zu ordnen. Ich will erst einmal nur für mich die Frage beantworten, wie es denn danach weiter gehen kann?
Dann fällt mir die Ratlosigkeit ein, die mich auch nach dem Massaker eines Schülers in Erfurt vor 14 Jahren erfasst hatte. Ein Amoklauf eines Schülers und sechzehn Tote. Es blieb nicht der Einzige. Wie eine Seuche brach da etwas in unser Gemeinwesen, was noch immer nach Erklärung sucht. Oder die zehn Toten, exekutiert durch zwei Nazis, deren Opfer nur einen Fehler hatten, nicht in Deutschland geboren zu sein. Es waren Schüsse aus dem nationalsozialistischen Untergrund und gleichzeitig ein erschreckendes Beispiel für Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile. Lange davor der Anschlag eines rechtsextremen Täters auf dem Münchner Oktoberfest. 36 Jahre danach wird noch immer spekuliert, ob es wirklich ein Einzeltäter war.
Und seit mehr als fünf Jahren der Bürger- und Religionskrieg im Heiligen Land. Dazu kommen Afghanistan, der Jemen, der Irak und Ägypten, wo ebenfalls religiöser Wahn eine Todesschneise schlägt. Zehn Millionen Menschen, Kinder, Alte, Junge, Kranke und Gesunde, die aus Syrien auf der Flucht sind. 65 Millionen Flüchtlinge weltweit, weil der Klimawandel ihnen das Überleben auf der Südhälfte des Planeten unmöglich macht oder Hunger und Umweltzerstörung, die Flucht begründet. Gut eine Million Flüchtlinge sind in Deutschland aufgenommen worden. Nicht weniger als zweieinhalb Millionen fanden Zuflucht in der Türkei.
Man muss schon bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zurück blicken, um eine ähnliche Erschütterung der Welt zu entdecken, die wir heute erleben müssen. Es gibt zweifellos eine Fülle von Motiven und Gründen dafür, dass soviel Ungleichheit zwischen Nord- und Süd des Erdballs entstehen konnte. Ein nicht geringer Teil wie Korruption und Misswirtschaft ist sicher den Eliten auf der Südhälfte zuzuschreiben. Der größere Anteil hat zu tun mit der wirtschaftlichen Ausbeutung des Südens durch den Norden. Und nun, wo sich herausstellt, dass Globalisierung und weltweite Finanzmärkte die nationalen Souveränitäten aufgelöst haben und ganz wenige den Reichtum unter sich aufteilen und immer mehr dafür bezahlen müssen, kommt die Sehnsucht nach Überschaubarkeit zurück. Renationalisierung steht auf der Agenda und damit steht auch Europa, genauer die Union, vor der Selbstzerstörung.
Da sind Antworten notwendig, für die wir nicht einmal die Fragen formulieren können. Nein, die blindlings ermordeten Besucher des Weihnachtsmarktes an der Gedächtniskirche in Berlin sind nicht „Merkels Tote“. Wir sind auch nicht im Krieg, wie ein bis dato unbekannter Innenminister aus dem Saarland vor sich hin sabbert. Wir sind vielleicht am Ende eines Fortschrittsglaubens, der geradezu automatisch unsere materiellen Wünsche nach einem besseren Leben, wenn nicht für uns, dann doch für unsere Kinder zu erfüllen hat. Es fehlen die Selbstsicherheiten von gestern, als der autoritäre Sozialismus durch den autoritären –Faschismus abgelöst wurde und den Rassismus einbrachte. Die Überlegenheit der eigenen Rasse hatte einzuzahlen, bis große Teile des Erdballs in Trümmern lagen und vor allem Europa seine Irrtümer bitter bezahlen musste.
Die Selbstgewissheiten sind verflogen, ebenso der Fortschrittsglaube und so scheinen Nationalismus und blöde Rivalitäten zurückzukehren und uns zu unseren eigenen Feinden werden zu lassen. Wir lassen den Terror im eigenen Land weitgehend ohne Widerstand zu, wenn er „nur“ von Tätern ausgeübt wird, die „deutsch fühlen“. Selbstbezichtigungen lassen erstaunen, wie in einer Hamburger Wochenzeitung zu lesen, dass die Freiheit von Schwulen und Lesben, sexuelle Orientierung, kurz Gender Studies es gewesen sein könnten, das sich so viele Menschen in der Gesellschaft nicht mehr zuhause fühlen könnten. Das nenne ich denkfaul.
Rassismus braucht keine Fremden, um zu existieren, er produziert sie. Wir werden uns also selber fremd und das braucht dann wohl brennende Asylunterkünfte und Attacken, die 2016 zu einem Rekordjahr für rechtsextremistisch motivierte Straftaten werden lassen. Oder wie ein Mantra die „Obergrenze“ der CSU oder der Vorschlag, ausgerechnet des SPD-Vorsitzenden, das Kindergeld für Ausländer zu kürzen. Dafür dürfen der Reichen sicher sein, dass ihr Reichtum nicht von Steuererhöhungen beeinträchtigt wird. Auch nicht Boni zurückzuhalten sind, die doch angeblich Erfolgshonorare sein sollen. Was man bei der Deutschen Bank oder Volkswagen oder Audi, oder beim ADAC oder, oder… jeden Tag besichtigen kann.
Zurück zum Weihnachtsmarkt in Berlin und zu meiner Trauer für die Toten und Verletzten des Attentats. Wer die Berichterstattung in Funk und Fernsehen darüber mit erlitten hat, der wird mit mir sicher hoffen, dass es den versammelten Medienmachern und ihren Zuhörern erspart bleibt, weitere Sondersendungen und immer neue Wiederholung aller Untaten der selbsternannten Gotteskrieger als Endlosschleife zu ertragen. Manche Anchorfrauen und –männer, die wiederholt davor warnten, bloß keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, konnten manche Reporter leider davor nicht bewahren. Die Debatte auch darüber steht zu erwarten.
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