Diesen Blog-Beitrag zum Reformationstag 2024 widme ich Friedrich Schorlemmer (16. Mai 1944 – 09. September 2024). Mit ihm zusammen habe ich 2017 eine kritische Einschätzung des Reformationsjubiläums vorgelegt: „Reformation in der Krise – wider die Selbsttäuschung“.
Seit einiger Zeit geistern sie durch die Kirchenlandschaft, zwei Begriffe, die nur notdürftig den Niedergang der Institution Kirche kaschieren können: Transformation und Reduktion. Erst in diesen Tagen veröffentlichte der Evangelische Pressdienst eine Mitteilung über die Kandidatur des Bischofs der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), Christian Stäblein, für den Rat der EKiD: „… er sehe ‚den Rat herausgefordert, die begonnenen Transformationsschritte in der kirchlichen Arbeit mitten in den Abbrüchen und Umbrüchen der Gesellschaft zu unterstützen‘. Die Evangelische Kirche in Deutschland sehe er dabei als ‚Repräsentantin und Impulsgeberin‘. Es brauche bewährte Formate, ‚aber auch neue Suchbewegungen mit Pop-up-Events‘. Dabei gelte es, die sinkende Mitgliederentwicklung wahr- und ernst zu nehmen, erklärte Stäblein.“
Nun ist „die sinkende Mitgliederentwicklung“ keine neue Erscheinung. Sie hält seit fünf Jahrzehnten (!) an. Schon in den 70er Jahren verließ in Mannheim (und nicht nur dort) jedes Jahr zahlenmäßig eine komplette Gemeinde die Evangelische Kirche. Da aber gleichzeitig das Kirchensteueraufkommen kontinuierlich wuchs, gab es keinen Handlungsdruck. Im Gegenteil: Noch in den 80er Jahren wurden üppige Tagungshäuser gebaut und zusätzliche Stellen geschaffen. Finanziell konnte die Institution Kirche aus dem Vollen schöpfen. Gleichzeitig war schon in den 70er Jahren absehbar: Wenn diejenigen, die damals als junge Menschen die Kirche verlassen haben, und ihre Kinder und Kindeskinder keine neue Bindung zur Kirche und zum Glauben aufbauen, wird sich der Entfremdungs—und Säkularisierungsprozess in der Gesellschaft schnell potenzieren. Doch diese Tatsache wurde kollektiv verdrängt – auch von mir. Jetzt aber lässt sich nichts mehr verleugnen.
Spätestens nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 hätte das angestanden, was kirchenintern in aller Munde ist: die „Transformation“, besser: die Reformation einer Kirchenstruktur, die – jedenfalls in Sachsen autoritär und selbstüberheblich – den Gesetzmäßigkeiten einer preußischen Verwaltung Ende des 19. Jahrhunderts folgt. Stattdessen aber wurde diese überlebte Struktur erst einmal zur Grundlage der Kirche im vereinigten Deutschland gemacht und top-down verordnet: Stillstand (West) und Vereinahmung (Ost). Und was ist die Folge? Es wird zwar weiter einer „Transformation“ das Wort geredet. Aber die Frage, was von wo nach wo transformiert werden soll, bleibt weitgehend unbeantwortet. Stattdessen ist, da den Kirchen nun die finanzielle Basis wegbricht, nur noch von Reduktion die Rede – und zwar nach folgendem Muster: Angesichts der sinkenden Kirchensteuereinahmen können in fünf oder zehn Jahren nur noch soundsoviele Pfarrstellen, soundsoviele Stellen für Kirchenmusiker:innen, soundsoviele Stellen für Gemeindediakon:innen, soundsoviele Kirchgebäude und Pfarrhäuser finanziert werden. Diese Berechnungen werden mit zunehmendem Tempo im top-down-Verfahren den Kirchenbezirken als „Strukturreform“ verordnet, die dann vor Ort immer größer werdende „Regionen“ bilden sollen. Letztlich findet dieser rein bürokratische, selbstzerstörerische Prozess in allen Landeskirchen statt, ohne auch nur einmal zwei Grundfragen vor Ort, d.h. mit den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen, zu debattieren:
Warum soll es evangelische Kirche/christliche Gemeinde am Ort X geben?
Wie können wir den Menschen vor Ort (die Mitglieder der Kirche wie diejenigen, die am Ort leben) nahekommen bzw. nahebleiben, sie durch die biblische Glaubensbotschaft stärken und mit ihnen zusammen ein menschliches Miteinander gestalten?
Ein offener Diskurs über diese Fragen, der von unten nach oben geführt werden muss, könnte dazu führen, dass wir uns nach und nach aus der babylonischen Gefangenschaft einer Verwaltungskirche befreien, die hauptsächlich Mitarbeiter:innen orientiert arbeitet und kaum noch die Menschen im Blick hat, die kirchliche Arbeit ermöglichen und erwarten: die Mitglieder der Kirche und diejenigen, die auf kirchliches Handeln sowie Wegweisung und Orientierung warten. Natürlich benötigt jede Art von kirchlicher Arbeit auch einen institutionellen Rahmen. Nur derjenige, der derzeit gegeben ist, hat sich als unfähig zur Reformation erwiesen. Vielmehr organisiert er einen gigantischen Selbstzerstörungsprozess. Auf der Strecke bleiben zuerst und vor allem diejenigen, die Mitglieder der Kirche sind und (noch) ehrenamtlich mitarbeiten. Verantwortlich für die dramatische Entwicklung ist vor allem der Berufsstand, dem ich selbst angehöre und der alle Schaltstellen in der Institution Kirche besetzt: Pfarrerinnen und Pfarrer. Ist aber dieser Berufsstand in der Lage, das Ruder herumzureißen? Wohl kaum, denn das würde voraussetzen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu können. Auch darum bedarf es einer Reformation, die vom „Priestertum aller Gläubigen“ ausgeht, die Kirche von unten, also Gemeinde vor Ort aufbaut, für einen selbstkritischen Qualifikationsschub aller kirchlichen Berufe sorgt und damit rechnet, dass wir wieder mehr werden.
Dass dies kein Selbstzweck ist, unterstreicht der Zustand unserer Gesellschaft. In ihr leben immer mehr Menschen, die in allen Schichten verzweifelt und vereinsamt um Anerkennung und Rechtfertigung ringen, diese aber oft nicht finden. Eine solche Gesellschaft benötigt die Grundbotschaft des biblischen Glaubens: Gott hat einen jeden Menschen ins Leben gerufen und in diese Welt gestellt. Damit hat jede:r einen Platz hat, den ihm:ihr niemand streitig machen kann und darf. Daraus erwächst jedem Menschen unabhängig von seiner Stellung ein hohes Maß an Verantwortung für sein eigenes wie für das Zusammenleben mit anderen. Diese Bestimmung des Menschen gilt es von Kindesbeinen an jedem Tag durch Wort und Tat neu in Erinnerung zu rufen. Wenn Christ:innen vor Ort dieses in vielfältiger Weise umsetzen und sich dabei ihrer eigenen Begrenztheit und Vergänglichkeit bewusst bleiben, dann reden wir hoffentlich bald nicht mehr von Reduktion, sondern davon, dass wir in der christlichen Gemeinde mehr werden wollen und können – mehr Menschen, die sich an ihrer Berufung/Taufe erfreuen und sich darum nicht niederdrücken lassen durch all die Verwerfungen, denen wir Menschen auf dieser Erde ausgesetzt sind, ihnen aber auch standhalten können. Von nichts anderem zeugen die biblische Botschaft und die Verkündigung Jesu. Gottseidank gibt es immer noch und wieder Menschen in der Kirche, die als ehrenamtlich Tätige, als Gemeindediakon:innen, als Kirchenmusiker:innen, als Pfarrer:innen dafür ihre Kraft und Fähigkeiten einsetzen, sich von der Kirchenbürokratie lösen und vor Ort neue Formen gemeindlichen Lebens entwickeln.
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht im Blog unseres Autors am 29.10.2024