Wer in den menschlichen Abgrund schauen will, um zu erkennen, zu welchen schrecklichen Taten, zu welchen Unmenschlichkeiten Menschen in der Lage sind, sollte sich dieses Buch kaufen: „Das Verschwinden des Josef Mengele.“ Er war einer der schlimmsten Nazi-Täter, der Arzt von Auschwitz, der Millionen in die Gaskammern schickte, der an Menschen Experimente vornahm, diese zerstückelte und die Skelette in Forschungsinstitute schickte. Brutaler, zynischer kann man nicht sein im Umgang mit Menschen anderer Rassen, mit Behinderten, mit Juden, Kindern, Frauen. Dieses menschliche Ungeheuer musste sich nach dem Zweiten Weltkrieg seiner Verantwortung nie stellen, er wurde versteckt von der Familie in Günzburg und von Nazis in Südamerika gedeckt. Ein Verbrecher des Jahrhunderts, der am Ende irgendwo in Brasilien starb.
1949 flüchtet der bestialische Lagerarzt von Auschwitz Josef Mengele, der mit einer Handbewegung über Leben und Tod von Millionen entschied, nach Argentinien, wo er auf ein dichtes Netzwerk aus Unterstützern, darunter Diktator Perón und viele Altnazis, trifft. So beginnt der Klappentext zum Buch des Autors Olivier Guez, der das preisgekrönte Drehbuch zum Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ schrieb. Es ist ein fesselnder Roman über das Leben und die Flucht dieser Bestie, die leider nie gefasst und vor ein Gericht gestellt wurde. Zur Form des Buchs schreibt der in Straßburg geborene Journalist: „Nur mit der Form des Romans konnte ich dem makabren Leben des Nazi-Arztes möglichst nahekommen.“
Spuren wurden verwischt, man schaute weg
Es ist aus heutiger Sicht nahezu unbegreiflich, dass dieser Mengele nie vor ein Gericht gestellt werden konnte. Es ist für mich unverständlich, dass die Familie ihn im heimatlichen Günzburg ein paar Jahre nach dem Krieg verstecken konnte, ohne dass die dörfliche Umgebung es gemerkt hätte. Es ist für mich ein Skandal, dass die junge Bundesrepublik dieses Monstrum nicht entschlossen genug verfolgte, dass es Ministerien gab, in denen einstige Nazis dafür sorgten, dass die Spuren verwischt wurden, dass die nazi-verseuchten Geheimdienste in Deutschland immer wieder wegschauten, damit Mengele in Südamerika unbehelligt leben konnte. Man schüttelt nur den Kopf darüber, wenn man dieses spannende Porträt des Franzosen liest.
Dabei wird er weltweit gesucht, der Arzt von Auschwitz, der im Buch Gregor heißt und der mit anderen Nazi-Größen in Lateinamerika zusammentrifft, darunter mit Adolf Eichmann, den der israelische Mossad aus Argentinien entführt und dem in Israel der Prozess gemacht wird. Eichmann wird hingerichtet. Mengele wäre gewiss Ähnliches geschehen, hätte man ihn zu fassen gekriegt. Mengeles weitere Unterstützer waren der frühere Pilot Rudel, ein glühender Nazi wie Mengele. Beide haben nie bereut, was sie getan haben, ja sie träumten in Südamerika eine Zeitlang davon, zurückzukehren in ein Deutschland, das ihre Gräueltaten als Heldentaten feiern würde. „Als Arzt hat er den Körper der Rasse behandelt und die Kampfgemeinschaft geschützt“, heißt es in dem Buch(S.44 f). „In Auschwitz hat er gegen den Zerfall und die inneren Feinde, Homesexuelle und Asoziale, gekämpft; gegen die Juden, diese Parasiten, die seit Jahrtausenden den Untergang der nordischen Menschheit betreiben: Sie müssen ausgelöscht werden, mit allen Mitteln.“ Er, Mengele, habe als „moralischer Mensch gehandelt. Indem er alle seine Kräfte in den Dienst der Reinheit und des schöpferischen Vermögens des arischen Blutes stellt, hat er seine Pflicht als SS-Mann erfüllt.“Man mag es kaum glauben, was hier zu lesen ist, es stockt einem der Atem.
Als der Alt-Nazi Rudel die Fußballer besuchte
Hans-Ulrich Rudel, mehrfach ausgezeichneter Pilot der Wehrmacht, wurde auch nach dem Krieg in Deutschland als Nazi-Freund bekannt. Er kandidierte für die rechtsextreme Deutsche Reichspartei, gründete das „Kameradenwerk“ und fungierte als Fluchthelfer für einstige NS-Größen. Er arbeitete in Südamerika u.a. für den Siemens-Konzern und für Daimler-Benz und Dornier, indem er Kontakte und Geschäfte mit den Luftstreitkräften vermittelte. Auch als Waffenhändler war er erfolgreich. Bei der Fußball-WM 1978 in Argentinien-damals herrschte dort die Junta- besuchte er auf Einladung von DFB-Präsident Hermann Neuberger das Quartier der deutschen Mannschaft. Neuberger begründete den Besuch Rudels mit den Worten, eine Kritik an Rudels Einladung komme „einer Beleidigung aller deutschen Soldaten gleich.“ Mit Rudel ist auch eine politische Affäre verbunden, Generäle verglichen die NS-Vergangenheit Rudels mit der KP-Vergangenheit von Herbert Werner.
So war die Situation in der Bundesrepublik, die sich lange vor einer Aufarbeitung ihrer NS-Geschichte drückte, der Hauptfeind war die Sowjetunion, der Russe die große Gefahr. Erst die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt, herbeigeführt durch den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, ein Jude, der in einem KZ gesessen hatte, sorgten dafür, dass über die Ermordung von sechs Millionen Juden während der Nazi-Zeit und andere Verbrechen offen und öffentlich geredet, dass manchem Zeitgenossen die Augen geöffnet wurden.
Die Leute um Mengele, Rudel und andere sind lange überzeugt, dass die Deutschen dem Nationalsozialismus nicht abgeschworen hätten, wie es im Buch richtig dargestellt wird. Sie erinnern an die Begeisterung der Universitäten und der Ärzte für Hitler und die Nazis in den 1930er Jahren. Sie reden über die Ausbeutung der Zwangsarbeiter, an der die Großindustrie Milliarden verdiente, die menschlichen Versuchskaninchen der Pharmaunternehmen, die herausgerissenen Goldzähne, die Monat für Monat an die Reichsbahn geschickt worden seien. Bis zu den Zerstörungen der letzten Kriegsjahre hätten doch alle vom System profitiert und niemand habe Einspruch erhoben, „als die Juden auf Knien die Bürgersteige scheuerten, und keiner hat etwas gesagt, als sie plötzlich über Nacht verschwunden sind. Wenn sich die Welt nicht gegen Deutschland verschworen hätte, wäre der Nationalsozialimus noch immer an der Macht.“ Welcher Wahn!
Einmal kommt er in Kontakt mit der Polizei
Einmal, ein einziges Mal, als er einen Unfall baut, kommt er auf für ihn gefährliche Weise in Kontakt mit der Polizei. Es liegt kein Haftbefehl gegen ihn vor, nach ihm wird nicht gesucht, obwohl er auf einer der Kriegsverbrecherlisten steht. Aber der einflussreiche Vater Karl, Chef der Landmaschinen Mengele in Günzburg, sein Anwalt, der Chef der Günzburger Polizei marschieren ins Münchner Polizeipräsidium und die Sache ist in Minuten erledigt. Gregor alias Mengele fliegt am nächsten Tag zurück nach Südamerika.
Namen tauchen auf in dem Buch, wie der des früheren SS-Hauptsturmführers Erich Priebke, der an dem Massaker von 335 Zivilisten in den Ardeatinischen Höhlen in Rom beteiligt gewesen war. Priebke führt in Südamerika ein feines Leben, die beste Metzgerei, Vienna Delikatessen, schreibt der Autor, gehöre dem einstigen SS-Mann.
Es ist schon mehr als erstaunlich, dass über Jahre der Eindruck vermittelt wurde, als sei Mengele vermisst, in Russland zum Beispiel. Dabei wissen sehr viele auch in Deutschland von dem Verbleib des Todesengels von Auschwitz. Eine Ulmer Tageszeitung berichtet von einem anonymen Brief, in dem es heißt. „Der alte Mengele hat seiner früheren Haushälterin erzählt, dass sein Sohn, ein ehemaliger SS-Arzt, in Südamerika lebt. “ Der Staatsanwalt wird eingeschaltet, Mengele bleibt unbehelligt. Aber er sorgt sich, Auschwitz-Überlebende könnten ihn erkennen, anzeigen, er fürchtet, so zu enden wie Eichmann.
Seine Hand weist nur nach links
Mengeles grausame Arbeit an Menschen wird geschildert, wie ich es noch nicht gelesen habe, wie es sein Assistenz-Arzt, ein Ungar beschreibt, der auf Mengeles Geheiß „Schädeldecken aufsägen, Brustkörbe öffnen, Herzbeutel zerschneiden“ musste. Stundenlang stehe Mengele auf der Judenrampe, wo täglich“ vier bis fünf Züge mit ungarischen Deportierten eintreffen….Man kann es schon nicht mehr Selektion nennen, was Dr. Mengele an der Rampe praktiziert. Seine Hand weist nur noch in eine Richtung: nach links. Die Menschenfracht ganzer Züge endet …in den Gaskammern oder auf den Scheiterhaufen. ..Dass Mengele Hunderttausende in den Gastod schickt, betrachtet er als patriotische Aufgabe.“
Sein Sohn Rolf, ein Anwalt aus Freiburg, besucht den Vater, um die Wahrheit über ihn zu erfahren. Später wird Rolf, der den Namen seiner Frau angenommen hat, in einem Interview mit einer israelischen Zeitung das jüdische Volk bitten, „ihn wegen der Taten seines Vaters nicht zu hassen. Im März 2016 wurden Mengeles Knochen der brasilianischen Forensik zur Verfügung gestellt.“
„Nehmen wir uns“, so die Lehre des Autors Olivier Guez, „in Acht, der Mensch ist ein formbares Geschöpf, nehmen wir uns vor den Menschen in Acht.“ Denn: „Immer nach zwei oder drei Generationen, wenn das Gedächtnis verkümmert und die letzten Zeugen der vorherigen Massaker sterben, erlöscht die Vernunft, und Menschen säen wieder das Böse.“
Nein, einen Schlussstrich kann, darf es nicht geben, damit nie vergessen wird, was damals geschah und damit es sich nicht wiederholt.
Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele. 2018 Aufbau-Verlag Berlin, 224 Seiten. 20 Euro
Bildquelle: Wikipedia, Bundesarchiv, Bild 183-N0827-318 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de