„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“ (Ingeborg Bachmann)
Gespräch zwischen Gregor Gysi und Marianne Bäumler
Bäumler: Was Russland angeht, da scheiden sich die Geister. Das wird inzwischen so feindselig! Da gibt es diese Anti-Imperialisten, zu denen ich mich durchaus auch zähle, also kritisch gegenüber der geostrategischen US-Politik. Aber es gibt jetzt immer mehr Leute, die wirklich Putin um jeden Preis verteidigen meinen zu müssen. Ich finde das sehr fragwürdig. Auch, weil Putin Deutsch versteht, der fühlt sich also sowas von im Recht, durch manche inzwischen fanatisierte Intellektuelle kritiklos bestätigt, die gleichzeitig auch antisemitisch sich konturieren. Ich würde mir wünschen, dass die Linke als Partei im Sinne der Humanität mal darauf hinweist, dass die Bevölkerung in Russland im Moment überhaupt nichts zu lachen hat. Ich frage mich übrigens auch, wie es Edward Snowden im Moment geht. Manche von uns demokratischen Intellektuellen wären wahrscheinlich in Moskau im Gefängnis. Ja, und man müsste mal wieder, wie Pierre Bourdieu, der immer von dem ‚Double-Standard‘ sprach, von der Frage ausgehen, wie weit eine Doppelmoral geht. Was man an Menschenrechtsverletzungen ohne weiteres hinnimmt, geostrategisch begründet, und dann auf der anderen Seite aber so etwas sagt, wie: ‚An den Händen von Obama klebt mehr Blut‘. Das finde ich so furchtbar eindimensional. Und die Frage ist jetzt, auch aufgrund Ihrer biografischen Entwicklung, wie kann man das hinkriegen? Sie sagen, man soll psychologisch mit dem Bundestag umgehen. Aber ich finde genauso, man muss sich auch immer die fatale Grandiosität gewisser Führungsfiguren ansehen. Ich fühle mich mehr und mehr als Geisel von ganz anderen Dynamiken. Und die haben nicht nur mit Geld und Einfluss zu tun…“
Gysi: „Naja, es kommen viele Faktoren zusammen. Das Erste ist die russische Entwicklung. Sie ist insofern eine spannende Entwicklung, als es dort noch nie über eine längere Zeit eine funktionierende Demokratie gegeben hat. Das Zweite ist, dass sie eine Verfassung haben, die eine ungeheure Macht des Präsidenten und ganz wenig Macht des Parlaments regelt. Das Problem ist, diese Verfassung ist nicht von Putin, sondern von Jelzin gestaltet worden. Und damals hat der Westen, wie immer, dazu geschwiegen, weil ihnen Herr Jelzin passte. Wozu westliche Regierungen nicht in der Lage sind, ist der Gedanke, dass nach Jelzin ein Anderer kommt. Und wenn dann ein Anderer kommt, dass er diese Verfassung nutzt. Putin musste die Verfassung noch nie ändern. Er kann einfach die von Jelzin nehmen und darauf sagen wir mal seine Halb-, Drei-Viertel Diktatur aufbauen.“
Bäumler: „Also liegen die Anfänge des heutigen Totalitarismus in Russland deutlich vor Putin?“
Gysi: „Das ärgert mich schon, weil wir uns jetzt alle über die Verfassung ärgern. Aber als sie gemacht wurde, haben wir – die Linke – dagegen gewettert. „Das geht so nicht, das ist fernab von einer Demokratie!“. Der dritte Punkt. Was ich verstehe ist, dass Russland völlig in die Defensive gedrückt war. Auch durch die Ukrainepolitik. Ja, auch dadurch, dass der Westen sich an bestimmte Dinge nicht mehr gebunden fühlte. Auch dadurch, dass Obama den demütigenden Satz sagte: ‚Russland ist eine Regionalmacht. ‘
Woraufhin klar war, dass der Tigerringer Putin ihm bewies, dass Russland doch ´ne Weltmacht ist.“
Bäumler: „Das heißt: ein so genannter Gesichtsverlust eines mächtigen Mannes hinterlässt solch gravierende Folgen für eine Vielzahl von Menschen?“
Gysi: „Wir haben ein Signal nicht verstanden. Der Tschetschenienkrieg war eine reine Katastrophe und wurde so abenteuerlich geführt, dass man dachte, man kann die russische Armee vergessen. Und dann Georgien. Und da ist er einmarschiert an zwei Stellen, hat in den achtundvierzig Stunden das geregelt, was er regeln wollte und ist wieder rausgegangen. Und wir haben nicht begriffen, dass er uns sagen wollte, dass sein Militär wieder funktioniert. Das wollte er dem Westen mitteilen. Egal, wie man darauf reagiert. Man hätte es nur begreifen müssen.“
Bäumler: „Also geht es in der großen Politik gleichzeitig oft auch um eine Art Beweisnot eines Individuums, das große Taten offeriert?“
Gysi: „Das war Sotschi, die Olympiade, er konnte nur Hände schütteln. In der Zeit wurde alles fest gezupft in Bezug auf die Ukraine. Er hat drei schwerwiegende Fehler in Bezug auf die Ukraine begangen. Der erste Fehler von Putin besteht darin, dass er genauso wie der Westen in Einflusszonen denkt. Das ist ‚Kaltes Kriegs-Denken‘ und noch nicht überwunden. Weder dort noch dort. Das Zweite ist, dass er, weil Bush ja mal vorgeschlagen hat, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, dies fürchtete und meinte, dann würde seine Schwarzmeer-Flotte im NATO-Gebiet stehen, dass er sich deshalb die KRIM völkerrechtswidrig holen kann. Und das ist völkerrechtswidrig. Aber genauso wie der Kosovo völkerrechtswidrig war. Mit mir reden sie in Moskau nur deshalb, weil ich sage, dass beides völkerrechtswidrig war und immer gesagt habe, dass beides völkerrechtswidrig war. Sie haben mir gesagt, sie reden nicht mehr mit denen, die ihnen sagen: ‚ Der Kosovo geht in Ordnung und die Krim ist völkerrechtswidrig. ‘ Und das Dritte ist, dass dann sowohl beide, Barroso als auch Putin den gleichen Fehler begingen, in dem sie zur Ukraine sagten: ‚Entweder macht mit uns einen Vertrag, oder mit denen. ‘ Genauso sagte Putin: ‚Entweder mit uns oder mit denen. ‘ Und Barroso machte dasselbe. Eine Katastrophe.“
Bäumler: „Also – gleiches Recht für Alle.“
Gysi: „Wo war da eigentlich unser deutscher Außenminister, der gesagt hätte: ‚Was ist das für ein Schwachsinn?! Die können selbstverständlich mit beiden Verträge machen.‘ Also, hatten wir eine Zuspitzung, wo Russland beweisen wollte, es muss bei einer gewissen Einfluss-Sphäre bleiben. Ich glaube, die USA wären im Augenblick mit einer Teilung der Ukraine einverstanden. Die eine Hälfte gehört dann ihnen in Anführungsstrichen und die andere gehört Russland in Anführungsstrichen – das will aber wiederrum Putin nicht, weil ihm die Ost-Ukraine zu teuer ist und Zweitens, weil er fürchtet, in anderen ehemaligen Sowjetunionen ähnliche Situationen zu bekommen und die sind dann unbeherrschbar und unberechenbar. Und mir hat jemand erklärt – ich hab ja Putin noch nie getroffen – dass er etwas hasst: unberechenbare und unbeherrschbare Situationen. Sein Umgang mit Schwulen und all das ist indiskutabel, brauchen wir gar nicht zu diskutieren.“
Bäumler: „Und auf beiden Seiten tummeln sich dann allerhand Oligarchen und schaffen Fakten hinter den Kulissen.“
Gysi: „Natürlich war die ukrainische Regierung so, dass ich sie auch wieder deutlich kritisieren musste. Es war interessant, dass jetzt der ukrainische Botschafter mich besucht hat, weil sie doch wollen, dass ich da mal hinkomme und mit anderen rede. Und dafür bin ich natürlich völlig offen. Ich muss sagen, mit dieser zugespitzten Situation haben wir es zu tun.“
Bäumler: „Geostrategisch werden wie beim Monopoly-Spiel permanent weitere Terrains sondiert, egal, wer dadurch sein Leben verliert.“
Gysi: „Dann gab es den Syrienkonflikt. Und nun bombardieren nicht nur die USA, sondern auch Russland Syrien. Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Westen Russland das schwer vorwerfen kann, wenn er es selber macht. Jetzt sagen die aber, die bekämpfen gar nicht richtig den islamischen Staat, sondern mehr die anderen Gegner von Assad. Assad ist ein Diktator, keine Frage. Ein schlimmer Diktator. Mit einem Unterschied: Er wirft keine Bomben in Paris! Das aber macht der islamische Staat. Da er nun mal der Präsident Syriens ist, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als mit ihm zu reden, gerade dann, wenn wir den islamischen Staat überwinden wollen. Das man dann auch irgendwann wieder ihn überwinden muss, ist eine andere Frage, dazu muss man die demokratischen Kräfte in Syrien stärken.“
Bäumler: „Ja, seit Jahren wäre das notwendig gewesen. Aber diese Stellvertreter-Konflikte werden für die Welt-Bevölkerung immer undurchsichtiger.“
Gysi: „ Die USA sagen immer, sie wollen die gemäßigten Rebellen gerne fördern in Syrien. Daraufhin erklärt mir Israel: ‚Ja, die sind heute gemäßigt und morgen sind sie genau so radikal wie die anderen in einer anderen Situation.‘ Ich will Ihnen nur sagen, die Widersprüche sind zahlreich. Was ich nicht mag: Entweder ich sage, es ist richtig, den islamischen Staat militärisch zu bekämpfen. Dann kann ich Russland Recht geben, den USA Recht geben, Frankreich Recht geben, Großbritannien Recht geben. Oder ich sage, es ist nicht richtig. Wenn ich sage, es ist nicht richtig, kann ich gar keinem Recht geben. Nur den Einwohnern. Die dürfen sich dagegen wehren. Also, die kurdischen Rebellen sowohl im Irak als auch in Syrien. Aber dann auch den Assad-Truppen, weil die sich ja auch wehren dürfen gegen den islamischen Staat. Also, wird es wieder eine Idee schwieriger für manche.“
Bäumler: „Was also tun?“
Gysi: „Ich bin der Meinung, wir brauchen wichtige politische Schritte, wir brauchen auch kulturelle Schritte, wir müssen überhaupt aufhören zu versuchen, die dritte Welt zu verwestlichen, sonst ernten wir radikale Kräfte, die versuchen uns zu ‚entwestlichen‘. Das ist ja das, was da in Paris passiert ist. Eine Katastrophe! Und wir müssen lernen, Menschenrechte, Fragen von Freiheit und Demokratie, immer gleichermaßen ernst zu nehmen. Ich bin nicht glaubwürdig, wenn ich sie in den USA kritisiere und in Russland nicht. Ich bin auch nicht glaubwürdig, wenn ich sie in Russland kritisiere und in den USA nicht. Guantanamo ist rechtsstaatswidrig. Geheimlager der USA in Polen. Und Marokko. Sind absolut rechtsstaatswidrig. Trotzdem sind die USA kein Unrechtsstaat, verstehen Sie? Das würde ich wieder nicht sagen im Unterschied zur Nazi-Diktatur. Maßstäbe müssen einheitlich sein. Und die sind nie einheitlich. Da haben Sie Recht. Die sind bei den Linken nicht einheitlich und sie sind bei den Anderen nicht einheitlich. Zum Antisemitismus sage ich Ihnen nur so viel: Ich ärgere mich wahnsinnig darüber, dass es immer noch keinen palästinensischen Staat gibt. Ich hoffe, dass ich das noch erlebe. Anders ist Frieden im Nahen Osten gar nicht zu erreichen. Und trotzdem stört mich eine bestimmte Leidenschaft gegen Israel. Die es zum Beispiel bei Toten in Ruanda so nicht gibt. Da entsteht eine ganz andere Leidenschaft. Und das hat etwas mit einer Anti-Haltung zu tun. Übrigens – der Antizionismus ist auch nicht ungefährlich.“
Bäumler: „Weil auch diese Haltung intolerant ist?“
Gysi: „Antizionismus heißt: ‚Ich will keinen jüdischen Staat‘. Und wenn ich keinen jüdischen Staat will, will ich Israel nicht. So einfach ist das. Und wenn ich aber Israel und Palästina will, dann kann ich auch den Zionismus tolerieren. Das Grundanliegen des jüdischen Staates ist dann nachvollziehbar, wenn Tausende Jahre Juden und Jüdinnen vor der Frage standen: ‚Wann werden sie einigermaßen behandelt? Wann werden sie verfolgt?‘ – Gleichberechtigt waren sie nie.“
Bäumler: „Das Tragische ist ja, dass die Palästinenser das jetzt aufgrund ihres Leidens nicht mehr interessiert.“
Gysi: „Das Tragische ist natürlich, dass alle Chancen dafür auch nicht genutzt worden sind. Aber wie dem auch sei, wir müssen jetzt in den Grenzen von Siebenundsechzig denken, die können natürlich einen Gebietsaustausch vereinbaren, um im Kern in den Grenzen von Siebenundsechzig den Staat Palästina zu bilden. Natürlich will Israel nicht wieder angegriffen werden. Das kann man Alles organisieren. Das kann man Alles vereinbaren.“
Bäumler: „Was für eine destruktive Kommunikation seit Jahrzehnten „die da oben“ sich liefern, alles auf Kosten derer „da unten“, auf beiden Seiten.“
Gysi: „Da ist ja die palästinensische Führung im Westjordanland zu Kompromissen bereit. Ich verstehe es nicht! Die Siedlungspolitik finde ich eine Katastrophe, aber, wissen Sie, wenn Sie da mal waren, im Westjordanland und die eingemauerten Dörfer gesehen haben… viele andere Dinge. Ich will gar nicht auf die ganzen Demütigungen eingehen und: Besatzung ist immer demütigend organisiert, immer. So. Auf der anderen Seite verstehe ich aber wieder, dass Israel gerne als jüdischer Staat sicher existieren will. Wenn ich Beides verstehe, verstehen Sie, dann kann ich mit dem Problem umgehen. Wenn ich immer nur die eine Seite verstehe und nicht die Andere, dann bin ich auch letztlich für Lösungen gar nicht zu gebrauchen.“
Bäumler: „Und was ist mit den Herren der so genannten Großmächte?“
Gysi: „Wissen Sie, Ich sehe Putin auch kritisch. Und Ich sehe übrigens auch Obama kritisch. Aber ich sehe bei Obama immer auch das Positive. Ich muss mal sagen, der hat als erster Präsident doch immerhin eine halbe Gesundheitsreform durchgesetzt. Er hat als erster Präsident nach, weiß ich nicht, vierzig Jahren wieder diplomatische Beziehungen zu Kuba aufgenommen. Er hat die Soldaten aus dem Irak abgezogen. Er wollte auch die Soldaten aus Afghanistan abziehen – das wird nicht ganz gelingen. Aber immerhin. Und er wollte wirklich Guantanamo schließen. Daran hindern ihn offensichtlich der Kongress und der Senat. Er würde es eben schließen. Das ist doch Alles nicht Nichts. Und Außerdem erleben wir doch Alle eine spannende Entwicklung. Eine Unabhängigkeitsentwicklung Lateinamerikas. Selbst Kolumbien ist jetzt ein Stück unabhängig von den USA. Das soll wirklich was heißen.“
Bäumler: „Und der Papst hilft mit!“
Gysi: „Die katholische Kirche war so im Abstieg – die Missbrauchsfälle, alles was es dort gab. Da wussten sie: jetzt brauchen sie einen Franziskus… Auch schlau.“
Bäumler: „Wenn Sie sich jetzt vorstellen Sie würden Putin, Obama, den saudischen König und die anderen Geldgeber und Scharfmacher um einen runden Tisch versammeln … also es gäbe so eine gruppendynamische Situation. Es mangelt ja offenbar an sowas wie Unrechtsbewusstsein und ein jeder besteht darauf, dass sein Interesse das Richtigere, das Wahrere ist. Wie kann man bei solchen Männern wie Putin und Anderen, jetzt so etwas wie Unrechtsbewusstsein entwickeln? Ich würde mir das so sehr wünschen, denn die Welt geht so kaputt im Moment. Also auch wir, wir reden ja auch über die Opfer nur noch quantifizierend.“
Gysi: „Wenn ich moralisch an den König von Saudi-Arabien, an Putin und an Andere herangehe, bin ich zum Scheitern verurteilt. Sie denken in Einflusssphären, in Machtkategorien etc. Was ich kennen muss, sind deren Interessen. Dann muss ich wissen, welche Interessen könnte ich befriedigen und welche nicht. Dort liegt die Chance. Anders läuft es nicht.“
Bäumler: „Und die vielen Toten gehen uns nichts an?“
Gysi: „Doch! Wenn ich die verhindern will, dann muss ich auf der anderen Seite Kompromisse machen. Also zum Beispiel könnte ich dem saudischen König sagen, ich finde seine Einstellung zu Homosexuellen abenteuerlich, dass die zum Tode bestraft werden. Ich finde es abenteuerlich, dass schon Siebzehnjährige zum Tode bestraft werden können und auch hingerichtet werden. Aber Ich kann mich da nicht einmischen. Das sind seine inneren Angelegenheiten. Ich hoffe, dass sich das saudische Volk das nicht ewig bieten lässt. Das wäre mein Ausgangspunkt. Und ich kann mir überlegen, wie ich die Kräfte stütze in Saudi-Arabien, die sich dagegen stellen. Aber dann sag ich ihm: ‚Wenn Sie den Jemen angreifen oder wenn Sie das machen oder jenes, dann tangieren Sie auch meine Interessen‘. Das Eine stört mich, aber da darf Ich mich nicht einmischen – Durch das Völkerrecht. Aber das Andere, das stört mich nicht – das berührt direkt meine Interessen und dann muss ich dagegen halten. Jetzt ist die Frage: Können wir uns darauf verständigen?“
Bäumler: „Ja, eine elementare Frage, grundsätzlich.“
Gysi: „Ich sag es Ihnen im Juristischen: Es kommt nicht darauf an, was der Kläger und was der Beklagte vortragen – du musst die wirklichen Interessen analysieren. Wenn du die rausbekommst, weißt du auch, worin der Kompromiss bestehen kann. Und genauso ist es letztlich in der Politik: was ist Putins Interesse – Putins Interesse ist wieder als Weltmacht anerkannt zu werden. Anerkannt. Das hat Herr Jelzin versaut. Der stieg immer angetrunken aus den Flugzeugen. Keiner hat Russland mehr ernst genommen. Was er jetzt geschafft hat ist, dass Russland ernst genommen wird. Dass er noch eine breite Zustimmung in der Bevölkerung hat, liegt nur daran, dass leider auch arme Leute gerne Weltmacht sind. Das habe ich in den USA begriffen, da wir es glücklicherweise nie waren, nur versucht haben, es zu werden, aber vor vielen Jahrzenten, daher kennen wir diese Haltung. Das habe ich begriffen. Also musste ich ihn als Weltmacht und als Vetomacht respektieren.“
Bäumler: „Vielleicht sind die Spielregeln nicht konkret verbindlich genug?“
Gysi: „Das war ein großer Fehler, dass sie die Zustimmung von Putin bekommen haben nach Kapitel Sieben, Libyen anzugreifen und dann nicht eingehalten haben, was sie ihm versprochen haben. Weshalb er gesagt hat: ‚es wird nie wieder mit ihm einen Beschluss nach Kapitel Sieben geben‘. Deshalb haben wir ja keine völkerrechtliche Grundlage für den Kampf gegen den islamischen Staat in Syrien. Wir haben ja, bzw. die Amerikaner nicht mal die Genehmigung der Regierung Assad. Also wüsste ich, was ist eigentlich sein Interesse. Wenn ich das analysiere, kann ich ihm auf dieser Strecke entgegenkommen und dafür aber wieder B und C erreichen, weil ich sage: ‚Ich komm dir nicht entgegen, wenn Ich nicht in diesen drei Punkten etwas erreiche‘. Genauso muss man das mit anderen Regierungen machen. Und da gibt es eben Politiker und Politikerinnen, die sind da gut. Die können auch gut verhandeln, die kommen dann auch zu Ergebnissen. Und es gibt solche, die nicht gut sind.“
Bäumler: „Naja, die meisten Mächtigen sind jedenfalls für ihre eigenen BürgerInnen eher nicht so richtig gut!“
Gysi: „Es gibt eine Schwierigkeit. Wenn eine Regierung der Meinung ist, die Macht zu haben, die Dinge sowieso durchzusetzen wie sie sie haben will, dann kannst du dir alles Reden ersparen. Erst wenn sie das Gefühl hat, nicht mehr sicher zu sein, hast du ´ne Chance. Und ich beweise Ihnen das jetzt. Es gibt doch diese Friedenskonferenzen in Bezug auf Syrien. Und warum gibt es jetzt eine Chance, dass sie sich verständigen – Nicht der islamische Staat, alle anderen. Aus einem einzigen Grund. Weil Keiner mehr daran glaubt, siegen zu können. Das ist die Chance. Wenn eine Gruppe der Meinung wäre ‚wir siegen sowieso‘ – kannst du es vergessen. Da brauchst du es gar nicht erst zu versuchen. Aber wenn sie der Meinung sind, sie schaffen es nicht, weder die Einen noch die Anderen, dann ist das der Zeitpunkt, wo die Diplomatie da ist. Wenn ich mir für Deutschland eine Rolle suchen dürfte in der Welt, möchte ich gerne, dass wir der Hauptvermittler werden – Nicht Kriegspartei, sondern der Hauptvermittler. Das wär eine schöne Rolle, bei unserer Geschichte wäre das auch eine passende Antwort. Es wird viel zu militärisch, in militärischen Kategorien gedacht. Und da würde Ich gerne so ein anderes Denken dagegen setzen.“
Bäumler: „Herr Gysi, hört Frau von der Leyen auf Sie?“
Gysi: „Nein. Natürlich hört Frau von der Leyen nicht auf mich.“
Bäumler: „Ich weiß es nicht, wie geht es zu, konkret?“
Gysi: „Aber sie hören schon zu in gewisser Hinsicht. Ich meine, Seehofer hat ja zu mir gesagt, wir hätten ihm öfter genauer zuhören sollen. Ich meine, wir haben völlig unterschiedliche Positionen in vielen Bereichen. Manchmal begreift man erst im Nachhinein, dass es richtiger gewesen wäre, einen anderen Weg zu gehen. Der schnelle Erfolg ist verführerisch. Der kann aber eine Fehlleistung sein.“
Bäumler: „Und all‘ die Leute, die jetzt gerne noch gelebt hätten.“
Gysi: „Ja… Also, ich sage Ihnen das jetzt auch ganz klar – Wissen Sie, warum ich wieder ein bisschen optimistisch bin? Aber ich bin ja wirklich so ein Zweckoptimist. Die Zahl der Flüchtlinge machen unserer Regierung folgendes deutlich: Entweder, wir beginnen die Probleme der Welt zu lösen oder sie kommen jeden Tag verstärkt dazu, bis sie unbeherrschbar werden. Und da ohne Druck eine Regierung sich nicht bewegt, stelle ich fest, wie viel offener sie jetzt für Entwicklungshilfe sind. Wie viel offener sie für die anständige Bezahlung der Flüchtlingslager in Somalia, im Irak, in Syrien sind. Wie sie jetzt arbeiten an einem Kompromiss für Syrien – in Wirklichkeit aber unter dem Einfluss von Assad, weil das anders nicht geht etc. Wie sie jetzt anfangen, bestimmte Probleme zu erkennen, zur Kenntnis zu nehmen. Und auch Lösungen zu suchen, wissen Sie, mit Zäunen halten wir Flüchtlinge nicht auf. Die Probleme müssen gelöst werden.“
Bäumler: „Wir sind auf einmal sehr spürbar im globalen Turbokapitalismus auf den Boden der brutalen Verteilungskämpfe gekracht.“
Gysi: „Ja.Und es gibt noch etwas, was wir alle unterschätzt haben. Die technische Revolution. Die Digitalisierung des Lebens. Viele Menschen in Afrika wussten ja nicht, wie wir in Europa leben. Jetzt wissen sie es. Und jetzt stellen sie Fragen, auf die wir keine Antworten haben. Und wenn wir die nicht schnellstens finden, dann kann es uns übel ergehen. Und deswegen glaube ich auch, dass die Regierung sich jetzt bewegen wird. Ich sag Ihnen nur eine Zahl: Vor fünf Jahren besaßen die reichsten dreihundertachtundachtzig Menschen auf der Erde genau so viel wie die finanziell untere Hälfte der Menschheit. Das heißt wie 3,6 Milliarden Menschen. Also 3,6 Milliarden. Das sind dreitausend Millionen und so weiter – das muss ich ja nicht aufzählen – 3,6 Milliarden Menschen hatten das gleiche Vermögen wie Dreihundertachtundachtzig. Jetzt sind es Zweiundsechzig, die das gleiche Vermögen haben. Verstehen Sie, das Problem ist: aus den Dreihundertachtundachtzig werden nicht Vierhundert und dann Fünfhundert und dann Sechshundert und dann Siebenhundert, sondern daraus werden zweiundsechzig. Und in fünf Jahren wahrscheinlich Vierundvierzig. Und wenn wir diese Entwicklung nicht umkehren weltweit und übrigens auch in Deutschland: Wenn wir sie nicht umkehren, gefährden wir die ganze Struktur. Und ob dabei etwas Vernünftiges bei rauskommt, habe ich meine größten Zweifel. Meine größten Zweifel. Und wie die Entwicklung nach rechts geht, erleben wir ja jetzt in Europa. Deshalb sage ich mir, wird jetzt vielleicht der Druck zunehmen, Lösungen zu finden, weil die Menschheit zusammengerückt ist. Das schöne Wort Globalisierung. Die Menschheit rückt zusammen. Entweder wir kriegen wir die Probleme gelöst oder…“
Bäumler: „Oder wir sind Alle dran.“
Gysi: „Richtig. Und deshalb, da ich ja doch wieder ein Optimist bin, denke ich, vielleicht gehen sie jetzt die Probleme an. Einiges spricht dafür. Ein Beispiel: Syrien. Putin und Obama haben anderthalb Stunden miteinander gesprochen. Putin kann den Obama bestimmt nicht leiden. Aus seiner Sicht ist das ´ne Lusche. Der Obama kann mit so ´nem Typen wie Putin überhaupt nichts anfangen. Mit anderen Worten, wenn die Beiden anderthalb Stunden reden, ist es für die anderthalb Stunden Quälerei. Wenn die sich anderthalb Stunden quälen hoffe ich, dass auch was rausgekommen ist. (lacht) Ehrlich gesagt. Und das sagen sie uns bloß nicht. Das ist nun wieder Diplomatie und Politik, will ich gar nicht weiter erklären. Aber, so Schritt für Schritt könnten sich da bestimmt so Dinge ergeben.“
Bäumler: „Sind ja auch nur Jungs, unter sich, oder? Wäre ja auch gut wenn ab und zu ein Mädchen…“
Gysi: „Tja.“
Bäumler: „Wenn es so ein bisschen Yin und Yang auch in der Politik gäbe.“
Gysi: „Müssen Sie mir nicht erklären. Frauen machen anders Politik als Männer unter anderem deshalb, weil Männer immer mit Statistiken zu überzeugen sind. Also wenn Sie mir sagen, die Armen haben jetzt Bezüge, die sind um 3% im Vergleich zu vor zwei Jahren gestiegen, dann denke ich als Mann: ‚Naja, immerhin um 3% gestiegen‘ – und so weiter. So denken Frauen nicht. Eine Frau sagt: ‚was bedeutet das jetzt für die alleinerziehende Hartz IV Empfängerin in Hamburg mit zwei Kindern‘. Und wenn du dann genau untersuchst, was das für die bedeutet, kommt da raus: Nichts! Und deshalb machen sie eine bessere Politik zum Teil als Männer. Nur dann nicht, wenn sie versuchen, bessere Männer zu sein.“
Bäumler: „Jetzt kommen wir zum Thema Hosenanzug oder wie?“ (lacht)
Gysi: „Nö, nicht Hosenanzug. Das ist gar nicht wichtig. Das ist mir völlig Wurst ehrlich gesagt. Sondern sie müssen sich ihre Eigenständigkeit, ihre andere Herangehensweise bewahren. Das ist mir wichtig.“
Bäumler: „Ich meinte jetzt Frau Merkel auf dem Sonnendeck, und die noch nie in Duisburg das Prekariat in Konkurrenz erlebt hat, oder?“
Gysi: „Ja, ja natürlich. Aber es geht ja den meisten Politikern so. Es ist übrigens so, dass Politiker, die wirklich arm waren und dann zu was gekommen sind, nicht unbedingt eine sozial gerechtere Politik machen. Weil die wieder die Vorstellung haben: ‚Ich hab es ja auch geschafft, die Anderen können es ja auch schaffen wenn sie sich anstrengen‘. Ich komme wiederum aus besseren Verhältnissen und denke, wenn ich so arm aufgewachsen wäre, wäre ich vielleicht zum Schwerverbrecher geworden. Ich habe keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Da ich unsicher bin, will ich das nicht. Ich möchte Armut schon deshalb gerne überwunden sehen, weil ich nicht gerne von Armut umgeben bin. Aber natürlich möchte ich einfach, dass es den Leuten nicht dreckig geht. Punkt. Und wenn ich dann als Besser-Verdiener etwas mehr abgeben muss und andere auch – Na und?!“
Bildquelle: Wikipedia, Kuebi = Armin Kübelbeck, Gregor Gysi, Bundestagsabgeordneter und Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion im Bundestag, am 9. Oktober 2007 beim Verlassen des Reichstagsgebäudes, CC BY-SA 3.0