Die Zahl der Kinder, die an Aufmerksamkeitsstörungen leiden, wächst. Doch der Zugang zu Diagnose und Therapie bleibt vielen verwehrt. Oft sind es Jungen türkischer Herkunft, die den Weg zu Hilfsangeboten in Deutschland nicht finden. Den Ursachen dafür spürte das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk (IBB) Dortmund nach. In Istanbul besuchte eine Gruppe von Fachkräften aus Nordrhein-Westfalen, Hessen und Berlin das erste deutsch-türkische Sozialforum „Inklusion International“ und lernte während des einwöchigen Aufenthalts auch zahlreiche Einrichtungen aus der Behindertenarbeit kennen.
Michaela Kuhlmann zieht die Zuhörer in ihren Bann. Die ruhige, ausgeglichene Frau sitzt auf dem Podium im „Engelliler Sarayi“, dem – wörtlich übersetzt – „Behindertenpalast“ im Istanbuler Stadtteil Bagcilar. Sie stellt den 250 Teilnehmern des ersten deutsch-türkischen Sozialforums „Inklusion International“ das „IntraActPlus-Konzept“ vor, nach dem sie am Gemeinschaftskrankenhaus Witten-Herdecke mit ihren Patienten arbeitet.
Es sind Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen wie ADS oder ADHS, Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS), Dyskalkulie. Videoaufnahmen veranschaulichen die Arbeit der Gevelsbergerin, so dass Lehrer, Therapeuten und Psychologen im Publikum eine klare Vorstellung von den Möglichkeiten bekommen, wie mit kleinen, geduldigen Schritten, mit Lob und Achtsamkeit zu helfen ist.
Videoaufnahmen von Nico und Luise zum Beispiel verdeutlichten sowohl die Defizite der kleinen Patienten als auch die Lernerfolge. Die verhaltenstherapeutische Methode dient der oft schwierigen Diagnose und der Therapie gleichermaßen. Kurze Lernphasen, viele Pausen, kräftiges Lob und klare Grenzsetzung gehören zu dem Konzept, das auf eine Automatisierung von Verhaltensweisen setzt. „Erst dann wird Raum für kreatives Denken frei“, betont Michaela Kuhlmann.
Gevelsbergerin beeindruckt Fachpublikum
Die Grundschullehrerin bildet sich seit Jahren fort. Sie ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und bietet im Nebenberuf das videogestützte Lerntraining an. Der Impuls zur Fortbildung ging aus dem Schulalltag hervor. Zunehmend bekommen es Lehrer dort mit auffälligen Kindern zu tun. Oft stehen die Pädagogen dem hilflos gegenüber, nehmen die Problematik in erster Linie als zusätzliche Belastung in ihrem ohnehin dichten Berufsstress wahr.
Michaela Kuhlmann ließ das nicht auf sich beruhen. Sie belegte ein erstes Wochenendseminar. Ihre Motivation wuchs mit jedem weiteren. Sie nahm Anzeichen für die oftmals unbeachteten Erkrankungen aufmerksamer wahr, sah Symptome auch bei Menschen im eigenen privaten Umfeld. Im Berufsalltag entdeckte die Lehrerin, dass nicht nur die erkrankten Kinder in ihrem Unterricht, sondern auch die gesunden von ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten profitieren. Ganzheitlich geht sie die Sache an. Mitschüler und Familienangehörige werden einbezogen. Das Fachpublikum in Istanbul ist beeindruckt.
„Wo weggesehen wird, sind die Chancen auf Hilfe gering“ Den höchsten Prominenten-Bonus hatte Professorin Dr. Sabiha Paktuna Keskin auf dem Podium inne. Die in der Türkei bekannte und durch das dortige Fernsehen sehr populäre Psychologin war nach dem Tod eines dreieinhalbjährigen Patienten just zum Zeitpunkt der Tagung in die Schlagzeilen geraten. Sie wirkte ohne Zweifel als Publikumsmagnet, enttäuschte aber mit ihrem Beitrag.
Grob vereinfacht vertrat sie die These, dass sich Aufmerksamkeitsstörungen „auswachsen“ und dass nicht alles, was als ADS diagnostiziert werde, auch tatsächlich ein Aufmerksamkeitsdefizit sei. Sie hinterfragte die Grenzziehung zwischen dem Normalen und dem Unnormalen und verdeutlichte, dass diese Grenze einer gesellschaftlichen Prägung unterliege. Das führe einerseits dazu, dass auch Impulsivität und Lebhaftigkeit in unserer Zeit als Hyperaktivität gewertet würden. Andererseits fehle es oft an Aufmerksamkeit für die Erkrankung und: „Wo weggesehen wird, sind die Chancen auf Hilfe gering.“ Auf 50 bis 70 Prozent beziffert die Professorin die Chancen, dass erkrankte Kinder bis ins Erwachsenenalter gesunden. Das Risiko zu erkranken sei für Jungen dreimal höher als für Mädchen. Allerdings gleiche sich das Verhältnis nach der Pubertät an. Dann seien ebenso viele Mädchen wie Jungen betroffen. Auch diese Beobachtung wurde unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Wahrnehmung diskutiert. Da die geschlechtsspezifischen Rollenmuster verschieden sind, werde abweichendes Verhalten entsprechend unterschiedlich wahrgenommen.
Erkenntnisse aus Forschung und Praxis
Für die interkulturellen Aspekte der Tagung waren solche Debatten von zentraler Bedeutung. Wissenschaftlerinnen aus der Türkei und Deutschland stellten ihre Erkenntnisse aus Forschung und Praxis vor, Praktiker beschrieben ihre Schwierigkeiten zum Beispiel im Schulalltag oder bei der Diagnose und Therapie, die Fachleute aus Deutschland waren besonders interessiert, Hinweise für ihre Berufspraxis zu bekommen.
Aus türkischer Sicht wurde deutlich, dass diese Krankheiten oft mit einem Tabu behaftet sind oder schlicht ignoriert werden. Eindringlich warb Özlem Töker aus Istanbul in ihrem Vortrag für einen Erziehungsstil, der Kindern Geborgenheit und Sicherheit gebe. Reaktionen der Mutter spiegelten dem Kind sein Verhalten. Auf diese Weise lerne es, seine Gefühle zu regulieren. „Wenn die Mutter selbst in Ohnmacht fällt, wenn ihr Kind beim Laufenlernen mal stürzt“, so die Referentin, sei das schädlich. „Die Mutter muss das Kind beruhigen und trösten.“ Die Ärztin Dr. R. Hülya Bingöl Caglayan, die an der Ruhr-Universität in Bochum lehrte, ehe sie nach Istanbul zurückkehrte, unterstrich, dass es sich bei ADS und ADHS um eine Störung des Gehirns handele und betonte, dass niemand Schuld sei. „Das Kind ist nicht schuld daran“, fasste Hildegard Azimi-Boedecker vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk Dortmund zusammen. „Und auch die Eltern sind es nicht.“ Diese Botschaft kann offenbar gar nicht laut genug verkündet werden. Denn die Delegation aus Deutschland, die im Vorfeld der Tagung mehrere Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Metropole besuchte, erfuhr immer wieder, dass diese Krankheiten stark schambesetzt sind. Darin liegt ein Grund, dass viele Kinder in der Türkei ohne Hilfe bleiben. Das kann auch erklären, warum sie oftmals in Deutschland nicht behandelt werden.
„Ich mag dich so, wie du bist“
Zu den gesellschaftlichen Aspekten trug Michaela Kuhlmann auch wertvolle Hinweise auf die Situation in Deutschland bei. So dürfe das in ihrem „IntraActPlus-Konzept“ so wichtige Lob nicht nur für Leistung gezollt werden, sondern müsse vor allem der Anstrengung gelten.
Die Heilpraktikerin wies darauf hin, dass hierzulande die Freude darüber zu wenig ausgeprägt sei, „wenn ein Kind einfach da ist“. Oft fehle einfach das „Ich mag dich so, wie du bist“. Sie wies auf die Ängste hin, die Eltern in der Beziehung zu ihrem Kind ausprägen, und die zur Belastung in der Therapie werden können. Skeptisch steht die Lehrerin auch den vielen teuren Tiertherapien mit Ponys oder Delfinen gegenüber. Therapiebedürftig sei die Beziehung der Kinder zu Menschen; Training mit Tieren weiche dem eigentlich erforderlichen, für die Eltern oftmals schwierigen Weg nur aus.
Sich dem zu stellen, kleine Schritte geduldig zu gehen und dabei das Kind so anzunehmen, wie es ist, hilft nach Überzeugung von Michaela Kuhlmann nicht nur dem Kind selbst, sondern bereichert letztlich die ganze Familie. Die Therapeutin jedenfalls hat in ihrer Arbeit mit den kleinen Patienten viele schöne Erfolge erfahren, Fortschritte bewerkstelligt und Freuden erlebt. Für sie steht heute fest: „ADS hat auch viele tolle Seiten.“
Für die „Deutschen“ ist Dr. Kücükyazici oft die erste Anlaufstelle
Wenn in Deutschland die großen Ferien beginnen, kommt auf das Team von Dr. Bora Kücükyazici in Istanbul spürbar mehr Arbeit zu. „Eltern aus Deutschland wenden sich an uns, wenn sie über die Ferien in der Türkei sind“, berichtet der Leiter eines neurologisch-psychiatrischen Zentrums für Kinder und Jugendliche. Die Eltern suchen Rat, weil ihre Kinder Hilfe brauchen.
Sie sind hyperaktiv oder leiden an Aufmerksamkeitsdefiziten, sie haben Schwierigkeiten mit dem Lernen in der Schule und im Umgang mit Menschen. „Warum“, so fragen deutsche Lehrer und Sozialarbeiter, „finden die türkischen Jungen in Deutschland nur so schwer Zugang zu Hilfe? Spielen Tabus oder Scham eine Rolle, fehlt den Eltern das Problembewusstsein, sind sie uneinsichtig, oder liegt es an den Einrichtungen, sind die Angebote nicht kultursensibel, müssten sie andere Wege gehen, um auch türkischstämmige Familien zu erreichen?“ In Istanbul bekamen die Deutschen erste Antworten. Eine Gruppe von Fachkräften aus Nordrhein-Westfalen, Hessen und Berlin besuchte das erste deutsch-türkische Sozialforum „Inklusion International“ in Istanbul und lernte während des einwöchigen Aufenthalts auch zahlreiche Einrichtungen aus der Behindertenarbeit kennen.
In den Schulferien wächst die Zahl der Anfragen Die Beobachtung von Dr. Bora Kücükyazici, der während der Schulferien vermehrt Anfragen von Auslandstürken erhält, legt die Vermutung nahe, dass Misstrauen und Skepsis gegenüber den deutschen Institutionen vorliegen und auch Sprachprobleme eine Hürde darstellen. Dass dies aber mitnichten nur ein Problem von Familien mit Migrationshintergrund in Deutschland ist, weiß auch Kücükyazici. Der Psychologe berichtet zugleich von einer verbreiteten Zurückhaltung auch der Istanbuler Eltern, für ihre Kinder eine Diagnose erstellen zu lassen. „Sie kommen erst zu uns, wenn es schlechte Noten gibt“, sagt der Arzt.
Sein Zentrum ist eine private Einrichtung. Das bedeutet, dass Diagnose und Therapie privat zu finanzieren sind. Zu den Patienten gehören daher zumeist Kinder aus wohl situierten Verhältnissen. Falls deren Eltern einsichtig sind, können sie ihren Kindern die notwendige Hilfe zuteil werden lassen. In den benachteiligten Schichten, die sich private Behandlungen nicht leisten können, sieht die Lage düsterer aus. Das staatliche Sozialsystem bietet nicht ausreichend Unterstützung. Das Problembewusstsein ist noch wenig ausgebildet, Therapiemöglichkeiten sind rar.
Die verschiedenen Einrichtungen, die auf dem Besuchsprogramm der Fachkräftegruppe aus Deutschland standen, stellten ihre Konzepte vor und tauschten sich mit den Gästen über fachliche und gesellschaftliche Bedingungen ihrer Arbeit aus. Im Zentrum standen die Krankheitsbilder ADHS und ADS. Das erste, eine neurobiologische Erkrankung mit erheblichen sozialen Auswirkungen, steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. ADS wird umgangssprachlich oftmals für den unaufmerksamen Subtyp verwendet und steht in der Langfassung für Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder –störung.
ADHS und ADS – „Modeerscheinungen“?
ADHS und ADS als „Modeerscheinungen“ kamen bei der Istanbuler Tagung ebenso zur Sprache wie die umstrittene medikamentöse Behandlung und die negativen Folgen, mit denen Kinder ihr Leben lang zu kämpfen haben, wenn sie erst den „Stempel behindert“ tragen.
Verbreiten sich Erkrankungen wie ADHS und ADS zunehmend durch gesellschaftliche Veränderungen, sind die Kinder von der wachsenden Reizüberflutung überfordert, scheitern sie an den Verhältnissen, oder rückt ein „Zappelphilipp“ heute nur in ein anderes Wahrnehmungsschema, wird zu rasch das entsprechende Etikett aufgedrückt, Retalin verordnet, ruhig gestellt?
Beides trifft zu. Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität sind schwer zu diagnostizieren, lassen sich aber als Erkrankung des Gehirns nachweisen. Genetische Defekte sind eine nachweisbare Ursache. Doch nicht jeder lernbehinderte oder unruhige Junge mit Konzentrationsschwierigkeiten ist an ADHS erkrankt. Die häufige Fehlannahme ist eine Zeiterscheinung, ausgelöst durch mangelnde Kenntnisse und fehlende Differenzierung bei der Diagnose.
Zugleich verschärfen die veränderten Lebensumstände die Problematik. Die hohe Dichte an Reizen, die den Kindern Aufmerksamkeit abfordern, macht kranken Kindern das Leben umso schwerer. Die Bedingungen in den Schulen – große Klassen, wenig Personal – sind nicht dazu angetan, ausgleichend und fördernd auf die Kinder einzugehen. Die Familien sind häufig überfordert, die Krankheit überhaupt zu erkennen, geschweige denn, damit umzugehen.
Wenig Mitwirkungsbereitschaft bei den Eltern
Die Therapie bezieht daher zunehmend auch die Eltern mit ein. Die türkischen wie die deutschen Experten stimmten darin überein, dass ohne diesen erweiterten Ansatz auch den Kindern nicht optimal geholfen werden könne. Stress, Überlastung und auch Scham und Schuldgefühle drücken oftmals die Erziehungsberechtigten, so dass sie zu einer Unterstützung ihres Kindes nicht in der Lage sind und sogar zur Verschlimmerung der Krankheit beitragen.
Mediziner, Psychologen und Lehrer beklagen übereinstimmend sowohl für Deutschland als auch für die Türkei, dass Eltern wenig Mitwirkungsbereitschaft zeigen, sich häufig verweigern und auch die nötig erachteten Maßnahmen blockieren. In beiden Ländern unterliegt das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom nach wie vor einem Tabu. Kulturelle und religiöse Prägungen lassen es unterschiedlich hartnäckig erscheinen.
Ein Sohn ist immer der Prinz
Die traditionelle Rolle des Sohnes in der türkischen Familie wirkt sich aus. „Ein Junge ist der Prinz“, heißt es und bedeutet: Bei ihm lassen die Eltern mehr Nachsicht walten als bei Töchtern. Über Aggressionen und fehlende soziale Kompetenzen wird eher hinweggesehen. Dass Konzentrations- oder Lernschwächen bei einem Jungen krankheitsbedingt sein können, wollen Eltern nicht wahrhaben, oder aber sie verstehen die Krankheit als auferlegte Glaubensprüfung, die anzunehmen und zu erdulden sei. Auch das hält viele davon ab, ihren Kindern medizinische Versorgung zukommen zu lassen.
Die traditionelle Wahrnehmung von Behinderung in der türkischen Gesellschaft geht auf derartige religiöse Überzeugungen zurück. Das kommt nicht zuletzt in der Sprache zum Ausdruck. Im Türkischen werden Menschen mit Behinderungen als Engeli, also als Engel bezeichnet. Sie gelten daher zwar als besonders schutzwürdig, aber eine professionelle medizinische, psychologische und sozialpädagogische Unterstützung ziehen die Eltern vielfach gar nicht in Betracht.
Die Debatte über die Inklusion, wie sie von den Vereinten Nationen angestoßen inzwischen auch in Deutschland breit geführt wird, steckt auch in der Behindertenarbeit in der Türkei noch in den Anfängen. Nach UN-Definition wird Inklusion verstanden als allgemeinpädagogischer Ansatz, der auf der Basis von Bürgerrechten argumentiert, sich gegen jede gesellschaftliche Marginalisierung wendet und somit allen Menschen das gleiche volle Recht auf individuelle Entwicklung und soziale Teilhabe ungeachtet ihrer persönlichen Unterstützungsbedürfnisse zusichert. Für den Bildungsbereich bedeutet dies einen uneingeschränkten Zugang und die unbedingte Zugehörigkeit zu allgemeinen Kindergärten und Schulen des sozialen Umfeldes. Jeder Mensch wird also als selbstverständliches Mitglied der Gemeinschaft anerkannt.
Am Ende gilt das Argument der Einspareffekte In den Experten-Gesprächen in Istanbul trat eine verbreitete Skepsis über die in Deutschland forcierte schulische Inklusion nicht nur körperlich, sondern auch geistig behinderter Kinder zu Tage. Der gemeinsame Unterricht mit nicht behinderten Kindern biete zwar Chancen, miteinander und gegenseitig voneinander zu lernen. Unter dem Etikett der Eingliederung in die Regelschulen würden aber vor allem Einspareffekte angestrebt, warnen Pädagogen. Die Förderschulen mit ihren kleinen Klassen und dem höheren Personaleinsatz böten für lernbehinderte Kinder besser geeignete Bedingungen, würden aber mit fortschreitender Inklusion zurückgedrängt und, so befürchten es die Experten, schließlich völlig abgewickelt.
Der Taksim – ein Synonym für Demokratie
Bis vor wenigen Wochen war der Taksimplatz in Istanbul noch chronisch verstopft vom Verkehr. Nun sind die jahrelangen Bauarbeiten beendet, und der gesamte Verkehr fließt unter der Erde. Sogar eine Seilbahn läuft unterirdisch, und oben auf dem weiten Platz tummeln sich die Tauben.
Demonstranten haben den Taksim entdeckt. Regelmäßig tragen sie ihre Anliegen auf die Straße, gegen Massenentlassungen, gegen Sozialabbau, gegen die fortschreitende Islamisierung des gesellschaftlichen Lebens. In den Seitenstraßen stehen rund um die Uhr Wasserwerfer bereit. In Mannschaftsbussen fahren schwarz gekleidete, schwer bewaffnete Sicherheitskräfte auf, selbst als gerade einmal drei Dutzend Demonstranten mit ihren Transparenten friedlich in der mittäglichen Herbstsonne stehen.
Die heftigen Proteste auf dem Taksim – und in der Folge in weiteren türkischen Großstädten – hatten im Frühjahr 2013 begonnen. Vor allem die Mittelschicht geht seither für mehr Demokratie und gegen die konservative Wende der AKP-Regierung unter Premierminister Recep Tayyip Erdogan auf die Straße.
Durch die türkische Bevölkerung geht ein Riss. Die Regierung ist alarmiert, seit sich an den Plänen zur Errichtung eines Einkaufszentrums breiter Protest entzündet hat. In der Gezi-Park-Bewegung bündelt sich der Unmut der Bevölkerung und wächst sich zu einer politischen Oppositionskraft aus. Mit brachialer Gewalt geht der Staat gegen seine Gegner vor; zugleich mobilisiert die Regierungspartei AKP ihre Anhänger und lässt sie Flagge zeigen für den Ministerpräsidenten. Die Konfrontation spitzt sich zu. Durch die türkische Bevölkerung geht ein Riss.
Gleichzeitig mit den innenpolitischen Verwerfungen sinkt der Einfluss der Türkei in der Region. Hatte das Land während des Arabischen Frühlings die Chance, zu einer Regionalmacht im Nahen Osten aufzusteigen, steht es nun aufgrund des Krieges im Nachbarland Syrien und der Schwächung der Muslimbrüder in Ägypten vor einem außenpolitischen Scherbenhaufen. Nicht wenige fragen sich, ob die Proteste aus der Mitte der Bevölkerung für eine Zäsur in der Entwicklung des Landes stehen.
Die zunehmend unverhohlen verordneten religiösen Akzente in Schulen, Universitäten, im Sozialwesen und in der Öffentlichkeit spalten das Land. Das soziale Engagement der AKP verschafft der Regierung große Popularität bei den einfachen und benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Die gebildeteren Türken sehen die Entwicklung mit wachsendem Argwohn. Demokratie und Menschenrechte sind in Gefahr; die Beschneidung von Meinungs-, Glaubens- und Versammlungsfreiheit bedroht den Fortschritt. Die schleichende Demontage von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk weckt schlimmste Befürchtungen.
Regierung Erdogan wendet sich von Atatürk ab Zwar werden die auf Atatürk zurückgehenden Prinzipien des Kemalismus offiziell weiterhin hochgehalten. Einer ihrer Schwerpunkte hingegen, der seit den 1920er Jahren geltende Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion, wird von der AKP zunehmend ausgehöhlt.
So ist – als Höhepunkt eines 2008 begonnenen schleichenden Prozesses – seit diesem Herbst Frauen das Tragen von Kopftüchern in staatlichen Behörden nicht mehr verboten. Alle öffentlich Bediensteten wie Beamtinnen und Lehrerinnen, aber auch Schülerinnen und Studentinnen waren zuvor von dieser Regelung betroffen. Erst jüngst wurde auch das Kopftuchverbot im Parlament aufgehoben: Vier Politikerinnen der Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Erdogan erschienen mit islamischen Kopftüchern im Plenum.
Bei den Istanbuler Begegnungen der deutschen Delegation waren die politischen Entwicklungen in der Türkei immer wieder ein Thema. Teils überraschend offen, teils in Andeutungen berichteten die Gesprächspartner von ihren Eindrücken. Deutlich erkennbar wurde dabei, dass sich unabhängige Organisationen gegenüber den regierungsnahen zurückgesetzt fühlen. Private Initiativen kämpfen um Anerkennung und Unterstützung, die den anderen ganz offensichtlich reichlich zuteil werden.
Stadt am Bosporus erlebt einen Trend zur Islamisierung Regelrechte Paläste sind für unterschiedliche Zielgruppen entstanden, auch für Behinderte. Die örtliche Politik nennt die großzügigen Häuser nicht nur „Sarayi“ (Palast), sondern stattet sie auch entsprechend aus. So erfahren lange vernachlässigte Minderheiten eine neue Wertschätzung in der Gesellschaft; doch Kritiker sind skeptisch, weil sie die Absicht der AKP dahinter sehen: Die Durchdringung des Alltags mit strengen Religionsvorschriften.
Gerade in der Metropole Istanbul prallen die Gegensätze heftig aufeinander. Die Stadt am Bosporus, die eine Brücke von Europa nach Asien darstellt und traditionell als weltoffen und fortschrittlich galt, erlebt erkennbar einen Trend zur Islamisierung. Kopftuchträgerinnen, die noch vor einem Jahrzehnt die Ausnahme waren, prägen heute das Bild der Frau in der Öffentlichkeit.
Die Reformer setzen auf Europa
In den Diskussionen der Istanbul-Reisenden herrschte weitgehend Übereinstimmung darin, dass ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zu begrüßen wäre. Die besorgniserregende aktuelle Entwicklung wurde auch als Reaktion auf die abweisende Haltung der EU gegenüber Ankara bewertet. Die Blockade der Beitrittsverhandlungen durch die deutsche Bundesregierung habe die Türkei veranlasst, sich anderen Partnern zuzuwenden: China, den USA und der arabischen Welt.
Für demokratische Reformer und Menschenrechtler hätte eine EU-Mitgliedschaft der Türkei Rückhalt und Aufwind gebracht. Nun seien jedoch gesellschaftliche Rückschritte zu beklagen, und es gebe keine Instanz, die dem Einhalt gebieten könne. Immer wieder hören die Gäste aus Deutschland, wie wichtig die Rolle der Zivilgesellschaft in dieser Phase sei und wie groß auch die Bedeutung nachhaltiger Kontakte zu den westlichen Demokratien.
Adem Kuyumcu – Ein Aktivist für Behindertenrechte
Der Weg als Manager war Adem Kuyumcu (44) vorgezeichnet. Obwohl er das Studium der Betriebswirtschaftslehre nicht zu Ende bringen konnte, weil ihn die Universität Istanbul wegen sozialistischer Umtriebe aus den Seminaren warf, fasste er in der Wirtschaft fuß und erarbeitete sich rasche Erfolge.
Im Jahr 2008 endete der steile Aufstieg abrupt; die Wirtschaftskrise warf ihn aus der Bahn. Sein Unternehmen scheiterte, und Adem Kuyumcu besann sich auf Neues. Der Mann, dessen Vater Autist ist, dessen Bruder im Rollstuhl lebt und der selbst auf einem Auge erblindet ist, engagierte sich für die Rechte der Behinderten, arbeitete sich tief in die Materie ein, knüpfte Kontakte, baute Netzwerke auf und entwickelte sich zu einem gefragten Experten weit über die Grenzen der Türkei hinaus.
Ein Mann ohne eigene Wohnung
Unermüdlich reist er als eine Art Botschafter der Verständigung zwischen den Kulturen durch Europa. Berlin mit seiner großen türkischen Gemeinde ist ein regelmäßiges Ziel. Sein Anliegen: die Menschen erreichen, Vorurteile abbauen, Wege zu Unterstützung bahnen. Sein Instrument: reden, reden, reden.
Seine Wohnung hat Adem Kuyumcu aufgegeben. Er ist ständig unterwegs, lebt in Hotelzimmern oder übernachtet bei Freunden. Er weigert sich, Geld von staatlichen Stellen oder Parteien anzunehmen, um seine Unabhängigkeit zu wahren. Denn in seinem neuen Leben ist das Vertrauen der Menschen sein größtes Kapital.
NICO HAT ADS
Ein Erfahrungsbericht aus Witten-Herdecke Mitten in die Praxis einer ADS-Therapie in Deutschland führte der Vortrag von Michaela Kuhlmann aus Gevelsberg. Sie arbeitet als Grundschullehrerin und Therapeutin am Gemeinschaftskrankenhaus Witten-Herdecke.
Nico hat ADS. Seit Dezember 2012 hat er nicht mehr die Schule besucht, seit Anfang Juli 2013 ist er Schüler von Michaela Kuhlmann. Er ist inzwischen in einem Heim untergebracht. Sein Zustand hat sich signifikant verbessert. „Warum arbeitet Nico hier gut?“ fragt die Therapeutin und erläutert die für die ADS-Behandlung notwendigen Therapie-Bausteine des IAP-Konzepts.
Therapie-Bausteine des IAP-Konzepts
Dieses IntraActPlus-Konzept ist ein verhaltenstherapeutisch orientierter Ansatz, der bei Kindern und Jugendlichen mit Lern- und Leistungsstörungen (z.B. mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer, fehlende Anstrengungsbereitschaft und/oder Motivation), Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, Rechenschwierigkeiten, Aufmerksamkeitsstörungen ( z.B. ADHS / ADS), aggressivem Verhalten, sozialen Unsicherheiten und ängstlichem Verhalten eingesetzt wird. Zielsetzung der Behandlung nach IAP sind Steigerung der Konzentrationsfähigkeit und Lernmotivation, Aufbau von effektiven Lernstrategien, Automatisierung von Lerninhalten, Verbesserung der Interaktion in Alltagssituationen, Verbesserung der Beziehungsfähigkeit, Stärkung des Selbstbewusstseins und positives, sicheres Auftreten in Gruppensituationen.
Gutes Material ist laut Michaela Kuhlmann eine Voraussetzung für einen Therapieerfolg. Nichts Überflüssiges wird vermittelt, jede Überforderung des Schülers muss vermieden werden, es geht Schritt für Schritt voran. Der Schüler soll ein gutes Gefühl beim Lernen bekommen, wichtig sind Fremd- und Eigenlob für die erbrachten Anstrengungen.
„Aufmerksamkeitsstörungen können viele Ursachen haben“, sagt Michaela Kuhlmann. Gegenstand ihres Istanbuler Referats ist die „größte Untergruppe aller Aufmerksamkeitsstörungen“, das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS). Es tritt in zwei Erscheinungsformen auf: mit Hyperaktivität oder ohne. Im zweiten Fall wirken die Betroffenen oft müde und leiden häufig an einem zu geringem Antrieb. Hyperaktive Kinder fallen sofort auf. Müdigkeit und Antriebslosigkeit sind unauffälliger und stören deshalb weniger.
ADS wird durch zwei Größen bestimmt
Zwei Hauptsymptome haben sie gemeinsam: Schwierigkeiten im Bereich der Daueraufmerksamkeit – besonders dann, wenn die Tätigkeiten wenig motivierend sind. ADS ist immer mit zu niedrigem allgemeinem Aktivierungsniveau verbunden. ADS wird durch zwei Größen bestimmt: durch das Zusammenwirken von genetischer Besonderheit/Vererbung und durch eine gelernte Eigensteuerung.
Bei mittlerer Aktivierung ist die Lern- und Leistungsfähigkeit am höchsten, die Intelligenz ist dann am besten nutzbar. Kuhlmann: „Wir fühlen uns nur gut, wenn wir für eine bestimmte Situation ein passendes Aktivierungsniveau abrufen können.“ Bei niedriger bzw. hoher Aktivierung ist eine deutliche Verminderung der Lern- und Leistungsfähigkeit zu beobachten. Dies geht immer auch einher mit einem schlechteren, negativen Gefühl, mit Langeweile, innerer Leere, Anspannung. Die Konzentration ist deutlich schlechter, das Kind arbeitet langsamer und begreift schlechter. Die Fehler nehmen zu, die Merkfähigkeit ist herabgesetzt. Auch das hat die Therapeutin Michaela Kuhlmann bei ihrer Tätigkeit festgestellt: „Meistens wird der Gesichtsausdruck starrer und ausdrucksloser, die Schultern hängen. Gesichtsausdruck, Körperhaltung, feine und grobe Bewegungen sowie Blutdruckmessungen geben die entscheidenden Hinweise darauf, ob ein Kind über- oder unteraktiviert ist.“ Der Belohnungs- und Bestrafungsmechanismus „Die Betroffenen mit Hyperaktivität versuchen ständig – im Sinne einer Eigentherapie – ihr Aktivierungsniveau mit Hilfe hyperaktiven Verhaltens zu erhöhen. Dabei schießen sie immer wieder über ihr optimales Aktivierungsniveau hinaus, um anschließend wieder auf ein zu niedriges Aktivierungsniveau zurückzufallen. Konzentriert sich die betroffene Person sehr, erhält sie aufgrund der hohen Konzentration über sie Situation oder die Aufgabe eine bessere Stimulation.“ „Das niedrige Aktivierungsniveau beim ADS kann beim Patienten zur Ursache für einen C werden: Ist das Aktivierungsniveau niedrig, entsteht ein ungutes Gefühl, das bewusst oder unbewusst als Bestrafung empfunden wird. Steigt hingegen das Aktivierungsniveau, wirkt dies wie eine Belohnung, denn etwas Unangenehmes fällt weg.“ „Daraus entwickelt sich ein stark steuernder Belohnungs- und Bestrafungsmechanismus, ein Handlungszwang. Lerntheoretisch gesehen steckt ein Kind mit einem ADS hier in der Falle.
Es entsteht oft suchtartiges Verlangen nach problematischem Verhalten, weil dieses unmittelbar im ,Sekundenfenster’ das Aktivierungsniveau anhebt. Das wiederum verbessert kurzfristig die Situation des Kindes, führt jedoch langfristig zu einer Zunahme der Schwierigkeiten.“ Ein Problem ist die geringe Daueraufmerksamkeit der Patienten, hat Michaela Kuhlmann erkannt. Sie ist am stärksten eingeschränkt bei nicht motivierenden Tätigkeiten und dann, wenn das Aktivierungsniveau zu gering ist. Die Aufmerksamkeitsfähigkeit wird aber auch von Automatisierungsprozessen beeinflusst. Das bedeutet: „Jedes ungünstige Verhalten stellt immer auch ein Training des ungünstigen Verhaltens und der dazu gehörigen Eigensteuerung dar. Mangelnde Konzentration trainiert mangelnde Konzentration. Ein Lerninhalt, eine Situation oder eine Person können nur dann eine optimale Stimulation bewirken, wenn sie mit hoher Konzentration wahrgenommen werden.“ Was Michaela Kuhlmann hier beschreibt, wirkt wie ein Teufelskreis: „Mangelnde Konzentration führt zu einer mangelnden Stimulation. Mangelnde Stimulation führt zu einer mangelnden Konzentration. Ein normaler Erziehungsstil kann solche Prozesse nicht ausreichend unterbrechen.“ Genetische Besonderheit und gelernte Eigensteuerung ADS wird durch zwei Größen bestimmt: durch die genetische Besonderheit, die Vererbung, und durch eine gelernte Eigensteuerung. Unser Verhalten werde durch unsere Eigensteuerung gelenkt, sagt Kuhlmann; Bereiche der Eigensteuerung sind z. B. Ziele und gedankliche Selbststeuerungen.
Die Symptome, die sich aus der genetischen Besonderheit ergeben, werden durch die gelernte Eigensteuerung entweder verschlechtert oder verbessert: „Die macht Kinder entweder ,pflegeleicht’ oder ,anstrengend’.“ Die Erfahrung zeige: „Die gelernte Eigensteuerung ist in den meisten Fällen bedeutsame
Als ich Kind war, war die Versorgung und Akzeptanz für Kinder mit ADHS schlecht. Meine Eltern hatten auch nicht die Möglichkeit einer Beratung. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass das für Pädagogen oft eine Last sein kann. Hoffen wir, dass hier weiter geforscht und geholfen wird.