Für die konservative FAZ scheint die Lösung klar zu sein: „Gegen Putin hilft nur eine Jamaika-Koalition„. So der Titel des Kommentars von Konrad Schuller in dem angesehenen Blatt. Als könnte eine solche Verbindung die Probleme eher aus der Welt schaffen, eine Verbindung der Parteien von Union, Grünen und der FDP, die vor Jahren unter Kanzlerin Angela Merkel diskutiert wurde und daran scheiterte, dass der FDP-Vorsitzende Christian Lindner die bunte Verhandlungsrunde mit den Worten verließ: „Lieber nicht regieren, als schlecht regieren“. Die „Frankfurter Allgemeine“ beklagt in ihrem Meinungsbeitrag, „Russlands mörderische Eroberungspolitik ist das zentrale Problem unserer Tage. Wenn die Sozialdemokraten das nicht erkennen, ist es Zeit, sie abzulösen“. Aber stimmt es denn, dass die SPD dies nicht erkennt? Ist es nicht vielmehr so, dass Scholz und Mützenich, die beiden wichtigen Männer in der friedensbewegten ältesten deutschen Partei, eben besonnen sind, darauf bedacht, irgendwann die Karte der Diplomatie zu spielen, damit das Töten und Zerstören endlich endet?
Worüber geht eigentlich der Streit? Scholz lehnt die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern ab, weil er eine Ausweitung des russisch-ukrainischen Krieges auf das übrige europäische Territorium verhindern will. Er lehnt den Einsatz von Bodentruppen der Nato-Staaten ab, wie sie Frankreichs Präsident Macron gefordert hatte, weil er befürchtet, dass damit der Dritte Weltkrieg beginnen würde. Der vielfach kritisierte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hat den Gedanken, die kriegerischen Handlungen „einzufrieren“ in die Diskussion geworfen, weil er nach Möglichkeiten sucht, die Waffen erstmal zum Schweigen zu bringen, um dann zu sehen, was sich daraus entwickeln könnte. Beide SPD-Politiker gelten als besonnen, nicht als Waffen-Narren, die dem Glauben anhängen, mit einem Waffen-System ließe sich der Krieg entscheiden. Zugegeben, die Hoffnung auf einen Waffenstillstand ist zur Zeit mehr theoretischer Art. Russlands Präsident Wladimir Putin hält nicht die Friedenstaube in der Hand. Er ist vielmehr der Kriegstreiber, der den Befehl im Frühjahr 2022 gegeben hatte, die Ukraine zu überfallen. Ein völkerrechtswidriger Krieg, keine Frage, mit vielen brutalen Menschenrechtsverletzungen. Aber wenn sich eine Chance bietet, muss man vorbereitet sein.
Olaf Scholz hat 2022 in seiner Zeitenwende-Rede im Deutschen Bundestag der Ukraine Unterstützung zugesagt. Der Kanzler hat zudem angekündigt, für die meisten überraschend, ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro aufzulegen zur Stärkung der Bundeswehr, ferner machte er klar, dass der Wehr-Etat mindestens auf zwei Prozent des Bruttosozialprodukts angehoben werden solle, was zig weitere Milliarden Euro Kosten pro Jahr zur Folge haben wird und was jahrelang umstritten war zwischen den Parteien. Denn die Ausweitung des Militär-Etats müsste dann zu Kürzungen in anderen Bereichen führen, z.B. im Sozialen, oder die Schuldenbremse müsste aufgeweicht werden. Was die FDP ablehnt.
Der Ruf nach mehr Waffen
Ein wichtiges Zitat des Bundeskanzlers wird seitdem immer wieder anders wiedergegeben, als er es gesagt hat: „Russland darf den Krieg nicht gewinnen.“ Das waren seine Worte, Scholz hat nicht besagt, die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren, er hat auch nicht gesagt, der Westen müsse den russischen Aggressor besiegen. Russland darf den Krieg nicht gewinnen, heißt auch, den Kreml nicht dazu verleiten lassen, nach einem möglichen Sieg über den einstigen Bruderstaat Ukraine weitere Staaten anzugreifen. Russland ist eine Weltmacht, mit Atomwaffen ausgerüstet, es ist kaum vorstellbar, dass die kleine Ukraine diesen Riesen besiegt. Aber man hält dagegen, mit großem Mut und großem Einsatz. Der schnelle Sieg, von Putin erhofft, passierte nicht, dagegen gibt es auf beiden Seiten schwere Verluste, Tausende und Abertausende von Toten. Deutschland hilft der bedrängten Ukraine seit Jahr und Tag, wir liefern militärisches Gerät, darunter die Leo-Panzer, innerhalb der NATO leisten die Deutschen nach den USA das meiste, weit mehr als Frankreich. Millionen Ukrainer sind in den Westen geflohen, auch nach Berlin, Hamburg, Bonn, München und Dresden, um nur einige Städte zu erwähnen. Ukrainer beziehen Geld-Hilfe, ihre Kinder besuchen deutsche Schulen und Kitas, Ukrainer gehen hier zur Arbeit. Und doch wird viel Kritik geübt, es sei nicht ausreichend, was wir täten, vor allem der Ruf nach mehr Waffen hört nicht auf.
Es stimmt, dass der Bundeskanzler mancher Waffenhilfe erst nach reiflicher Überlegung zugestimmt hat, so war das mit dem Leopard-2-Panzer. Die Union wirft Scholz Zögerlichkeit vor, er schade mit seiner Zauderei dem Ruf des Landes. Was Unsinn ist. Dass der SPD-Regierungschef immer wieder betont, dass er sich vor allem mit Amerika abstimme, mit US-Präsident Biden, nimmt die Opposition zur Kenntnis, es reicht ihr nicht. Sie meint zudem zu erkennen, dass die Ampel-Koalition innerlich zerbrochen sei wegen der Politik des Kanzlers, dass selbst seine eigene Partei, die SPD, ihm nur noch widerwillig folge. Quasi mit der Faust in der Tasche. Es gibt Stimmen in der FDP, in den Reihen der Grünen wie der SPD, die am liebsten jedem Waffen-Wunsch aus Kiew sofort nachgeben würden. Schließlich werde in der Ukraine auch der übrige Westen verteidigt, auch Deutschland, heißt es. Aber die Koalition ist daran bisher nicht gescheitert, ihr Fehler ist der mangelnde Zusammenhalt, dass sie dauernd streitet, dass sie nicht erkennt, dass sie nur gemeinsam gewinnen kann. Wenn aber jeder gegen jeden kämpft und nur seinen Vorteil sucht, werden alle verlieren. Deshalb das Tief in den Umfragen.
Der Friedenskanzler im Wahlkampf
Jetzt haben angesehene Historiker, darunter der renommierte Professor Heinrich August Winkler, ein Sozialdemokrat, dessen mächtiges Werk „Geschichte des Westens“ auf meinem Schreibtisch steht, der SPD-geführten Regierung, namentlich auch Scholz, „hochgefährliche Realitätsverweigerung“ vorgeworfen. In einem Brief an die SPD-Führung bezeichnen sie die Argumentation von Kanzler und Partei als „immer wieder willkürlich, erratisch und nicht selten faktisch falsch“. Und sie kritisieren die zuweilen unzureichende Abstimmung mit den Verbündeten. Sie tun das, weil sie unterstellen, dass der eigentliche Gewinner des Streits Russlands Putin ist. Weil der das alles als Zeichen der Schwäche sehe. Dass Scholz und Co auch das Sicherheitsgefühl der Deutschen bedienen, gerade mit Blick auf die anstehenden Wahlkämpfe, wird eingeräumt. An anderer Stelle war schon mal zu hören, dass die Union einen Friedenskanzler Scholz durchaus fürchte. Wie gesagt, Winkler ist ein hoch angesehener Historiker, hier versucht er sich als politischer Publizist. Seine Analyse ist ziemlich einseitig. Wobei einzuräumen ist, dass Winkler ab 2014 auch zur Ukraine-Politik Merkels auf Abstand ging. Aber wer Putins Krieg kritisiert, zu Recht, darf nicht die Osterweiterung der Nato außer acht lassen, sollte nicht vergessen, dass der Westen die Interessen Moskaus völlig ignorierte.
Natürlich ist nicht zu bestreiten, dass die Debatte über Krieg und Frieden auch innerhalb der SPD geführt wird. Das wäre ja auch schlimm, wenn das die Partei des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt wenig anginge. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hört nicht auf, neben den Waffen-Hilfen für die Ukraine immer wieder auch auf die Notwendigkeit der Diplomatie hinzuweisen. SPD-Parteichef Lars Klingbeil hat die zwei Seiten der Medaille erwähnt: Diplomatie und militärische Stärke. Früher nannte man das Abschreckung. Dass die aktuelle Bundeswehr immer noch nicht den Anforderungen militärischer Stärke entspricht, dass sie potentielle Gegner das Fürchten lehren würde, ist aber nicht der SPD anzulasten. Angela Merkel, die CDU-Chefin, regierte 16 Jahre das Land, sie setzte die Wehrpflicht außer Kraft, es waren CSU- und CDU-Bundesverteidigungsministerinnen und -minister, unter deren Führung die Bundeswehr zu dem wurde oder besser verkam, was sie bei Regierungsübernahme durch die Ampel und Olaf Scholz war. Diese Mängel, höflich formuliert, in wenigen Jahren auszuräumen, ist unmöglich. Es wird Jahre dauern, bis die Verteidigungstüchtigkeit der Wehr wieder hergestellt worden ist.
Das mit dem Friedenskanzler empfinde ich beinahe als Kompliment, auch wenn es so nicht gemeint ist. Merkwürdig ist, dass hier auch versucht wird, die Entspannungspolitik von Egon Bahr zu demontieren. „Wandel durch Annäherung“ war damals von Bahr formuliert worden, 1963 in Tutzing. Er war West-Berlins Senatspressesprecher, Regierender Bürgermeister der Stadt war Willy Brandt. Und Bahr spitzte die Ausführungen seines Chefs, mit dem er befreundet war, zu. So entstand eine neue „Ost- und Deutschlandpolitik als Teil-Element einer neuartigen Entspannungspolitik der westlichen Allianz“. So haben es Heidemarie Wieczorek-Zeul, Peter Brandt, der Sohn des Kanzlers, und Götz Neuneck in einem Beitrag für „Telepolis“ aufgeschrieben als Replik auf Winkler. Die Autoren erinnern daran, dass Winkler schon einmal in einem Text für die FAZ im Juli 2023 versucht habe, unter dem Titel „Der Tabubruch von Tutzing“ eine neue Diskussion über Bahr zu entfachen, der am 19. August 2015 gestorben war. Anders als Winkler habe Henry Kissinger Bahrs Verhandlungsgeschick gelobt wie seine konzeptionellen Fähigkeiten und großen politischen Erfolge. Kern der Entspannungspolitik Bahrs, so Wieczorek-Zeul, Brandt und Neuneck, sei es gewesen, Erleichterungen für die Menschen im anderen Teil Deutschlands zu erreichen und die Bedingungen für die deutsche Einheit zu verbessern. Kohls Sicherheitsberater Horst Teltschik hat Bahrs Verdienste um die Einheit sehr wohl gewürdigt. Zur Information: Schon im Juni 2023 hatte der Willy-Brandt-Kreis zu den Implikationen des Ukraine-Krieges klar Stellung bezogen.
Russlandpolitik aufarbeiten
Winkler fordert die SPD auf, ihre Russlandpolitik aufzuarbeiten. Warum er dabei die Christdemokraten ausspart und die FDP, bleibt das Geheimnis des Historikers. Überhaupt, so das Fazit der Autoren um Peter Brandt, die für den Vorstand des Willy-Brandt-Kreises zeichnen , „posthum Egon Bahrs Denken verantwortlich zu machen für die heutigen Probleme, ist eine revidierende, einseitige Geschichtspolitik, die wir ablehnen.“ Über die Gründe für den Brief der Historiker an die SPD, der ja nicht ohne ist, habe ich Experten aus der Partei befragt. Sie wiesen daraufhin, dass eine Reihe von Historikern seinerzeit irritiert waren, als die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles 2018 quasi handstreichartig die angesehene „Historische Kommission“ der Partei auflöste und geschichtliche Fragen direkt dem Parteivorstand unterstellte. Ob es sich um finanzielle Einsparungen handelte? Berichten zufolge kostete die HIKO, einst 1981 von Willy Brandt ins Leben gerufen, im Jahr rund 20000 DM.
Zurück zu Olaf Scholz. In einer Video-Rede zu Ostern versicherte der Kanzler, die Ukraine weiter zu unterstützen, „entschlossen und besonnen“. Zugleich warnte Scholz vor einer Sehnsucht nach Frieden um jeden Preis. „Frieden ohne Freiheit heißt Unterdrückung. Frieden ohne Gerechtigkeit gibt es nicht“. Deshalb „unterstützen wir die Ukraine in ihrem Kampf für einen gerechten Frieden- solange, wie das nötig ist. Wir tun das auch für uns, für unsere Sicherheit.“ Russland habe das zentrale Prinzip gebrochen, dass Grenzen nicht mit Gewalt verschoben werden dürften. „Aber wir haben es in der Hand, diesem Prinzip wieder Geltung zu verschaffen. Diesem Ziel diene auch, dass Deutschland mehr in die Sicherheit investiere.
Das Thema Ukraine bleibt aktuell, gerade auch im Wahlkampf. Erinnert sei an 2002, als Kanzler Gerhard Schröder(SPD) dem US-Präsidenten George W. Bush die Stirn bot und eine Beteiligung am Irak-Krieg unter Führung der Amerikaner ablehnte. Die deutsche Oppositionschefin Angela Merkel(CDU) hingegen betonte in einem Gastbeitrag für die „Washington Post“: „Herr Schröder spricht nicht für alle Deutschen.“ Schröder gewann die Wahl hauchdünn gegen Edmund Stoiber(CSU) auch wegen Schröders klarer Ablehnung des Krieges. Zugegeben, die Zeiten sind andere, der Krieg Russlands gegen die Ukraine findet auf europäischem Boden statt. Aber der Krieg beschäftigt die Menschen, es geht um die Existenz der Ukraine, es geht darum, den Aggressor Putin zu stoppen, die militärische Unterstützung der Ukraine muss weitergehen. Das wird nicht einfach sein, weil sich Kriegsmüdigkeit abzeichnet. Auch in Deutschland. Ein schmaler Grat, wie es der Kommentator des Bonner Generalanzeigers, Holger Möhle, bezeichnet hat. Aber nicht nur für Scholz und die SPD, das Thema Krieg und Frieden geht alle an.