Auch Staatsanwälte können kriminell werden. Das ist eigentlich eine Plattitüde, jedoch nicht unbedeutend. Das zeigt der Fall eines Staatsanwalts, der seinen Sohn sexuell missbraucht haben soll. Am 18. Februar 2024 erschien im „Tagesspiegel“ ein kritischer Kommentar zum Urteil des Landgerichts Lübeck, das diesen Fall verhandelt hatte. Die provokante Überschrift lautete: „Urteil im Sexsomnia-Prozess: Kann es sein, dass Staatsanwälte schlafwandeln?“
Der Kolumnist geht mit der zuständigen Staatsanwaltschaft hart ins Gericht. Denn die hatte sich zunächst gegen eine Anklageerhebung entschlossen und in der Hauptverhandlung dann auf Freispruch plädiert.
Dazu muss man zunächst sagen: Ein kritischer Blick auf Strafverfahren ist richtig und gut. Schließlich werden Urteile im Namen des Volkes gesprochen. Zudem dient das Strafrecht dem Staat auch als Machtinstrument. Insofern ist eine kritische Prüfung durchaus berechtigt.
Allerdings stimmen einige Zeilen im Beitrag nachdenklich:
„Es gibt wohl nur wenig gültige Wahrheit im Lübecker Verfahren gegen einen Mann, der sich an seinem Sohn vergriff. Eine ist: Strafverfolger müssen aufpassen, wenn Kollegen verdächtig sind.“
An anderer Stelle liest man:
„Es muss nicht, es kann mit dem Beruf des Angeklagten zu tun haben. Er war selbst als Staatsanwalt tätig. Wie wäre man mit ihm umgegangen, wäre er Busfahrer oder Zahnarzt?“
Schließlich heißt es dort:
„Es kann sein, dass die Ermittler selbst schlafwandelten, als sie ihren Ex-Kollegen verschonten. Ohne Absicht, aber in innerer Verbrüderung, die sich aus Nähe in Beruf und Alltagserleben ergibt. Kein Vorwurf, aber eine Mahnung, bei beschuldigten Kollegen besonders aufzupassen. Andererseits: Vielleicht war auch das Urteil falsch. Die Verteidiger wollen in die Revision.“
Was will uns der Verfasser damit sagen? Explizit ziemlich wenig, außer vielleicht, dass es – wie so oft in einem Strafverfahren – unterschiedliche Standpunkte zum Geschehen gibt. Und dass deshalb mit einer Revisionsentscheidung zu rechnen ist.
Botschaft zwischen den Zeilen
Interessanter ist allerdings, was zwischen den Zeilen anklingt. Da ist jede Menge kritischer Unterton. Vor allem zwei Tatsachen scheinen dem Kolumnisten nicht zu schmecken: erstens, dass die Staatsanwaltschaft einen Beschuldigten, der von Beruf Staatsanwalt war, nicht angeklagt hat, und zweitens, dass die Staatsanwaltschaft – nach erfolgreich durchgeführtem Klageerzwingungsverfahren – in der Hauptverhandlung auf Freispruch plädiert hat.
Der Verfasser platziert deshalb Warnhinweise in seinem Text: „Strafverfolger müssen aufpassen, wenn Kollegen verdächtig sind“ und „Kein Vorwurf, aber eine Mahnung, bei beschuldigten Kollegen besonders aufzupassen“.
Deutlich wird noch etwas in der Kolumne. Der Verfasser hat, soweit ersichtlich, keine Aktenkenntnis. Hinzu kommt, dass auch die schriftlichen Urteilsgründe zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Beitrags noch nicht vorlagen. Das ist weder schlimm noch ungewöhnlich. Schwächt allerdings seine Position. Denn so ist es kaum möglich, einen strafrechtlichen Fall sinnvoll zu beurteilen.
Der Kolumnist tut es trotzdem. Und zwar auf eine Weise, die verstörende Ähnlichkeit zur bekannten Propaganda-Strategie: „Ich stelle nur Fragen“ aufweist. Bestes Beispiel: „Wie wäre man mit ihm umgegangen, wäre er Busfahrer oder Zahnarzt?“
Auch stellt er – entgegen der eigenen Bekundung „Kein Vorwurf, aber eine Mahnung“ – kurzerhand den Vorwurf in den Raum, die Staatsanwaltschaft würde bei den eigenen Kollegen nicht so genau hinschauen. Er schreibt konkret: „die Ermittler selbst schlafwandelten“, und liefert für diesen Verdacht keine Belege. Er geht noch weiter und behauptet – ebenfalls ohne Beleg – sie würden den Mann schonen: „als sie ihren Ex-Kollegen verschonten“.
Das ist ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt. Aber behaupten kann man ja alles. Das Gegenteil übrigens auch.
Bildquelle: Wikipedia, User Waugsberg, CC BY-SA 2.0