Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Truppen das Vernichtungslager Auschwitz. 80 Jahre später stehen wir noch immer fassungslos vor dem von der NS-Ideologie verursachten unermesslichen Leid und Grauen, das sich nicht nur dort, sondern an zahlreichen Orten in Deutschland und den besetzten und annektieren Ländern abgespielt hat. Angesichts der nur noch wenigen Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager wird heute zunehmend diskutiert, wie die Erinnerung daran wachgehalten werden kann. Das vermehrte Aufkommen rechtspopulistischer und rechtsradikaler Parteien insbesondere in Europa unterstreicht die Notwendigkeit, nicht nur in den Gedenkstätten selbst, sondern vor allem im allgemeinen Bewusstsein immer wieder an dieses dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte zu erinnern. Deshalb wird es dringend Zeit, dass sich Politik und Gesellschaft mit dieser Frage intensiver als bisher beschäftigen.
Wie vielschichtig diese Aufgabe allerdings ist, bringt der Historiker Hanno Sowade, der im Haus der Geschichte in Bonn die noch bis Anfang 2026 dauernde, sehenswerte Ausstellung „Nach Hitler“ kuratiert hat, anschaulich auf den Punkt. Er spricht von vier Generationen, für die jeweils ganz unterschiedliche Herangehensweisen gefunden werden müssten: die damaligen Handlungsträger, die nach dem Krieg vergessen wollten, deren Kinder, die Aufklärung forderten, die Enkelgeneration, die erinnern will, – und die vierte Generation: „Das Besondere an dieser vierten Generation ist, dass sie einen sehr großen Anteil von Personen mit Migrationshintergrund hat“, sagt Sowade. Der Nationalsozialismus sei nicht unbedingt Teil ihrer Familiengeschichte. „Wir müssen neue Wege der Auseinandersetzung finden.“
Schon ohne letzteren Aspekt wäre das alles schwierig genug. Natürlich sind Schule und Hochschule – Stichwort Lehrerausbildung – gefordert, und auch in der politischen Bildung hapert es offensichtlich. Wie jüngste Erhebungen belegen, ist insbesondere das Unwissen über Schoa und Holocaust groß, über die Katastrophe der Judenverfolgung 1933-1945 und den nationalsozialistischen Völkermord an mehr als 6 Millionen europäischer Juden während des Zweiten Weltkriegs. Aber es gibt ein Projekt, mit dem seit den 1990er Jahren an das Schicksal zahlloser Opfer des ideologischen Wahns der Nationalsozialisten erinnert wird, nicht nur der jüdischen Opfer. Das ist das Projekt „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig, bei dem in der Regel im Boden auf dem Gehweg vor Wohnhäusern kleine Gedenktafeln aus Messing angebracht werden, über die man nicht im wörtlichen Sinn, aber zumindest gedanklich und emotional stolpern soll. Mittlerweile hat Demnig einhundertsechzehntausend derartige Stolpersteine in 32 Ländern verlegt. Sie gelten mittlerweile als das größte dezentrale Mahnmal der Welt.
Sind es normalerweise Wohnhäuser, aus denen die Menschen abtransportiert wurden, so gibt es mittlerweile aber auch Adressen von Einrichtungen wie beispielsweise psychiatrischen Anstalten, vor denen an das Schicksal der verfolgten, deportierten, ermordeten oder in den Selbstmord getriebenen Opfer des NS-Rassenwahns erinnert wird. Aus zwei dieser konfessionell getragenen Anstalten in Neuss, nämlich dem St.Josef-Krankenhaus der Augustinerinnen und der benachbarten Heil- und Pflegeanstalt des Ordens der Alexianer wurden im Rahmen der systematischen Krankenmorde während der sogenannten „Aktion T4“ sechs jüdische Patienten abtransportiert. Dieser Aktion fielen zwischen November 1940 und August 1941 über 70 Tausend Menschen mit geistigen, seelischen und körperlichen Behinderungen zum Opfer. Zwischen dem 11. und 13. Februar 1941 mussten alle zu dieser Zeit noch in den einzelnen psychiatrischen Anstalten einschließlich der Privatanstalten in den Regierungsbezirken Düsseldorf und Aachen untergebrachten Juden nach Düsseldorf-Grafenberg verlegt und von dort am 14. Februar 1941 weitergeschickt werden in eine der sechs über das gesamte Reichsgebiet verteilten „Tötungsanstalten“, wo sie umgebracht wurden, in diesem Fall in Hadamar in Hessen.
Eines der Opfer dieser Aktion war Moritz Heilbronn, an den seit längerem ein Stolperstein vor dessen ehemaligem Wohnhaus in der Kaiserswerther Straße in Düsseldorf erinnert. Am 24. Januar 2025 hat Gunter Demnig an vier Stellen in Neuss weitere Stolpersteine verlegt. Das besondere dabei: Einer der Stolpersteine befindet sich auf dem Gehweg vor dem vormaligen Eingang der Heil- und Pflegeanstalt St. Josef an der heutigen Augustinusstraße. Er erinnert an Karoline Wolf (geb. 1892) aus Mülheim an der Ruhr, die seit dem 24. August 1936 als Patientin in der Anstalt gewesen war. Zusammen mit drei weiteren jüdischen Kranken, an die zukünftig, so ist zu hoffen, mit weiteren Stolpersteinen erinnert werden sollte, wurde sie am 12. Februar 1941 von hier aus in den Tod geschickt.
Es ist eine traurige Tatsache, dass wir über die Patienten in den Anstalten in Neuss nur sehr wenig wissen. Ihre Krankenakten wurden ihnen nicht zuletzt aus Gründen der Verschleierung auf den Transporten mitgegeben oder später vernichtet. Wir wissen aber, dass die Mutter von Karoline Wolf bereits 1928 starb, ihr Vater 1937. Sie war also noch zu dessen Lebzeiten in die Heil- und Pflegeanstalt der Augustinerinnen gekommen, Diagnose „vorzeitige Demenz“, wie es damals hieß. Zwei ihrer Geschwister, ein Bruder und eine Schwester, waren bereits in den 1920er Jahren nach Amerika ausgewandert. Eine jüngere Schwester litt laut damaliger „Erbgesundheitskarte“ an Schizophrenie und wurde, wie auch noch eine dritte Schwester, Opfer der NS-Euthanasie-Morde.
Der Stolperstein für Karoline Wolf – nicht vor einem Wohnhaus, sondern gerade vor dem Gelände einer psychiatrischen Klinik – sollte uns an das Schicksal ihrer ganzen Familie und die Leiden der anderen Patientinnen und Patienten erinnern, die in diesen und anderen Anstalten behandelt – und von dort aus in die Gaskammern geschickt wurden. Das Stolperstein-Projekt verdient mehr als sporadische Aufmerksamkeit, nicht nur anlässlich der Verlegung weiterer Steine. An einem der vier Stellen in Neuss, an denen am 24. Januar 2025 neue Stolpersteine verlegt wurden, waren übrigens Schülerinnen und Schüler von zwei Neusser weiterführenden Schulen in Kooperation mit einer französischen Partnerschule die Paten, die es bei derartigen Verlegungen gibt. Sie hatten akribisch das Schicksal einer Familie recherchiert, an die erinnert werden sollte – ein gutes Zeichen und ein Beleg dafür, dass die oben erwähnte vierte Generation durchaus bereit ist, sich für derartiges zu interessieren und zu engagieren.