Als vor zwei Jahren Züge und Busse immer mehr Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten in die deutschen Städte brachten, galt ein Gutteil des freiwilligen Engagements dem Angebot von Sprachkursen. Je schneller die Neuankömmlinge sich äußern und verstehen können, so die Motivation, desto besser gelingt die Verständigung.
Unbürokratische Lösungen waren wichtig, da die professionellen Angebote bei weitem nicht ausreichten und lange Wartelisten aufwiesen. Zu lange zum Nichtstun verdammt zu sein, wäre aber in mehrfacher Hinsicht schädlich. Die Sprachkurse dienten als sehr frühes Angebot zum aktiven Mittun auch dazu, dem Alltag eine Struktur zu geben, regelmäßige Kontakte in der neuen Umgebung zu pflegen und Lebensmut zu schöpfen. Nach Wochen der Flucht, Entbehrungen und Ungewissheit eröffneten die Deutschstunden eine Perspektive des Ankommens.
Geeignete Räume mussten gefunden werden, Papier, Stifte, Tafeln, Kreide und viele, viele Menschen, die sich aufs Unterrichten verstanden. Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen, Ausbilder und Übungsleiter, teils noch im Beruf, teils im Ruhestand, fanden sich bereit, regelmäßige Unterrichtseinheiten zu festen Zeiten anzubieten, schon nach kurzer Zeit das Angebot für Anfänger und Fortgeschrittene zu differenzieren, und den neuen Mitbürgern den Weg in die Gemeinschaft zu ebnen.
Wie funktioniert das Einkaufen, wo erhält man was, wie sind die Öffnungszeiten, welche Buslinie fährt wohin, wie bekommt man einen Arzttermin, wo sind Schulen, Kindergärten, das Schwimmbad, Spielplätze, die Stadtbücherei? Die Sprachvermittler sind zugleich Alltagslotsen, die einen unmittelbaren Eindruck von den Hürden erhalten, die den Weltenwechsel erschweren. Die vielen lebenspraktischen Dinge, in die Einheimische selbstverständlich hineinwachsen, stellen für die Zugereisten echte Herausforderungen dar. Auch das ist ein Lernprozess.
Ohne pädagogische Ausbildung dachte ich anfangs, da gibt es Berufenere als mich, als ich im Spätsommer 2015 meine ehrenamtliche Mitarbeit anbot. Doch es wurde dringend ein Angebot zur Alphabetisierung gebraucht; einige Flüchtlinge konnten nicht lesen und schreiben, sie hatten nie eine Schule besucht und sie konnten daher in den normalen Sprachkursen nicht zurechtkommen. Das wurde also zu meiner Aufgabe, zweimal die Woche je zwei Stunden, Buchstaben und Wörter, Ziffern und Zahlen pantomimisch, mit Bildern und Melodien gemeinsam erarbeiten.
Vieles war anfangs experimentieren und ausprobieren, denn während Verlage rasch neue Unterrichtsbücher für Deutsch als Fremdsprache auf den Markt brachten, gab es zur Alphabetisierung für Fremdsprachler zunächst keine fertigen Angebote. Handgemacht, unbeholfen, improvisiert, ein Prozess des Lernens auf beiden Seiten, selbstverständlich auch über Kulturen, Bräuche und religiöses Leben im Alltag. Die Adventszeit und Weihnachten, Silvester und Karneval, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten reflektieren sich im Spiegel der anderen bewusster. Sie waren an den Hintergründen der Traditionen interessiert, die weit ins öffentliche Leben hinein prägend sind.
Mit dem Lernen ging allmählich ein Kennenlernen einher, junge Familien, alleinstehende Männer unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Lernbegabung, wohl auch unterschiedlich hinsichtlich ihres Ehrgeizes und der Disziplin, hinsichtlich ihrer Geschichten und Lebenslagen. Aus Afghanistan und Pakistan, Syrien, Irak oder Iran kommend, ließen sich die Wege ihrer Flucht auf Landkarten nachvollziehen, die genauen Umstände und individuellen Beweggründe blieben unausgesprochen.
Immer wieder gingen Teilnehmer in die regulären Sprachkurse und kamen neue Teilnehmer hinzu, oft auch solche, die alphabetisiert waren, sogar Fremdsprachen beherrschten. Sie nutzten das Angebot in der Notunterkunft dennoch, weil sie so viele Lerngelegenheiten wie möglich in Anspruch nahmen und es eine Abwechslung in ihrem tristen Alltag bedeutete. Sie dolmetschten für ihre jeweiligen Landsleute. Junge Mütter kamen, weil sie Kurse an entfernteren Orten nicht mit der Betreuung ihrer Kinder vereinbaren konnten. Kinder, die bereits zur Schule gingen, unterstützten ihre Eltern beim Lernen.
Rollen wechselten, Frauenbilder veränderten sich, Vorurteile auch. Ehemänner ermunterten ihre Frauen, zum Sprachunterricht zu gehen, Väter kümmerten sich derweil um die Kinder. In den 14 Monaten kam es im Unterricht nie zu Respektlosigkeit oder Geringschätzung gegenüber mir oder untereinander. Freundschaften entwickelten sich, es gab Einladungen zum Tee, bis heute grüßt man sich bei zufälligen Begegnungen in der Stadt und tauscht sich über die Neuigkeiten aus. Das sind persönliche Erfahrungen, die vielleicht nicht zu verallgemeinern sind. Sie bekräftigen aber, dass sowohl die ehrenamtliche Arbeit, als auch das gegenseitige Kennenlernen für beide Seiten bereichernd ist.
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