Die SPD und die Ukraine- so beginnt gestern-7.3.- in fetten Lettern die Seite-2-Berichterstattung der angesehenen „Süddeutschen Zeitung“ über den überraschenden Kiew-Besuch durch zwei hohe Herren der SPD. Parteichef Lars Klingbeil und der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich. Die gemeinsame Fahrt der beiden in „das geschundene Land ist der symbolische Höhepunkt (der) Wende“ einer Partei, die sich früher „lange und gern als Russland-Versteher“ gesehen und bei der Unterstützung der Ukraine eher gezögert“ habe. Nach der Zeitenwende-Rede des SPD-Kanzlers aber habe Klingbeil „in aller Stille einen Kurswechsel durchgesetzt“. So SZ-Autor Georg Ismar.
Nach der Lektüre beider Geschichten(Gang nach Kiew. Der Preis des Irrtums), wurde ich den Verdacht nicht los, dass hier nicht ausgewogen berichtet, sondern eher abgerechnet werden sollte mit der Politik von Rolf Mützenich. Ich muss hinzufügen, dass ich den Kölner Sozialdemokraten Rolf Mützenich sehr schätze, auch wegen seiner ruhigen, überlegenen Art, der „Mütze“ ist keiner, der in jedes Bild drängt, keiner, der lospoltert. Seine Außenpolitik war und ist stets auf Frieden aus, nicht weil er ein Träumer wäre, sondern weil er weiß, dass Krieg tötet, zerstört, den Hass vergrößert. Ich fragte frühere Kollegen um ihre Meinung über die besagte Berichterstattung: Sie reichte von „bösartig“ bis „unfair“.
Das wird spätestens dort deutlich, wo der Autor der Zeitung den früheren ukrainischen Botschafter in Deutschland, Melnyk zitiert. Der ist gar nicht mehr zuständig, er ist Vize-Außenminister mit Sitz in Kiew und bereist gerade Länder Südamerikas. Und Melnyk hat gegen die SPD schon immer gern ausgeteilt, mal gegen Scholz, mal gegen Mützenich, der in dem Beitrag die eher versöhnliche Rolle des neuen Botschafters der Ukraine, Makejew, betont(Wir haben den Eindruck, dass der Wunsch nach Gesprächen gewachsen ist). Aber jetzt wird Melnyk in Stellung gebracht. „Für Herrn Mützenich gab es im Osten Europas nur Russland als den einzigen Player, dessen Interessen unbedingt berücksichtigt werden müssen“, so Melnyk zur SZ. Das habe „vorwiegend ideologische und realpolitische Gründe, seine Fixierung auf atomare Abrüstung.“ Er habe sein „Denken nicht verändert“, er bleibe „der größte Hemmschuh für die Zeitenwende und deutsche Waffenlieferungen für die Ukraine und werde als Bremsklotz in die Geschichte eingehen“, so Melnyk. Mützenich weist solche Anwürfe zurück, er stützt den Kurs des Kanzlers in der Frage von Waffen- und Panzerlieferungen, Melnyk ignoriert, dass der Fraktionschef die Mehrheiten für den Kanzler im Bundestag organisiert.
Wandel durch Annäherung
Es geht nicht darum, den Kurswechsel in der SPD schönzureden. Es ist auch wahr, dass die Partei Willy Brandts lange an der Strategie ihres großen Vorbilds festgehalten hat: Wandel durch Annäherung. Der Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Wer will, kann noch Gustav Heinemann hinzufügen: Der Frieden ist der Ernstfall. Und es ist richtig, dass zur Friedenspolitik Brandts und Bahrs, zu ihrer Entspannungspolitik der Rückhalt des Atlantischen Bündnisses zählte, ja, eine gewisse Politik der militärischen Stärke. Im übrigen war das eine Politik, die nahezu von allen demokratischen Parteien im Bundestag und von der Breite der deutschen Gesellschaft getragen wurde. Die deutsche Wirtschaft machte gute Geschäfte mit der UdSSR und später mit Russland, wir alle profitierten vom billigen Gas. Wer will, kann sich hier den Fußballverein Schalke 04 dazu denken. Man redete von der Friedens-Dividende. Es gab keinen Feind mehr, Russland war mehr als ein Partner, auf den man sich verließ. Und dabei überhörte man Putins Klagen über die größte Katastrophe, die er mit der Auflösung der Sowjetunion empfunden hatte. Wir sahen nicht richtig hin, als er Tschetschenien angriff und Grosny vernichtete. Ja, es gab warnende Hinweise von Osteuropäern, die vor Putins Großmannssucht warnten, seinem imperialen Drang. Es gab Presse-Berichte, die Putin ernstnahmen und schilderten, mit welcher Brutalität er die erwähnten Kriege führte.
Diese Fehler haben führende Sozialdemokraten begangen und eingeräumt. Darunter auch der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der laut und öffentlich seinen Irrtum bekannte und Präsident Putin aufforderte, von der Umklammerung der Ukraine zu lassen. Olaf Scholz hat in seiner Zeitenwende-Rede alles zu Putin gesagt, hat ihn angeklagt ob seiner Menschenrechtsverletzungen. Ich frage mich die ganze Zeit, wer früher eigentlich die Bundesrepublik regiert hat? Von 2005 bis 2021 war Angela Merkel Bundeskanzlerin und fast die ganze Zeit über CDU-Vorsitzende. In der Kanzlerschaft Merkels hießen die Verteidigungsminister Jung, Guttenberg, de Maiziere, von der Leyen und Kramp-Karrenbauer. Samt und sonders CDU und CSU. Vor Merkel regierte Gerhard Schröder(SPD) mit Joschka Fischer(Grüne) sieben Jahre die Republik. Von 1982 bis 1998 war Helmut Kohl Bundeskanzler und CDU-Chef. Kohl regierte mit der FDP.
Dass es eine Mitverantwortung der SPD in der Regierungszeit Merkels gegeben hat, ist nicht strittig. Schließlich saßen die Sozialdemokraten in 12 von 16 Merkel-Jahren mit am Kabinettstisch. Sie waren aber der Juniorpartner. Wer fragt mal nach der Rolle der CDU und CSU? Wer hat denn die Wehrpflicht außer Kraft gesetzt? Die Bundeswehr in Grund und Boden verkommen lassen? Merkel und/oder Guttenberg? Ich warte immer noch auf Erklärungen der früheren Kanzlerin, in deren Regierungszeit die engen Kontakte zu Putin nicht abrissen und die Gaspipeline Nordstream 2 genehmigt und gebaut worden war.
Fehler zugeben in der Politik- schwierig
Jede der im Bundestag vertretenen Parteien habe ihre eigene Geschichte bei diesen Themen, so Professor Ulrich Schlie, einer der führenden deutschen Sicherheitsexperten. Schlie hat Wolfgang Schäuble zugearbeitet wie dem hessischen CDU-Politiker Roland Koch und Angela Merkel. Im t-online-Interview betont Schlie: „Das Eingeständnis, Fehler in der Vergangenheit gemacht zu haben, gehört in der Politik wohl zum Schwierigsten. Das bezieht sich nicht nur auf die gerade regierende SPD, sondern auch auf die mittlerweile oppositionellen Unionsparteien.“ Man sollte in einer Enquete-Kommission die Fehler der Russlandpolitik überparteilich aufarbeiten.
Geschichte sollte zu erklären versuchen. Verklären sollte man sie nicht. So das Zitat des großen Historikers Heinrich August Winkler, ein Sozialdemokrat. Winkler kritisierte 2016-also zwei Jahre nach der Annexion der Krim durch Moskau- , dass sich in der SPD Wunschdenken statt Realismus breit gemacht habe. Und Winkler kritisierte- das alles steht auch in der SZ-Geschichte- das Verhalten der SPD in den 80er Jahren, als man der polnischen Bürgerrechtsbewegung Solidarnosc die Anerkennung verweigerte, weil man lieber mit den kommunistischen Machthabern Politik machte. Dabei hatte die SPD damals wenig zu sagen, sie war in der Opposition. Ich war als Journalist dabei, als Hans-Jochen Vogel Warschau besuchte und sich diesen Fragen der Korrespondenten stellen musste. Das war nicht einfach für ihn.
2016, schreibt die SZ, habe Mützenich gemeinsam mit seinem Fraktionskollegen Achim Post im „Vorwärts“ dem Historiker Winkler widersprochen. Man müsse mehr Dialog mit Russland wagen. Es brauche mehr Kooperation, auch für mehr Rüstungskontrolle, verbunden mit dem klaren Signal an die russische Seite, dass die Unverletzlichkeit der Grenzen unverzichtbar seien. War das nicht damals gemeinsame Haltung in Deutschlands politischen Zirkeln? Weil man hoffte, Putin einhegen zu können? Um Kriege zu vermeiden. Das erwies sich als Fehler.
Rolf Mützenich hat das letzte Woche eingeräumt bei einer beachtenswerte Rede im Bundestag aus Anlass einer Debatte: Ein Jahr Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers. „Wenn wir neue Monster aufhalten wollen, müssen wir natürlich auch Rechenschaft über das ablegen, was in der Vergangenheit war. Das tue ich auch“, sagte er. Er habe nicht die Brisanz des Referats von Putin in der Zeitschrift „Osteuropa“ erkannt, in dem er der Ukraine die eigene Staatlichkeit aberkannte, weil die Teil Russlands sei. Und dabei hatte Putin, wenn man so will, seine weiteren Kriegspläne offengelegt, auch die Zukunft der Oblaste von Donezk und Luhansk. Zugleich zeigte sich Mützenich verwundert über diejenigen in Deutschland, die angeblich immer alles gewusst hätten. „Ich habe nicht alles gewusst“, betonte der SPD-Fraktionschef. „Ich finde, diese Demut sollten auch alle anderen haben, die in den letzten Wochen und Monaten immer meinten, alles richtig zu machen.“ Soweit Mützenich im Parlament. In der SZ wird das zitiert, dann folgt der frühere Boxweltmeister Klitschko, der Klingbeil und Mützenich auf dem Maidan in Kiew begleitete. „Wenn man eigene Fehler erkennt und umdenkt, ist das okay. Was nicht okay ist, dass wir viel Zeit verloren haben.“ Klitschko habe eine 180-Grad-Wende bei der SPD konstatiert. So die SZ.
Sicherheit vor Russland
Wenn man so will, habe sich durch den russischen Angriffskrieg mit Verspätung die Linie des Historikers Winkler in der SPD durchgesetzt, so das Blatt. In einem Papier, das Klingbeils Handschrift trage, heißt es: „Das Festhalten an der Annahme, mit immer stärkeren wirtschaftlichen Verflechtungen langfristig zu einer Demokratisierung und Stabilisierung Russlands beizutragen, war ein Fehler“: Es gelte nun „Sicherheit vor Russland“ zu organisieren und nicht mit Russland. Die SPD will auf die Osteuropäer zugehen, Klingbeil reist zu einer Konferenz nach Warschau, um SPD-Chefs anderer Länder zu treffen. Deutschland soll nach dem Willen der SPD international eine Führungsrolle übernehmen.
Der Kurswechsel werde Konflikte mit sich bringen, zitiert die SZ den Wissenschaftler Wolfang Merkel. Es werde wegen der hohen Finanzmittel für die Verteidigung zu Verteilungskämpfen kommen. Das mag sein, Streit gehört zur parlamentarischen Demokratie, und Sozialpolitik war immer für die SPD eine Herzenssache. Und darüber zu streiten, was zu mehr Gerechtigkeit führen kann und zu mehr Sicherheit in Deutschland und Europa ist aller Ehren wert.