Politik kann undankbar sein: Trotz einer unbestritten soliden Regierungsleistung in der Großen Koalition – auch GroKo genannt – kommt die SPD im Bund nach allen Umfragen einfach nicht aus dem 25-Prozent-Turm heraus und sieht die Rückleuchte der Union beständig über 40 Prozent. Die SPD-Führung trägt den Frust, aber auch das geheuchelte Bedauern oder den offenen Hohn darüber, bisher mit heldenhafter Würde. Doch eine tiefe Ratlosigkeit in diesem Jammertal hat jetzt im Zusammenspiel mit einigen stets „hilfsbereiten“ Medien den stets dynamischen und überall präsenten Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz, als möglichen SPD-Kanzlerkandidaten für 2017 ins Gespräch gebracht.
Martin Schulz bleibt in Brüssel
Doch so sehr sich Martin Schulz als Spitzenkandidat im letzten Europawahlkampf bewährt hat und so kämpferisch und inhaltlich flexibel er auf dem Europaparkett auch agiert: Eine solche Europäisierung der sozialdemokratischen Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl 2017 wäre ein verheerender strategischer Fehler. Diese Verzweiflungstat würde das absurde und defätistische Signal suggerieren, dass die SPD innerhalb der sozialdemokratischen Garde bundespolitischer Akteure keine zugkräftige Kandidatin oder Kandidaten findet. Das wäre eine Selbstaufgabe bereits vor Wahlkampfbeginn und würde die SPD unter die 20 Prozentmarke drücken. Und genau deshalb wird Martin Schulz in Brüssel bleiben, wo er auch gebraucht wird.
2017 ist nicht 2013
Sigmar Gabriel dagegen kann angesichts eines respektablen Beitrags der SPD zu der von der Bevölkerung durchaus geschätzten Arbeit der Großen Koalition unmöglich ein zweites Mal selbstlos auf die sozialdemokratische Spitzenkandidatur verzichten. Er ist heute in einer ganz anderen Situation, 2017 ist nicht 2013: Gabriel ist nicht nur SPD-Parteivorsitzender, sondern als Wirtschaftsminister auch Vizekanzler der weltweit respektierten Regierung des wirtschaftlich stärksten EU-Landes. Er persönlich und kein anderer hat nach dem letzten Wahldebakel als SPD-Vorsitzender mit großem politischem Geschick nach exzellent geführten Koalitionsverhandlungen und einem auf Bundesebene avantgardistischen Basisentscheid über den Koalitionsvertrag seine Partei in die Große Koalition geführt.
Taktische Meisterleistung
Es war eine taktische Meisterleistung, wie er durch das offensive Partizipationsangebot an die Basis die tiefe Abneigung in der SPD gegen eine erneute Große Koalition überwunden und schwungvoll die berechtigten Warnungen vor einer strategischen Sackgasse aus dem Bewusstsein seiner Partei vertrieben hat. Es wäre deshalb fatal, ja ein verheerend demotivierendes Signal, wenn Gabriel der nächsten SPD-Kanzlerkandidatur ausweichen würde. Er kann sich angesichts der Verpflichtung, seiner Partei jetzt auch zu beweisen, dass der von ihm betriebene Koalitionseintritt eine erfolgreiche Perspektive für den Bundestagswahlkampf 2017 öffnet, nicht der Verantwortung entziehen. Dieses durchschlagende Argument gilt auch für die noch viel unrealistischere Variante, dass der ehrenwerte und geschätzte Frank Walter Steinmeier nach seiner Niederlage gegen Angela Merkel 2009 noch ein zweites Mal als Kanzlerkandidat ins Spiel gebracht würde.
Gabriel greift nach der Kanzlerkandidatur
Sigmar Gabriel ist selbst so realitätsbewusst und politisch instinktsicher, dass er genau weiß, dass er jetzt die SPD selbst als Kanzlerkandidat aus dem Joch der GroKo führen muss. Er wird dem Duell mit Bundeskanzlerin Merkel nicht ausweichen, weil ihm klar ist, dass er nur so den Respekt seiner Partei und der Öffentlichkeit haben kann. Jede noch so kunstvoll begründete Alternative zu diesem geraden Weg würde ihn am Ende des Wahlkampfs das Amt kosten und die SPD endgültig von einer stolzen Volkspartei zur reinen Funktionspartei unter 20 Prozent degradieren, die lediglich noch eventuell als Juniorpartner für Koalitionen engagiert wird. Daher die schlichte Prognose: Der SPD-Vorsitzende greift zur angemessenen Zeit – und das ist souverän erst 2016 sinnvoll – nach der SPD-Kanzlerkandidatur und erhält dafür das volle Vertrauen seiner Partei.
Merkel-CDU: Eine Partei mit erodierendem Unterbau
Und die Lage ist ja gar nicht so aussichtslos wie es eine auf bundespolitische Umfragewerte konzentrierte Debatte vortäuscht:
- Die Umfragewerte zur Kanzler(innen)präferenz, die Angela Merkel in traumhafter Führung vor allen personellen Alternativen sehen, sind eigentlich keine Sensation, sondern guter alter demokratischer Brauch in Jahrzehnten der deutschen Nachkriegsdemokratie.
- Es kommt ja bei der in unserer Demokratie entscheidenden Machtfrage schlicht nur auf die Stimmenanteile und Sitzanteile der Parteien im Deutschen Bundestag an: Und danach wäre schon 2013 eine Regierung jenseits von Angela Merkel mehrheitstechnisch möglich gewesen.
- Angela Merkel hat zwar als Kanzlerin einen hohen Popularitätsvorsprung und auch stabil gute Werte für die Union im Bund im Rücken. Der Unterbau ihrer Partei erodiert aber bedenklich. Die CDU verliert tendenziell bei Wahlen in Ländern und Kommunen immer stärker ihre bisherigen Gestaltungsmöglichkeiten und die frühere Bodenhaftung.
Kanzlerkandidat oder Vizekanzlerkandidat? Gabriel muss liefern!
Sigmar Gabriel hat die SPD in das gefährliche Wagnis einer Großen Koalition geführt und genau deshalb muss er jetzt als nächster Spitzenkandidat seiner Partei über 2017 hinaus eine Erfolgsperspektive in Form einer auch im Bund wieder erstarkenden SPD erkämpfen. Im flapsigen Berliner Euro-Sprech: Gabriel muss liefern!
Übrigens: Niemand in der SPD-Führungsriege wird ihm diese genauso ehrenvolle wie schwierige Aufgabe streitig machen. Man muss dabei zunächst bewusst auch vom „Spitzenkandidaten“ Gabriel sprechen, weil heute noch alles andere als klar ist, ob die SPD im Wahlkampf den Anspruch einer Kanzlerkandidatur überhaupt glaubwürdig vermitteln kann. Angesichts der bisher starken Fixierung der Grünen auf eine schwarz-grüne Koalition 2017 im Bund, für die Hessen ja nur der offizielle Testlauf war, ist eine sozialdemokratische Kanzlerkandidatur nur sehr schwer mit glaubwürdigen Realisierungschancen zu stützen. Dies umso mehr, als bisher alle aktuellen Meinungsumfragen noch zeigen, dass sich der nächste Bundestagswahlkampf nur noch auf eine Konkurrenz von Rot und Grün um die Juniorrolle in der nächsten Regierung Merkel konzentrieren könnte. Das würde automatisch dazu führen, dass man neben Merkel nur noch von Vizekanzlerkandidaten redet.
Prämissen eines sozialdemokratischen Revivals als Volkspartei
Gabriel kann mit der SPD diese Entwicklung nur durchkreuzen, wenn er rechtzeitig zwei klare Profilierungslinien als Prämissen konfliktbereit durchsetzt:
- Erstens muss die SPD bei seiner Kür als Kanzlerkandidat verbindlich eine Fortsetzung der Großen Koalition ausschließen und die SPD muss gleichzeitig eine Koalitionsoption für die Linke im Bund – abhängig von Gesprächsergebnissen – offen halten. Dies würde zwar einen Riesenwirbel auslösen, aber die Grünen würden einen schweren Einbruch riskieren, wenn sie in dieser Ausgangslage nur noch als „Unions-Darlinge“ den Wahlkampf bestreiten würden und eine Mehrheit jenseits der Union ausschließen.
- Zweitens muss die SPD ab sofort, wie in der Großen Koalition 1966 – 1969, bei politischen Schlüsselthemen ihr eigenes Profil gegenüber der Union für die Zeit nach den Wahlen schärfen. D.h. es müssen nicht nur brav die aktuellen Regierungsleistungen der SPD herausgestellt werden, die die Union auch für sich beansprucht. Diese Strategie garantiert nur den nächsten Trostpreis. Nein, darüber hinaus müssen bei bewegenden gesellschaftlichen Streitthemen eigene sozialdemokratische Linien im Kontrast zur Union über 2017 hinaus profiliert werden. Dies gilt z.B. für das globalisierungskritische Megathema TTIP, das den Stellenwert des Umweltthemas der 70er Jahre hat, aber auch für den neuen Ost-West Konflikt, das außenpolitische Megathema, bei dem die SPD endlich klare Alternativen zu einem weiter sich aufschaukelnden kalten und heißen Krieg – auch bei viel Gegenwind der Scharfmacher auf beiden Seiten – aufzeigen muss.
Mit Mut und Konfliktbereitschaft
Die Erfüllung dieser Prämissen ist Sigmar Gabriel mit seinem strategischen Instinkt und kühnen Chuzpe sicher zuzutrauen. Unter diesen Prämissen aber könnte aus der Spitzenkandidatur des SPD-Vorsitzenden bis zur Wahl 2017 sogar auch der Kanzleranspruch der SPD glaubhaft vermittelt werden und die Volksparteirolle der Sozialdemokratie durch einen markanten Wahlerfolg unterlegt werden. Ein Revival der Sozialdemokratie als Volkspartei ist mit Mut und Konfliktbereitschaft durchaus realistisch.
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