Rolf Mützenich passt nicht in die Klischees des Berliner Politikgeschäfts. Twittern, nein danke! Talkshows, nicht sein Ding. Wenn andere in Limousinen zu Verhandlungen im Kanzleramt vorfahren, kommt er mit dem Fahrrad. Keine Mode, kein affektiertes Understatement, wie sich viele anbiedern wollten. Norbert Röttgen, der als Umweltminister das Fahrrad als Image-Instrument entdeckte. Peter Altmaier, der sich als Kanzleramtschef, Umwelt- und Wirtschaftsminister auf dem Fahrrad als Fotoobjekt inszenierte.
Mütze, wie ihn Freunde nennen, fährt mit dem Rad durch die Berliner Politik, weil er Radfahrer ist. Vielleicht wäre er nur eines noch lieber geworden: Lokführer. Nach seinem Hauptschulabschluss und vor Beginn des zweiten Bildungswegs hatte er eine Lehre bei der Bahn geplant. Ziel: Lokführer. Sein größtes Vergnügen im letzten Jahr, dass er eingeladen war, auf einem Führerstand der Bahn mitzufahren. Von Köln aus in die nahe westdeutsche Welt – zurück natürlich mit dem Fahrrad.
Aus der Bahn-Lehre wurde nichts, die Laufbahn sah anders aus. Studium an der Universität Bremen, 1990 Abschluss als Diplom-Politikwissenschaftler. 1991 Promotion zum Thema Atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik – historische Erfahrungen, Rahmenbedingungen, Perspektiven. Als er nach Stationen als Wahlkreismitarbeiter – unter anderem für den Kölner Abgeordneten Konrad Gilges – und verschiedenen Positionen in der NRW-Landesregierung 2002 in den Bundestag einzog, wurde er wie selbstverständlich Sprecher der Fraktionsarbeitsgruppe „Abrüstung und Rüstungskontrolle“, später außenpolitischer Sprecher und ab 2013 stellvertretender Fraktionsvorsitzender, zuständig für die Bereiche Außen- und Sicherheitspolitik.
2019, als Andrea Nahles über Nacht ihre Ämter als Partei- und Fraktionsvorsitzende aufgab, musste oder konnte er als dienstältester Vize kommissarisch die Fraktionsführung übernehmen. Drei Monate später wurde er mit 97 Prozent der Stimmen als Fraktionschef gewählt. Und mit gleich hoher Akzeptanz nach den Wahlen 2021 bestätigt.
Der 63jährige Kölner gilt den Journalisten in Berlin als der freundlichste Politiker, den sie sich vorstellen können. Er bedankt sich bei jedem Treffen für ihr Interesse, bedankt sich bei Interviews für die Einladung. Mützenich ist ein höflicher Mensch, vor allem aber einer mit Grundsätzen.
Als Fraktionschef der größten regierungstragenden Partei könnte er sich viel einbilden auf die Macht, die in diesem Amt steckt. Denkt er nicht dran. Sein Markenzeichen ist Uneitelkeit. Er denkt an die Verantwortung, die dem Amt innewohnt.
Und die ist für ihn, der sich in seiner politischen Arbeit der Abrüstung und Entspannung verschrieben hatte, seit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine bisweilen zur Bürde geworden. Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 die „Zeitenwende“ im Parlament ausrief, gab Mützenich in der Debatte zu Protokoll: „Der Krieg in der Ukraine bedeutet das Scheitern aller bisherigen diplomatischen Bemühungen. Das ist schmerzhaft und bitter. Das sage ich auch und gerade für jemanden wie mich, der bis zum Schluss alle diplomatischen Mittel benutzen und benutzt sehen wollte.“
Dieses Scheitern hielt ihn nicht davon ab, immer wieder dafür zu werben, dass die internationale Gemeinschaft nach Gesprächsmöglichkeiten suchen, dass das breite Spektrum diplomatischer Möglichkeiten genutzt werden müsse. In vielen Medien brachte ihm das den Ruf eines unverbesserlichen Putin-Verstehers ein. Im letzten Sommer war nicht zu übersehen, dass ihn diese Vorwürfe bedrückten. Aber er rückte von seiner Haltung nicht ab. Die Zeit schrieb im November: „Mützenich amüsiert es inzwischen, wenn er mal wieder als Russland-Versteher geschmäht wird – und kontert es mit dem Hinweis, dass die eigentlichen Russland-Versteher doch diejenigen seien, die genau wüssten, dass Putin nie Atomwaffen einsetzen werde und dass überhaupt die Angst davor, die eigentliche Waffe sei.“
Ironie der Politik: Ausgerechnet Helmut Kohl wurde quasi als Kronzeuge angeführt, dass alle Gesprächsmöglichkeiten genutzt werden müssten. Bei der Gründungsversammlung der „Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung“ in Berlin im September 2022 war Angela Merkel laut Zeit überzeugt, dass ihr Vorgänger alle Sanktionen gegen Russland mitgetragen hätte, aber gleichzeitig nachgedacht hätte, wie man wieder mit Russland ins Gespräch kommen könne. Ein CDU-Mann, so erinnert sich Mützenich, sei Tage später auf ihn zugekommen mit der Bemerkung: „Rolf, das war eine Bestätigung für Dich“.
In seiner abwägenden Haltung ruht der SPD-Fraktionsvorsitzende inzwischen in sich. Die Suche von Bundeskanzler Olaf Scholz nach einem abgestimmten westlichen Vorgehen bei der militärischen Unterstützung der Ukraine hat er ohne wenn und aber mitgetragen und konterte den Forderungen von FDP-Frau Marie-Agnes Strack-Zimmermann oder des Grünen Anton Hofreiter nach schnellen Leopard-Lieferungen: „Eine Politik in Zeiten des Krieges macht man nicht im Stil von Empörungsritualen und Schnappatmung, sondern mit Klarheit und Vernunft.“ Dafür sei der enge Schulterschluss mit den Verbündeten unerlässlich.
Eine Haltung, die nach neuesten Umfragen von 73 Prozent der Bevölkerung getragen wird.
Für Scholz ist der Fraktionschef eine wichtige Stütze. Doch der Kanzler hat lernen müssen, dass er die Fraktion nicht überfahren kann. Die Verstimmung war groß, als er die Abgeordneten zu Beginn des Ukrainekriegs mit dem 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr überraschte. Loyal hat Mützenich das mitgetragen, die Verärgerung nicht nach draußen dringen lassen und dem Kanzler eine Mehrheit in der Fraktion besorgt.
Umgekehrt aber hat die SPD-Fraktion im Zusammenspiel mit den anderen Koalitionsfraktionen der Regierung wichtige Zugeständnisse abgerungen. Sie machten Front gegen die geplante Gasumlage, setzten ein Hilfspaket für die Bürger in Milliardenhöhe durch und rangen dem Kanzler Ende des Jahres eine Erhöhung des Kindergelds auf 250 Euro für jedes Kind ab.
Eine Bilanz, die sich die Abgeordneten zugute schreiben und für deren Zustandekommen Mützenich im Hintergrund ohne Getöse sein Gewicht einbrachte. Sie hat das Selbstbewusstsein der SPD-Fraktion gestärkt und die wichtige Rolle ihres einflussreichen, aber uneitlen Fraktionschefs bestätigt. So ist er eben, der Mütze!
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