Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands erscheint politisch ausgelaugt, ausgezehrt. Sie hat sich in den tagespolitischen Auseinandersetzungen der sich selbst so nennenden Fortschrittskoalition verheddert, hier und da auch verrannt. Sie ist in der vom Bundeskanzler dirigierten und nicht immer sauber orchestrierten Konsenspolitik der drei Regierungsparteien eins ums andere Mal festgehalten, ja geradezu festgefahren worden. Ja, die SPD-Fraktion hat ihre Rolle als mitgliederstärkste Regierungsfraktion durchaus gut gespielt, sie hat stabilisiert, sie hat dem Bundeskanzler den Rücken freigehalten, aber das ging oft, zu oft auf Kosten des eigenen Profils. Olaf Scholz jedenfalls hat seine Fraktion zur eigenen Absicherung genutzt, auch ausgenutzt, in wichtigen inhaltlichen Politikbereichen aber hat er sie gnadenlos ausgebremst. In der Energie- und Industriepolitik ist das besonders deutlich geworden. Da halfen auch einstimmige Fraktionsbeschlüsse nichts. Der Kanzler blieb der Abstimmung lieber fern und ignorierte das Ergebnis. Seine überhebliche bis arrogante Besserwisserei war teilweise nur schwer zu ertragen.
Am Ende bleibt festzuhalten: Olaf Scholz hat nicht nur sein Ansehen als Bundeskanzler ramponiert, er hat gleichzeitig auch dafür gesorgt, dass die politische Ausstrahlung seiner Partei gen Null gesunken ist. Selbstverständlich trifft besonders die SPD-Spitze dafür Mitverantwortung. Sie hat Scholz gewähren lassen, sie ist ihm teils willfährig gefolgt. Warnungen gab es genug. Der Kanzler tat sie ab, wollte sie gar nicht hören und die SPD-Spitze ließ sich von ihm einlullen. Allerdings muss auch festgehalten werden, dass die zahlreichen Proteste aus den Landesverbänden und auch aus der Bundestagsfraktion am Ende nicht stark genug waren, um Scholz an die Seite zu schieben. Keine Spur einer Revolte, geschweige denn von einem Putsch. Boris Pistorius merkte das und zog seine Konsequenzen. Die SPD-Spitze nominierte Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten. Der Fehler war gemacht.
Jetzt ist es müßig, darüber zu spekulieren, ob und wieviel mehr an Zustimmung die SPD ohne Scholz an der Spitze hätte gewinnen können. Deutlich ist jedenfalls geworden, dass die Ausstrahlungskraft rapide geschwunden ist. Besonders junge Menschen fühlen sich von der ältesten Partei Deutschlands kaum noch angesprochen. Dabei brauchen sie angesichts der vielen Krisen und Probleme in Deutschland, Europa und der Welt ansprechende und erreichbare politische Ziele, die bei ihnen Hoffnung, Zuversicht und sogar Begeisterung wecken. Die alte sozialdemokratische Idee vom friedlich vereinten Europa ist doch nicht deshalb überholt, weil die demokratischen Parteien im Wahlwettbewerb Europa geflissentlich übersehen haben und die SPD dabei mitgemacht hat! Das Gegenteil ist richtig. Europa muss neu belebt werden, damit es die Herausforderungen aus den Vereinigten Staaten von Amerika unter Präsident Trump zusammen mit Putins aggressivem, kriegerischen Russland und Chinas Weltoffensive bestehen kann. Alle drei eint das Ziel, die liberale und demokratische Europäische Union zu spalten und zu schwächen, damit sie als großer wirtschaftlicher und politischer Konkurrent auf dem Weltmarkt aus dem Weg geräumt wird.
Deutschland liegt mitten in Europa und hat neun direkte Nachbarn um sich herum. Diese große und vielfältige Nachbarschaft ist einzigartig und sie eröffnet besonders den jungen Menschen Chancen über Chancen. Sie können sich frei in Europa bewegen, sie können in Europa ohne Visum reisen, der Personalausweis reicht, sie können überall mit dem Euro zahlen, sie können in den Ländern der Europäischen Union Schulen besuchen, arbeiten und studieren, sie können von ihren Freundinnen und Freunden aus den Nachbarstaaten besucht werden, so oft diese und sie es wollen – diese Freiheit und Freizügigkeit hatten ihre Eltern und Großeltern nicht oder noch nicht. Ich bin Nachkriegskind, Jahrgang 1947, ich kenne noch die Schlagbäume und die geschlossenen Grenzübergänge, die langen Wartezeiten beim Einreisen in ein anderes europäisches Land, das Umtauschen der heimischen Mark in die jeweilige andere Währung. Besonders deshalb kann ich die Vorzüge des heutigen vereinten, liberalen und freizügigen Europas gut schätzen und werten. Und deshalb weiß ich, was es bedeutet, wenn die demokratiefeindliche AfD Deutschland aus der Europäischen Union herausbrechen und wenn eben diese Europäische Union von den USA, Russland und China bekämpft und zerstört werden will.
Wenn es in Deutschland darauf ankommt, das Land und die Menschen vor existenziellem Schaden zu bewahren, wenn es darauf ankommt, die demokratische Gesellschaft in Deutschland zu verteidigen und zu sichern, dann ist die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ganz vorn dabei und oft sogar über sich hinausgewachsen, dann hat sie ihre eigene Freiheit, ihre Ehre in die Waagschale geworfen, dann haben SPD-Mitglieder ihr eigenes Leben riskiert und auch verloren. Heute ist die Demokratie zwar noch nicht in ihren Grundfesten bedroht, aber ganz fest steht sie auch nicht mehr auf einem sicheren Fundament. Und heute ist Europa noch nicht seiner Gründungsidee beraubt, aber ganz sicher ist die europäische Einigung nicht. Unsere Demokratie zu verteidigen, gegen die Bedrohung Europas vorzugehen ist wichtig und heute dringend notwendig. Aber noch viel wichtiger ist, neue Begeisterung, neuen Elan, neue Aufbruchstimmung für Demokratie und für Europa zu erzeugen. Beides gehört zusammen: Deutschland braucht eine stabile Demokratie und ein geeintes und starkes Europa. Dies zu organisieren, ist die entscheidende Zukunftsaufgabe der deutschen Sozialdemokratie, wenn sie ihrer historischen Verantwortung gerecht werden und wenn sie sich selbst und der sozialdemokratischen Idee neues Leben einhauchen will.
Selbstverständlich ist das desaströse Wahlergebnis für die SPD alles andere als eine gute Basis für neuen Mut, für neue Zuversicht, für Aufbruch. Dennoch muss die Chance genutzt werden, die Partei wieder aufzurichten, sie programmatisch und inhaltlich neu aufzustellen. Deshalb muss zuallererst dafür gesorgt werden, dass es zu einer Regierungsbildung kommt. Schnell. Die Menschen wollen nicht darauf warten, dass und wie lange die SPD ihre Wunden geleckt hat. Sie erwarten eine handlungsfähige Regierung, die Lösungen für die großen Probleme benennt und konzentriert angeht und die sich um die Alltagssorgen der Menschen kümmert. Die Flucht in die Opposition würden sie der SPD nie mehr verzeihen.
Ja, es ist schwierig, mit der Merz/Söder-Union zusammenzuarbeiten, zu koalieren. Und nach den schlimmen Attacken und Beschimpfungen von Merz und seinem Wortbruch und Tabubruch bei der gemeinsamen Abstimmung im Parlament mit der demokratiefeindlichen und in großen Teilen rechtsextremistischen AfD ist es auch für viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten durchaus eine Zumutung, ihn zum Kanzler wählen zu sollen. Dennoch bleibt nichts anderes. Die SPD würde ihrer eigenen historischen Verantwortung nicht gerecht werden, würde sie sich der Regierungsbildung entziehen. Allein, um der zweifelnden Öffentlichkeit zu beweisen, dass die großen demokratischen Parteien durchaus in der Lage sind, über alles Trennende hinweg gemeinsam für eine gute Zukunft Deutschlands zu sorgen, muss Antrieb und Motivation genug sein, die Koalition zu wagen. In den anstehenden Gesprächen und Verhandlungen das Wesentliche in den Blick zu nehmen, die gemeinsamen Ziele anzupeilen und nicht um jeden Spiegelstrich zu streiten, als ob es kein Morgen mehr gebe, das ist jetzt die entscheidende Aufgabe, zu der die SPD ihren Beitrag leisten muss. Wenn schnell erkennbar wird, dass eine solche Koalitionsregierung gut zusammenarbeiten und erfolgreich sein kann, wird es in der SPD auch Zustimmung für diese Koalition geben. Denn ganz unabhängig vom Wahlergebnis bleibt die SPD eine Volkspartei, die das Große und Ganze im Blick hat und dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Es ist deshalb die vornehmste Pflicht der SPD-Führung, die verunsicherte Partei auf dem Weg in die Regierungsverantwortung mitzunehmen.
In diesem Zusammenhang hilft ein Blick auf die große Rede von Willy Brandt bei seinem Abschied als Parteivorsitzender 1987 in der Bonner Beethovenhalle. Damals mahnte er uns: „Und doch, sich nicht zu weit von dem zu entfernen, was viele aufzunehmen geneigt und mitzutragen bereit sind, gehört zur eisernen Wissensration einer Volkspartei, die nicht auf die Oppositionsbänke abonniert ist. Und die weiß, dass man auf der Regierungsbank in aller Regel mehr erreichen kann für die Menschen, denen man sich verantwortlich fühlt. Es mag ja sein, dass Macht den Charakter verderben kann – aber Ohnmacht meinem Eindruck nach nicht minder.“ Ohnmächtig braucht die SPD trotz ihres desaströsen Wahlergebnisses nicht zu sein, die Oppositionsbank ist jedenfalls keine zukunftsträchtige Alternative, Und den Menschen, denen die SPD sich verantwortlich fühlt, müsste eine Flucht in die Opposition als Verrat an ihren Interessen, an ihren Sorgen und Nöten wie an ihren Wünschen und Hoffnungen vorkommen. Also heißt das für die Verantwortlichen in der traditionsreichen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands: Verantwortung übernehmen, regieren und sich um das Wohl des Landes und der Menschen im Land kümmern.
Das ist das eine in der heutigen Zeit: Regieren! Darüber hinaus muss die Partei aber alles daransetzen, um das große gesellschaftliche Gespräch über die Zukunftsgestaltung, über die entscheidenden Ziele für die persönlichen Perspektiven der einzelnen Menschen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land in Gang zu setzen. Auch das wird ein Kraftakt. Aber er ist dringend nötig, um der SPD und gleichzeitig unserer Gesellschaft neuen Lebensmut einzuhauchen. Was wollen wir wagen, um aus dem tagespolitischen Kleinklein herauszukommen und das große Ganze für die Mehrheit der Menschen erfahrbar und attraktiv zu machen? Wie wollen wir die Demokratie in Deutschland stabilisieren und zum Motor für die wirtschaftliche und soziale Stärke des vereinten Europas mit seiner Freizügigkeit, seiner Humanität, seiner Liberalität und guten Nachbarschaft im Innern und seiner Verteidigungsfähigkeit und demokratischen Anziehungskraft nach außen entwickeln; wie wollen wir der zerstörerischen Kraft und Wut der sogenannten Tech-Oligarchen mit ihren Milliarden im Rücken begegnen und ihrem Anspruch auf ihre egoistische Weltherrschaft unsere Vision von Demokratie, Zusammenhalt und sozialer Sicherheit in einer vielfältigen und humanen Gesellschaft entgegenstellen? Wie wollen wir vor allem die jungen Menschen begeistern, mit uns gemeinsam für ihre Zukunft einzutreten und zu streiten?
Ja, die SPD ist tief getroffen von dem desaströsen Wahlergebnis, sie ist verunsichert und von Selbstzweifeln geplagt. Die Bundestagsfraktion ist fast halbiert. Viele Zukunftschancen von ehemaligen Abgeordneten haben sich in Luft aufgelöst, darunter sind viele junge Abgeordnete, die gerade mal im Parlament angekommen waren und sich voller Tatendrang in ihre Arbeit gestürzt hatten. Solch einen Absturz, solch einen Abschied aus dem Deutschen Bundestag hatten sie sich bestimmt nicht vorgestellt. Auch und besonders ihnen gegenüber ist die Partei verpflichtet, auch sie brauchen neuen Mut für die weitere politische Arbeit. Jetzt also zu beweisen, dass Regierungsverantwortung und gleichzeitige inhaltliche und programmatische Erneuerung zusammengehen können, ist die Zukunftsaufgabe der Parteiführung. Daran wird sie gemessen werden müssen, in der SPD wie in der Öffentlichkeit.
Bildquelle: flickr, SPD Schleswig-Holstein, CC BY 2.0