Hierzulande ist gegenwärtig eine politische Grundaufgeregtheit spürbar, die dazu angetan ist, bei vielen Menschen Unsicherheit und Verwirrung zu stiften. Das gilt für viele politische Themen und ließe sich mit unterschiedlichsten Beispielen belegen. Was sich etwa beim Thema Corona-Pandemie an Stimmenwirrwarr und Geschwafel hören und lesen lässt, geht auf keine Kuhhaut. Kein Wunder, dass vielen der Kopf schwirrt und kaum jemand das Gefühl hat, sich mit dem Thema umfassend auszukennen und die aktuellen Bestimmungen immer zu verstehen. Es fehlt dabei nicht nur an einer klaren politischen Linie, was vielleicht noch erklärbar ist, weil die Lage sich laufend dynamisch verändert. Es hapert vor allem bei der Kommunikation, weil, wie so oft, der Blick auf die Vermittlung der Inhalte zu wenig mitgedacht wird.
Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen hat sich etwas grundlegend beim Stellenwert bzw. der Akzeptanz der professionellen Medien geändert, also den Intermediären zwischen den Produzenten und den Konsumenten von Neuigkeiten. Der New York Times-Slogan „All the news that’s fit to print” stammt aus einer Zeit, als der professionelle Journalismus eine weitgehend anerkannte Rolle spielte, mit dessen Hilfe man sich eine eigene Meinung bilden konnte. Ein derartiger Journalismus lieferte Informationen und Hintergründe, und mit seinen als solchen kenntlich gemachten Kommentaren ermöglichte er Orientierung und Einordnung. Zwar gibt es dies heute nach wie vor und vielleicht sogar in größerer Vielfalt als früher, aber die Zeitungen haben ihre diesbezügliche Bedeutung und Wirkung längst verloren, und selbst der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat seine vormalige Vormachtstellung als Informationsquelle Nummer eins für jung und alt eingebüßt. Die Vermittlungsfunktion der traditionellen Medien, an der manches zu kritisieren war, ist stark geschrumpft. Es sind die neuen Intermediäre im Netz, die eben nicht mehr das Ziel haben, nur die Neuigkeiten zu bringen, die „fit to print“ sind.
Die beiden New York Times-Journalistinnen Sheera Frenkel und Cecilia Kang haben in ihrem Buch „An Ugly Truth“ über den Aufstieg von Facebook und Mark Zuckerberg einen erhellenden Satz formuliert, der das Motto dieses und wohl der meisten der sozialen Medien darstellen könnte: „All the news from your friends that you never knew you wanted.“ Im Gegensatz zu den professionellen Medien sind nämlich nicht Information und Aufklärung die obersten Ziele der sozialen Medien und erst recht der sogenannten Influencer, sondern Aufmerksamkeitserregung und damit einhergehende Nutzer- bzw. Kundenbindung. Und die funktioniert am besten durch Emotionalisierung und Beeinflussung bis hin zur Manipulation. Das ist es, was sich so drastisch geändert hat.
Dem sei hinzugefügt, dass die Kakophonie der sozialen Medien einschließlich der Messenger-Dienste zum Gegenteil dessen geführt hat, was Immanuel Kant einst anmahnte, nämlich sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Das eigene Denken wird durch die sozialen Medien nicht gerade gefördert, sondern in vielerlei Hinsicht erschwert. Das Ergebnis der Veränderungen ist, dass zu viele Menschen dem öffentlichen Diskurs nicht mehr folgen und sich einfach abwenden. Sie sehen keine Chance mehr, sich verlässlich zu informieren, zumal auch die Glaubwürdigkeit der traditionellen Medien, Stichwort Lügenpresse, von politisch interessierter Seite systematisch in Zweifel gezogen worden ist. Viele ziehen sich frustriert oder verärgert zurück, sei es in die Filterblase oder in die freiwillige Ignoranz. So ungut dies allein schon ist, so sehr ist eine weitere Wirkung gefährlich, nämlich die Anfälligkeit für Gerüchte, Falschinformationen und Verschwörungstheorien. Hier handelt es sich um eine kleine, aber um so lautere Minderheit. Die in den letzten Wochen und Monaten bei uns als neues Phänomen aufgekommenen sogenannten Spaziergänge, also die Bereitschaft, auf die Straße zu gehen und dabei bisher weitgehend akzeptierte Regeln bewusst zu ignorieren, sind Ausdruck von Protest und Wut. Was sie nicht sind: ein Zeichen von Mut. Mut, den Immanuel Kant meinte, nämlich sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Um es mit dessen Worten zu sagen: Die Spaziergänger organisieren zwar auch einen „Ausgang“, aber eben nicht aus ihrer „selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Im Gegenteil.
„Die in den letzten Wochen und Monaten bei uns als neues Phänomen aufgekommenen sogenannten Spaziergänge, also die Bereitschaft, auf die Straße zu gehen und dabei bisher weitgehend akzeptierte Regeln bewusst zu ignorieren“ – es sollte jedem Demokraten und überhaupt jedem Bürger auf den ersten Blick ins Auge springen, wie unsäglich dieser Satz und Gedankengang ist. Wenn wir in einem Land leben wollen, in dem man „weitgehend akzeptierte Regeln bewusst ignoriert“, dadurch dass man spazieren geht (oder sein verfassungsmäßiges Demonstrationsrecht wahrnimmt), können wir auch gleich nach China übersiedeln. Wenn zudem Grundrechte und Gesetze fortan per „stiller Akklamation“ oder konkludentem Verhalten („bisher weitgehend akzeptiert“) gelten und bitte in der jeweiligen aktuellen Lage opportun sein sollen, brauche wir auch überhaupt keinen Rechtsstaat mit Grundgesetz, kleinen Richterlein et al mehr.