Wenn eine Partei die schwerste Wahlniederlage seit über 100 Jahren erlitten hat, dann ist es angezeigt, ja vielleicht sogar notwendig, in die Opposition zu gehen. Sie kann dabei trotzdem ihrer staatstragenden Pflicht nachkommen. Keine Partei Deutschlands hat in über 100 Jahren mehr zur Brandmauer gegen Demokratiefeindlichkeit beigetragen als die SPD, und sie braucht sich daher weder von anderen Parteien noch von irgendeinem Pressekommentator diesbezüglich eine Belehrung anzuhören.
Die SPD braucht eine Regenerationspause, um sich wieder aufzurichten und sowohl inhaltlich als auch personell neu zu ordnen. Die Weltlage hat sich in den letzten Jahren in geradezu atemberaubender Weise verändert, lange eingeübte Grundsätze und Weltsichten gelten nicht mehr und neue Regeln sind noch nicht entwickelt worden. Der globale Süden formiert sich neu, die NATO zerbricht gerade und Europa irrlichtert im Weltgeschehen. Es wäre jetzt also an der Zeit, einzuhalten, die Köpfe zusammenzustecken und neue, zukunftsweisende Konzepte zu entwickeln.
Die SPD hat seit den 80er-Jahren Wähler an neu entstandene Parteien an ihren Rändern verloren. Zunächst gingen die pazifistischen und umweltbewussten Stammwähler an die Grünen, die einst eine Friedens- und Umweltschutzpartei waren. Mit der Gleichstellung von gekündigten Arbeitnehmern (oftmals nach einem langen Erwerbsleben) und Sozialhilfeempfängern im Rahmen der Hartz-Gesetzgebung verlor die SPD einen wichtigen Teil der Arbeiterschaft an die LINKE und zuletzt liefen viele der noch verbliebenen Stammwähler aus der Friedensbewegung zum Bündnis Sahra Wagenknecht über.
Doch irgendwann müsste auch die Deutschen erkennen, dass es ohne Sozialdemokraten ein Demokratieproblem geben wird. Einerseits hat der Kampf gegen den Klimawandel, die näher rückenden Kriege, die Sorge und die Abstiegsängste im Zuge der Transformation sowie der zunehmende Migrationsdruck – vor allem ohne entsprechenden Ausbau von Schule, Wohnraum und Integrationsmaßnahmen – Ängste in der Bevölkerung ausgelöst haben, die es den ‚schrecklichen Simplifizierern‘ (terrible simplificateur, Jakob Burckhardt) gerade auch über das Internet leicht gemacht haben, nicht nur in Deutschland an Einfluss zu gewinnen.
Der deutschen Sozialdemokratie droht ein Nischendasein wie in Frankreich oder den Niederlanden, wenn sie diesem Trend nicht mehr entgegenzusetzen hat als bislang. Sie könnte sich dabei an erfolgreichen Sozialdemokraten orientieren, wie beispielsweise der PSOE in Spanien unter der Führung von Ministerpräsident Pedro Sánchez. Die PSOE gründete sich vor 50 Jahren am Ende der Franco-Diktatur neu – unter massiver Unterstützung der deutschen Sozialdemokraten und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Was damals gelungen ist, war ein Meisterwerk der Demokratieentwicklung, und das Vorbild war die deutsche Sozialdemokratie unter Willy Brandt. Nach der Wahlniederlage der heutigen SPD könnte umgekehrt der Blick auf Spanien Anstöße für eine demokratischere sozialdemokratische Erneuerung in unserem Land geben.
Zwar verfügen in Spanien die Sozialdemokraten nicht über eine komfortable Mehrheit – im Gegenteil. Dort gibt es eine Minderheitskoalition zwischen der PSOE und Sumar (vergleichbar mit die LINKE). Diese Minderheitskoalition ist zusätzlich von den stark fordernden regional-nationalistischen Parteien des Baskenlandes und Kataloniens abhängig. Sánchez braucht für jedes Vorhaben außergewöhnliches Verhandlungsgeschick damit das Bündnis aus der konservativen Volkspartei PP (die von Ministern der Franco-Diktatur gegründet wurde) und der neofaschistischen Vox nicht das Ruder übernimmt – auch weil das rechte Bündnis keine Gelegenheit auslässt, die Politik bis an den Rand des Verfassungsbruchs zu führen, was bisher nur durch europäische Intervention verhindert werden konnte.
Trotz aller Widrigkeiten führte Pedro Sánchez Spanien erfolgreich durch alle Krisen. Spanien hat unter den großen westeuropäischen Volkswirtschaften die niedrigste Inflation, das höchste Wirtschaftswachstum und die positivste Arbeitsmarktdynamik der letzten 20 Jahre entwickelt. Mögen hier auch einige förderliche Rahmenbedingungen (Tourismusboom, EU-Fördermittel, günstigere Energiepreise) eine Rolle spielen, so muss man die Führungsfähigkeiten von Sánchez in besonderer Weise hervorheben.
Pedro Sánchez‘ Weg an die Spitze begann in einer Phase, in der die PSOE nach einer schweren Niederlage im Jahre 2011 in die Opposition gedrängt wurde. Er war von Beginn an mutig und konsequent fortschrittlich, obwohl das Parteiestablishment mehrheitlich konsensorientiert und eher pragmatisch konformitätsfixiert ausgerichtet war. Damit war Sánchez der junge Herausforderer, der sich 2014 erfolgreich durchsetzen und zum Generalsekretär gewählt wurde. Die PP regierte von 2011 bis Ende 2015 mit absoluter Mehrheit, verlor aber bei den Wahlen 2015/16 ihre Dominanz, sodass Mariano Rajoy bis 2018 ohne Mehrheit und abhängig von anderen Parteien regieren musste. Im Mai 2017 wagte Sánchez den nächsten Schritt, trat gegen die PSOE-Vorsitzende Susana Díaz an und übernahm den Vorsitz in der Partei – er war jedoch geduldig genug, Rajoy nicht gleich zu stürzen, sondern er wartete die Schwächemomente der Konservativen ab, insbesondere als die monumentale Parteispendenaffäre der PP (Fall „Gürtel“) ans Tageslicht kam. Am 1. Juni 2018 brachte Sánchez ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Rajoy ein und regiert seitdem Spanien in einer Minderheitsregierung, immer um neue Mehrheiten ringend am Rande der Regierungsunfähigkeit. Doch die PSOE ist trotz aller Widrigkeiten erfolgreich. Spaniens Wirtschaft erblüht, die Arbeitslosigkeit geht zurück, und die demokratischen Freiheitsrechte werden, wie kaum in einem anderen europäischen Land jeden Tag aufs Neue erkämpft und verteidigt.
Die aktuelle spanische Regierung unter Pedro Sánchez vereint eine pro-europäische und multilaterale Außenpolitik mit starkem Fokus auf eine EU-Integration, die Unterstützung der Ukraine und vertieften Beziehungen zu Lateinamerika, während sie im Inneren soziale Reformen wie die Erhöhung des Mindestlohns, Mietpreisbremsen und den Ausbau des Sozialstaats vorantreibt. Gesellschaftspolitisch setzt sie auf progressive Initiativen – darunter Gesetze zur Gleichberechtigung und gegen Geschlechtergewalt sowie die Aufarbeitung der Franco-Diktatur, um demokratische Werte zu stärken. Ökonomisch kombiniert sie eine ökologische Modernisierung – etwa durch den massiven Ausbau erneuerbarer Energien und grünem Wasserstoff – dazu mit umverteilender Steuerpolitik, etwa durch Sonderabgaben für Reiche und Konzerne. Nicht alle Vorhaben wurden aufgrund fehlender Mehrheiten immer erfolgreich umgesetzt, aber in der Gesamtrichtung blieb man auf Kurs.
Die PSOE hätte die konservative Minderheitsregierung früher stürzen können. Sie wartete jedoch, bis alle innerparteilichen Streitigkeiten beigelegt waren und die Absprachen mit anderen Parteien zukunftssicher entwickelt wurden. Zudem war die zentrale nationale Streitfrage, wie der Katalonien-Konflikt einvernehmlich, friedlich und nachhaltig beendet werden könne, von großer Bedeutung. Erst dann verließ sie die Opposition. Für die SPD lohnte es sich, Pedro Sánchez‘ Erfolgspfad genauer zu analysieren.
Was wir von Sánchez lernen können, ist einerseits seine Zielstrebigkeit, strategische Oppositionsarbeit zu leisten, klassische sozialdemokratische Themen konsequent zu positionieren, aber auch seine Fähigkeit, fabianisch zu handeln und. Münteferings Satz „Opposition ist Mist“ – das zeigt sich in Spanien hat keine Garantie auf ewige Gültigkeit.
Zum Autor: Axel Fersen ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt auf digitaler Transformation und künstlicher Intelligenz. Nach dem Studium der Politikwissenschaften an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz wechselte er in die Technologiebranche. Er lebt und arbeitet in Barcelona. Seit den 1980er Jahren ist er Mitglied der SPD und u.a. auch Kooperationspartner der Friedrich-Ebert-Stiftung in Spanien, Koordinator und Mitglied des Leitungskreises des Erhard-Eppler-Kreises, Mitglied im Vorstand des Europa-Instituts für Sozial- und Gesundheitsforschung e.V., einem An-Institut der Alice Salomon Hochschule Berlin, und Mitglied der Studiengruppe Technikfolgenabschätzung der Digitalisierung in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).