Mehr als sieben Jahrzehnte sind vergangen, bis sich der mörderische Restbestand der Täter in Nazi-Deutschland nun endlich vor Gericht verantworten muss. Der ganze Zynismus der späten Gerichtsverfahren gegen ehemalige SS-Wächter wird dabei sichtbar. Täter, die eingebunden waren in die fabrikmäßige Tötung von Menschen, deren einziges Verbrechen es war, Jude zu sein. So auch das jüngste Verfahren gegen den 94-jährigen Rainhold Hanning, ehemaliger Unterscharführer der SS und gut anderthalb Jahre Wächter in Auschwitz. Im gleichnamigen Konzentrationslager und seinen Nebenlagern wurden mehr als eine Million Menschen ermordet, in der Mehrzahl Juden. Hanning war von Januar 1943 bis Juni 1944 Wächter in Auschwítz. In dieser Zeit fanden dort 170 000 Menschen den Tod. Die Beweisaufnahme ergab, dass er es war, der mehr als einmal die von der Rampe in Auschwitz von SS-Ärzten für den Tod aussortierten Menschen zu den Gaskammern geleitete.
Fünf Jahre Gefängnis im 95. Lebensjahr für 170 000 Ermordete. Wer Statistiken mag, kommt zu dem Ergebnis, dass bei einer Mittäterschaft, die 18 Monate währte, für jeden Toten als Freiheitsstrafe nur Sekunden herauskommen. Immerhin, kaum ein Bericht, der nicht darauf verweist, dass die ebenso betagten überlebenden Opfer der Leidenszeit in Auschwitz, die als Zeugen auftraten, darüber dennoch so etwas wie späte Gerechtigkeit empfanden. Ein schaler Beigeschmack ist nicht vermeidbar; das liegt aber vor allem daran, dass diese Prozesse so spät stattfinden. Auch die Täter stehen in einem Alter vor den Gerichten, das kaum erwarten lässt, dass die Verurteilten die Dauer der Inhaftierung auch lebend überstehen. Wer mit 94 zu fünf Jahren Haft verurteilt wird, kann kaum auf seine Entlassung hoffen.
Unerträgliche Freisprüche
Hier rächt sich, dass in der Bundesrepublik die Nazizeit im Kalten Krieg der Systeme unter dem Deckel schneller Vergesslichkeit gehalten wurde. Die braunen Eliten in Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Justiz waren in kürzester Zeit in der Adenauer-Republik wieder an gleichem Ort und gleicher Stelle. Bis auf ein Urteil musste im Westen kein Nazi-Richter damit rechnen für Terrorurteile zur Verantwortung gezogen werden. Unerträgliche Freisprüche für Täter, deren Richter großes Verständnis zeigten für den „Befehlsnotstand“ der angeklagten Gewalttäter, die gar nicht anders konnten als auf Geheiß ihrer Vorgesetzten furchtbare Verbrechen zu verüben. Entsprechend nachsichtig war die Berichterstattung über Prozesse gegen Nazi-Täter in der DDR, die gemeinhin im Westen nicht nach dem gegen sie gerichteten Schuldvorwurf fragten, sondern sie erneut nur als „Opfer“ einer „unmenschlichen“ DDR-Justiz beschrieben.
Heute bleibt uns nur weiter die Frage, was in der notwendigen Aufarbeitung der Nazi-Unterdrückung und ihrer Mordtaten falsch gelaufen ist. Der erneute Terror rechtsextremistischer und neonazistischer Gewalttäter, der rechtspopulistische Aufwind in Dresden und anderswo, die Straftaten gegen Flüchtlinge und Brandanschläge gegen ihre Unterkünfte und 180 Todesopfer rechter Gewalttäter zeigen, dass erneut Widerstand notwendig ist. Damit sich nicht wiederholt, was vor einem halben Jahrhundert der Widerstandskämpfer und damalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der in den 60er Jahren die Auschwitzprozesse vorbereitete, konstatieren musste: Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich Feindesland.
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