„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte“, hat Karl Marx einst festgestellt. Zwar nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten Umständen, räumte er ein, aber „die Menschen machen ihre eigene Geschichte“ selbst. Auch in Sachsen, in Thüringen und in Brandenburg haben die Wählerinnen und Wähler bei der Landtagswahl „ihre eigene Geschichte“ gemacht. Allerdings können sie ihre „nicht selbst gewählten Umstände“ nicht als Erklärung oder gar als Entschuldigung für ihre Wahlentscheidung heranziehen. Sie wussten und sie wissen, wen sie gewählt haben – eine in großen Teilen rechtsextremistische Partei, die unsere Demokratie und unsere freie Gesellschaft hasst und beseitigen will. Auch viele der Wählerinnen und Wähler der AfD würden unter der Knute und der Ausgrenzung dieser Partei leiden, wenn sie denn zum Zuge käme. Insofern sind sie selbst verantwortlich für das, was sie mit ihrem Wahlverhalten angerichtet haben. Da braucht es kein Mitleid, auch kein Verständnis für „ihre nicht selbstgewählten Umstände“. Denn im aufgeklärten Deutschland – ganz anders als zu Lebzeiten von Karl Marx – wussten und wissen sie, was die AfD im Schilde führt, wenn sie an die Macht käme. Und deshalb bleibt richtig: Wer Nazis wählt, wird selbst zum Nazi! Auch Mitläuferinnen und Mitläufer gehören dazu. Unsere Geschichte ist voll davon.
Allerdings müssen die demokratischen Parteien sich dennoch oder gerade deshalb fragen, was sie getan haben, um solche Wahlergebnisse zu verhindern. Vor allem für die Kanzlerpartei SPD ist diese brennende Frage nach Antworten zugleich entscheidend für ihre Zukunft als gestaltende politische Kraft in Deutschland. Die SPD ist die Regierungspartei Nummer Eins. Sie hat mit Bündnis 90/Die Grünen und der FDP zwei Koalitionspartner, die mit ihr zusammen eine „Fortschrittskoalition“ bilden wollten. Davon ist nach drei Jahren trotz vieler guter Entscheidungen nicht mehr viel übriggeblieben. Das liegt nicht allein an der SPD oder ihrer Bundestagsfraktion, aber mitverantwortlich sind sie schon. Viel zu lange haben die parteipolitischen Eitelkeiten von Grünen und FDP die Koalition belastet und die Öffentlichkeit genervt. Dahinter sind Führung und Orientierung durch die Bundesregierung und den Bundeskanzler verblasst. Für die meisten Menschen überwiegt inzwischen die Meinung: Olaf Scholz führt nicht, allenfalls moderiert er die Regierungsarbeit. Das ist erkennbar zu wenig für einen Kanzler.
Besonders erschreckend für die SPD ist die Erkenntnis, dass viele, viel zu viele Menschen in Deutschland den Markenkern der Partei, die Kompetenz für soziale Gerechtigkeit, nicht mehr erkennen oder erkennen wollen. Deshalb muss im Willy-Brandt-Haus in Berlin jeden Tag die Alarmsirene schrillen. Ohne ihren Markenkern droht die SPD im Ansehen der Wählerinnen und Wähler deutschlandweit zu schrumpfen. Denn ohne ein hohes Maß an sozialer Kompetenz würde die SPD zu einer beliebigen Partei mutieren, von der sich besonders die arbeitenden Menschen abwenden. In Thüringen und Sachsen, auch in Brandenburg ist das unübersehbar.
Soziale Kompetenz ist allerdings mehr, als für Mindestlohn und Bürgergeld zu sorgen. Soziale Kompetenz ergibt sich aus der Fähigkeit, politisch die Weichen so zu stellen, dass es der großen Mehrheit im Lande, den arbeitenden Menschen, den Familien, den Kindern, den jungen Leuten, den Rentnerinnen und Rentnern Schritt für Schritt besser geht. Diese Menschen müssen wissen, dass sie sicher arbeiten, wohnen und leben können, dass es ihnen gut geht – heute und auch morgen und übermorgen. Diese große Mehrheit braucht Orientierung, Sicherheit und Perspektive, damit sie daraus Zuversicht und Hoffnung für ein gutes Leben schöpfen kann. Das macht sie dann auch immun für die Lockrufe von Populisten und Extremisten. Eine solche politische Konzentration auf die Bedürfnisse dieser sozialen Mitte unserer Gesellschaft würde gleichzeitig auch dafür sorgen, dass der AfD und anderen politisch extremistischen Abenteurern das Wasser abgegraben wird. Damit wird zwar ein Verbotsverfahren gegen die AfD nicht hinfällig, im Gegenteil: es könnte sogar aus einer gestärkten Rolle der demokratischen Parteien ohne Sorge vor einer größeren Unterstützung der AfD eingeleitet und durchgeführt werden.
Heute jedenfalls muss die SPD sich mehr denn je auf ihren Markenkern besinnen und ihn aufpolieren. Dann kann die sozialpolitische Kompetenz auch wieder zu ihrem Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb zwischen den demokratischen Parteien werden. Die CDU mit ihrem Vorsitzenden Friedrich Merz bietet dafür gute Chancen. Seine Kritik an den Steuerplänen der SPD leuchtet jedenfalls die politische Richtung grell aus, in die er eine Bundesregierung führen will. Während die SPD die soziale Mitte in unserer Gesellschaft steuerlich entlasten will, sorgt sich Merz um das eine Prozent der Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener, von denen die SPD mehr in die Steuerkasse eingezahlt haben will. Die will er besonders schützen, sie sind nach seiner Auffassung die eigentlichen Leistungsträger unserer Gesellschaft. Da blitzt seine gesellschaftspolitische Einstellung wieder auf, die er in seinem Buch, „Mehr Kapitalismus wagen: Wege zu einer gerechten Gesellschaft“, aufgeschrieben hat. Für Sozialpolitik ist darin nur wenig Platz. Der Markt soll es richten – Kapitalismus eben. Merz kann inzwischen noch so viele Wendungen einleiten und sein soziales Image schönfärben, die Sozialpolitik bleibt die Achillesferse seiner Politik und damit der von ihm geführten CDU.
Für die SPD muss es jetzt um klare Kante gehen. Um die soziale Mitte unserer Gesellschaft tatsächlich zu erreichen und auch zur Wahl der SPD anzuregen, braucht die Partei ein überzeugendes Konzept, das mehr enthalten muss, als benachteiligte Menschen und gesellschaftliche Minderheiten in den Fokus zu nehmen. Die sozialpolitische Anziehungskraft der Sozialdemokratie ist auf die Überzeugung gebaut, dass sozialer Friede im Land ein ganz wichtiger Produktionsfaktor ist, dass sozialer Friede aus sozialem Fortschritt und Mitbestimmung entsteht und die unternehmerische Innovationskraft und die Leistungsstärke der Facharbeiterinnen und Facharbeiter zur gemeinsamen Handlungslinie verbindet, die den Industrie- und Wirtschaftsstandort Deutschland im internationalen Wettbewerb stark macht. Sozialpartnerschaftliches Handeln eben, das auf andere, auf ähnliche Weise dann in unserer Gesellschaft funktioniert, wenn die, die Solidarität geben können, ganz selbstverständlich diejenigen unterstützen, die Solidarität brauchen – weil sie wissen, dass davon alle profitieren, dass damit auch eine Grundlage für sozialen Frieden gelegt ist, dass damit das Gemeinwohl gestärkt wird. Das schließt ein, dass sozialer Missbrauch nicht geduldet, sondern konsequent bekämpft wird.
Dieses Wissen ist in vielen Teilen unserer Gesellschaft abhandengekommen. Stark ausgeprägter Individualismus, der nicht nur von der FDP politisch unterstützt und gefördert wird, hat sich stattdessen breitgemacht. Egoismus hat zugenommen. Das persönliche Wohlergehen hat Priorität und verstellt viel zu oft den Blick auf die Lage anderer, auf das Ganze. Das „Füreinander einstehen“ ist längst aus der Mode gekommen. „Auf Nebenmann achten“, hat Johannes Rau stets gemahnt, wenn er das Gemeinschaftsgefühl stärken wollte. Es liegt an der SPD, gesellschaftlichen Zusammenhalt wieder politisch zu organisieren und damit auch attraktiv zu machen. Es geht darum, die Grundbedürfnisse der Menschen, gut arbeiten, wohnen und leben zu können, in den Mittelpunkt des politischen Handelns zu stellen. Das alles ist kein Zauberwerk, sondern Teil der kollektiven Erfahrung einer Partei, die ganz nahe bei den Menschen war und hoffentlich bald auch wieder ist, die deren Hoffnungen und Wünsche, ihre Sorgen und Nöte aus erster Hand kennt und sich nicht nur auf die Ergebnisse von Meinungsumfragen, auf Angelesenes stützt.
Wer mit Betriebsräten, mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern redet, besonders mit denen, die sogar SPD-Mitglieder sind, erfährt ganz direkt von deren Sorge, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich nicht mehr auf die SPD verlassen können oder wollen. Sie fühlen sich alleingelassen, sie fühlen sich nicht mehr ausreichend gehört. Die Konsequenz: Diese Kolleginnen und Kollegen fallen dann auch als politische Unterstützer in der Arbeitswelt aus. Darunter leidet die SPD. Deshalb bleibt die Mahnung von Willy Brandt in seiner Abschiedsrede am 14. Juni 1987 in der Bonner Beethovenhalle richtig, die er der Partei mit auf den Weg gegeben hat: „Und doch, sich nicht zu weit von dem zu entfernen, was viele aufzunehmen geneigt und mitzutragen bereit sind, gehört zur eisernen Wissensration einer Volkspartei, die nicht auf die Oppositionsbänke abonniert ist. Und die weiß, dass man auf der Regierungsbank in aller Regel mehr erreichen kann für die Menschen, denen man sich verantwortlich fühlt.“
Das ist die entscheidende Messlatte: Für wen fühlt die SPD sich verantwortlich? Im Brandt’schen Sinne sind das die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihre Familien mit den Kindern, die Rentnerinnen und Rentner, also die soziale Mitte unserer Gesellschaft. Um ihr Wohlergehen muss die SPD sich vor allem kümmern. Das bleibt ihr politischer Auftrag, das muss auch ihre politische Kompetenz für soziale Gerechtigkeit sein.