Viel ist aktuell, keine drei Wochen vor Beginn der Heim-EM, die Rede von einem Sommermärchen 2.0. Dies wird aus unterschiedlichen Gründen aber ausbleiben. Erstens war die politische und vor allem gesamtgesellschaftliche Ausgangslage eine andere als vor 18 Jahren, als „die“ Deutschen ihre Autos, Häuser und Balkone mit jeder Menge schwarz-rot-goldenen Accessoires versahen. Es war Vorfreude überall zu spüren, ob künstlich-medial evoziert oder nicht, sei einmal dahingestellt; die Stimmung war positiv. Das war wichtig!
Nun ist heute die Stimmung nicht positiv in Deutschland. Ganz und gar nicht, leider. Nicht unter den Menschen in Deutschland, in der Wirtschaft, in der Politik – mit einem Rechtsruck nach der Europa-Wahl am 9. Juni ist zu rechnen, dessen Auswüchse nur Schlimmes erahnen lassen – und notabene in Bezug auf die „Mannschaft“. Zwar sind die jüngsten Ergebnisse und die Art und Weise des Fußballspielens vielversprechend, der Kader gut besetzt, der Trainer fähig, dennoch fehlt es an etwas ganz Elementaren: Den Glauben an die, die den Adler tragen. Man traut ihnen keinen Titelgewinn zu, noch nicht einmal einen Halbfinaleinzug. Die Enttäuschungen der Bundeself ab 2018, angefangen mit der verkorksten WM in Russland, sitzen noch tief in der arg gebeutelten deutschen Fansseele. Man ist froh als Fan, wenn die Gruppenphase überstanden wird. Dazu hat auch ein unsicheres Umfeld mit zu vielen Trainerwechseln entscheidend beigetragen. Minimal- statt Maximalprinzip, wenn man so will, ist die neue Losung für die DFB-Elf und deren schrumpfende Basis.
WM 2006, ein Rückblick: Damals stand ein Volk hinter einer Mannschaft, die sicherlich nicht schlecht war, aber auch nicht mit Topstars aufwartete. Später wurden einige damalige Märchenhelden zu Topstars und Weltmeistern. Auch gab es eine enttäuschende EM in Portugal, zwei Jahre vor der Heim-WM. Eine Analogie zur WM 2022, die ebenso wie die EM 2004 als Katastrophe bewertet werden darf. Trotzdem war fast alles anders als heuer.
Die, die das Sommermärchen erlebten und als Fans maßgeblich mitgestalteten, sind heute älter geworden und sind ernüchternd oder gar resigniert ob der Probleme, mit denen sie größtenteils konfrontiert sind. Es sei denn, man gehört zu den oberen zehn Prozent der Gesellschaft, die sich fast alles leisten und erlauben darf. Das sind aber nicht die normalen Fans, die „Normalos“, für die Fußball einmal einen hohen Stellenwert hatte. Sie sind nicht mehr Mitte oder Ende Zwanzig, sondern stehen mitten im Leben, müssen eine Familie ernähren, müssen den sozialen Status konservieren oder gar ausbauen, je nach Ideologie und Denkart. Und sie müssen noch lange knüppeln, um irgendwann mal eine ordentliche und leistungsgerechte Rente zu bekommen. Das, also das Ökonomische, bestimmt ihr Leben, nicht (mehr) das Abschneiden der deutschen Elf. Bleibt also kaum etwas übrig für ein Sommermärchen 2.0. Die Menschen in Deutschland scheinen wegen der vielen Krisen und der enttäuschenden DFB-Resultate müde zu sein, da wird auch keine kalte Dusche in Form einer Heim-EM erfrischend wirken.
Die jungen DFB-Fans sind enthusiastisch und unbekümmert wie wir damals, aber doch öfter einmal abgelenkt von irrleitenden Offerten, die die Welt der achso sozialen Medien bereithält. TikTok und Instgram sind nun einmal etwas anders als ein gemeinsames Singen der Nationalhymne, Rudelgucken oder ein spontaner Autokorso. Sie kollektivieren nicht, sondern individualiern. Ersteres brauchen wir, um ein Sommermärchen 2.0 wiederzuerleben.
Es ist viel passiert in den vergangenen 18 Jahren. Krisen haben das Land und seine Bevölkerung heimgesucht, die es vor 2006 so lange nicht mehr gab. Und nicht in diesen kurzen Abständen: Finanzkrise, NSU, Flüchtlingskrise, Coronaviruskrise und zuletzt die Energiekrise. Allen voran die Coronaviruspandemie hat die Gesellschaft endgültig entzweit und viele isoliert, soziale Bindungen dauerhaft aufgelöst und kaum therapierbares Misstrauen gesät. Man überlegt sich heutzutage zweimal, ob man zum Rudelschauen in die Kneipe nebenan, wenn diese den zunehmenden ökonomischen Druck noch standhält, oder gar ins Stadion geht. Irgendwie schwingt bei vielen noch das Abstandsgebot mit.
Der imaginäre Kitt, der Gesellschaften zusammenhalten soll, ist mehr denn je brüchig, ja der soziale Zusammenhalt bedroht. In Deutschland werden Politiker, Amts- und Mandatsträger und Aktivisten aggressiv angepöbelt und körperlich gegriffen, Menschen protestieren öffentlich für Terrororganisationen, Flüchtlinge werden diskriminiert und teilweise auch verfolgt, Flüchtlinge tragen ihrerseits wiederum Probleme mit ins Land, mit denen „die“ Deutschen nichts zu tun haben wollen. Die Gesellschaft ist tief gespalten. Das „Wir gegen die“ bestimmt unser Leben mehr als das Miteinander. Wie will man angesichts dessen gemeinsam feiernd in den Armen liegen und die Nationalmannschaft anfeuern?
Außerdem ist eine EM auch etwas anders als eine WM. Das Exotische, das nicht selten Nicht-Fans magisch anzieht, ist bei einer kontinentalen Meisterschaft nicht so ausgeprägt wie bei globalen Wettkämpfen.
Dieser Artikel hat mein Herz tief berührt! Du hast es geschafft, die Magie und Leidenschaft des Fußballs einmal mehr zum Leben zu erwecken. Vielen Dank für diese nostalgische und inspirierende Reise.