Jetzt spätestens – besonders nach der kongenialen Verfilmung von „Tage des letzten Schnees“ im ZDF heute Abend und dann noch zu sehen in der Mediathek – haben wir in der gehobenen deutschen Krimi-Literatur einen neuen Star: Jan Costin Wagner. Jahrgang 1972, ein Germanist aus Hessen, schrieb er bisher immer Romane, die in Finnland spielten, in uns eher fremden Umgebungen, fremd auch diese Melange aus Melancholie und brutalen Fakten, ich fühlte mich erinnert an jene düster poetischen Atmosphären, die der Finne Aki Kaurismäki in seinen Kinofilmen so unnachahmlich hinbekam. Eine heftige und doch gleichzeitig in diesem Genre sonst selten so unspektakuläre Gestimmtheit zaubert Wagner, die seine Leser*innen dennoch hereinzieht in die Schicksale scheinbar normaler Menschen, eine Sogwirkung, die durch das filigrane Feiern von alltäglicher Ambivalenz nur unzureichend erklärt werden kann. Im neusten Roman ist der Tatort in Deutschland, ein kleiner Junge verschwindet während eines Besuchs mit seiner Mutter auf einem Flohmarkt, Er taucht nicht mehr auf, und aus den verschiedensten Perspektiven – der Mutter, der beiden Kriminalkommissare, und weiterer unmittelbar betroffener Personen – mehr sei hier nicht verraten – fächert sich das schicksalhafte Panorama auf, wie es aktuell auch in der bundesrepublikanischen Nachrichtenlage erschreckend gehäuft auftaucht. Aus konträren Blickwinkeln entsteht aus Verzweiflungssplittern, aber auch aus pathologischer Stumpfheit ein Klima der Fassungslosigkeit. Unterbrochen durch die eigentlich privaten Hintergründe der Kommissare, die jedoch auch seltsam ungereimt, gefährdet, ratlos und traurig daherkommen, entfaltet sich eine Art mentales Kaleidoskop unserer deutschen Jetztzeit, die in vielerlei Hinsicht von sowohl gesellschaftlicher wie seelischer Desorientierung durchdrungen zu sein scheint. Aber – und das ist die große Kunst des Jan Costin Wagner – es gibt kleine schöne Inseln der Hoffnung, und es gibt sie noch, manchmal, die Behutsamkeit zwischen den Leuten, ganz unerwartet.
Jan Costin Wagner: Sommer bei Nacht. Verlag Galiani, 311 S., 20 €
Bildquelle: Wikipedia, Sven Teschke, CC BY-SA 3.0 de,