Margot Friedländer ist 102 Jahre alt, sie hat den Holocaust überlebt, wanderte in die USA aus und kehrte zurück ins Land der Täter. Eine tapfere Frau, die uns Deutschen die Hand reicht, weil sie vergibt, was unter den Nazis einst an unsäglichen Verbrechen geschah, an den Juden vor allem, an Sinti und Roma, an Andersdenkenden wie Kommunisten, Sozialdemokraten, Zeugen Jehovas, Homosexuellen, an Polen, Russen, Ukrainern, Holländern, Franzosen, damit höre ich auf, weil ich die Zeit nicht habe, alle Opfer der Nazis zu nennen. Und diese mutige Margot Friedländer, die in die Schulen geht, um die Erinnerung an die Nazi-Diktatur wachzuhalten, ist natürlich geschockt von der Verrohung der politischen Debatte in Deutschland, vom wieder aufgekeimten Hass auf die Juden, vom Aufstieg der in weiten Teilen rechtsextremistischen AFD. Alles das hatte Margot Friedländer sich „nicht träumen lassen, als ich vor 14 Jahren zurückgekommen bin“. Aus Amerika nach Deutschland. Und diese Frau beschwört das Publikum anlässlich des Deutschen Filmpreises, dem Hass entgegenzutreten, der sich breitgemacht hat im Lande. „Ich bitte Euch, seid Menschen“, mahnt sie gleich zweimal und sie setzt dem noch eine Mahnung hinzu und die Erinnerung, die uns alle betrifft, zumindest die Demokratinnen und Demokraten: „So hat es damals auch angefangen.“ 1933.
Im Theater am Potsdamer Platz wurde Margot Friedländer, deren Mutter und Bruder in Auschwitz ermordet wurden und die selber das KZ Theresienstadt gemeinsam mit ihrem späteren Mann Adolf Friedländer überlebte, gefeiert für ihre kurze Rede, die wie ein Appell wirkte. „In diesem Raum sitzen ganz viele Geschichtenerzähler. Ihr habt die Verantwortung, die Kraft des Films zu nutzen. damit so etwas nie wieder passiert.“ Sagte sie und fuhr fort: „Ich bitte Euch, mich zu unterstützen, dass die Geschichte sich nicht wiederholt.“ Es liege nun in der Hand aller, das Leben zu gestalten. „Was war, das können wir nun nicht mehr ändern, aber es darf nie, nie wieder geschehen. Ich bitte Euch seid Menschen.“ Worte einer Zeitzeugin, die gerade mitbekommen hatte, dass in Dresden der SPD-Spitzenkandidat Matthias Ecke bei einem Angriff schwer verletzt und ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Auch Grüne waren beim Kleben von Wahlplakaten angegangen und geschlagen und getreten worden. Von Rechtsextremisten. Kurz zuvor war die Grünen-Politikerin Kathrin Göring-Eckardt in ihrem Auto an der Weiterfahrt gehindert worden. Monate vorher hatte der Grünen-Wirtschaftsminister Robert Habeck vor einer aufgebrachten Menschen-Menge nur gerettet werden können, weil der Kapitän des Fährschiffs kehrt machte und aufs Meer zurückfuhr.
Enthemmte Anfeindungen, die immer schlimmer werden, die auch gegen Juden gerichtet sind, Morddrohungen, Hakenkreuz-Symbole an Häusern, offene Angriffe auf die KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Den Aussagen des Direktors der Stätten, Jens-Christian Wagner, zufolge hätten die Attacken deutlich zugenommen. Wagner sieht einen „erinnerungspolitischen Klimawandel.“ Im Grunde das, was der AfD-Chef von Thüringen, Höcke vor Jahr und Tag schon gefordert hatte, als er das Holocaust-Mahnmal in der Nähe des Brandenburger Tores in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnet und eine 180-Grad-Wende in der Erinnerungskultur angemahnt hatte. Ein Mahnmal, das an die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch Nazi-Deutschland erinnert.
Es ist etwas aus den Fugen geraten in Deutschland. Rechtsextremistisch motivierte Straften sind nach den Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes und des Verfassungsschutzes auf 29000 angestiegen, ein Plus von einigen Tausend. Auch die Zahl antisemitischer Straftaten nahm deutlich zu, allein im letzten Quartal des Jahres 2023 ereigneten sich 2782 Straftaten. Seit 1990 hat das BKA 113 Todesopfer rechter Gewalt gezählt. Es ist keine Einzeltat, was da in der Republik täglich passiert. Der Verfassungsschutz stuft die Zahl der Rechtsextremisten auf 40000 ein, darunter sollen rund 10000 AfD-Mitglieder sein. Die Partei, las ich, habe dagegen protestiert. 146 Demonstrationen der Rechten wurden im Jahr gezählt. Die Anti-Rassismus-Beauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan(SPD), sieht im Rechtsextremismus die „größte Gefahr für unser friedliches Miteinander.“
1000 Menschen versammelten sich am Sonntagabend vor dem Brandenburger Tor, um gegen rechte Gewalt zu demonstrieren, darunter die CDU-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst(NRW) und Michael Kretschmer(Sachsen), SPD-Chef Lars Klingbeil und Generalsekretär Detlef Kühnert, für die Grünen waren Ricarda Lang und Omnid Nouripour dabei. Hendrik Wüst attackierte die AfD als eine „Nazi-Partei“. Klingbeil griff ebenfalls die AfD und ihre führenden Leute an. Die Höckes, Gaulands und Weidels hätten vielleicht nicht die Faust erhoben und direkt zugeschlagen, aber sie hätten das gesellschaftliche Klima in diesem Land verändert, das andere Menschen dazu bringe, auf Ehrenamtliche, Aktivisten, auf Politikerinnen und Politiker einzuschlagen. Und die Aktivistin Luisa Neubauer stellte fest, dass diese Attacken auf SPD und Grüne auf alle Demokratinnen und Demokraten zielten.
Es ist geschehen und es wird wieder geschehen. Dieser Satz des ehemaligen Auschwitz-Häftlings Primo Levi wird aktueller denn je. Gerade in diesen Tagen, kurz vor dem 8. Mai. Der 8. Mai 1945, der Tag der Kapitulation, ist aber spätestens seit der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker 40 Jahre später mehr der Tag der Befreiung von der Nazi-Diktatur, einer der schlimmsten Verbrecher-Regimes in Europa. An jenem Tag werden wir an das Ende des Krieges erinnert, an ein Trümmer-Land, daran, was die Nazis Millionen Europäern angetan hatten. Und Millionen Deutsche hatten Hitler zugejubelt, fast zehn Millionen waren Mitglieder der NSDAP. Die Zahl der Widerständler gegen Hitler, Goebbels, Göring, Himmler und wie sie alle hießen, war gering. Aber es gab die Weiße Rose, Georg Elsler, Stauffenberg, den Kreisauer Kreis, Sozialdemokraten, Kommunisten, mutige Frauen und Männer, nur wenige im Vergleich zum Millionen-Heer der Hitler-Anhänger.
Als Kind habe ich wenig Erinnerung an den 8. Mai 1945. Ich war vier Jahre alt, unsere Familie hatte Krieg und Nazis überlebt, so etwas wie Erleichterung machte sich breit, das spürte man, aber andererseits war das, was man hatte, wenig. Man lebte auf engstem Raum, Nahrung musste organisiert werden. Davon bekam ich wenig mit, meine Mutter ging hamstern, tauschen, gehungert habe ich nicht, die Ansprüche waren entsprechend gering. Wer hatte schon mehr? Plumps-Klo war der Normalfall. Wer sich die Bilder anschaut von damals, die Männer sahen mager aus, ohne Bäuche. Ich habe gesehen, dass Männer die Zigaretten-Kippen auflasen, die US-Soldaten auf die Straße warfen. Bilder von Männern mit nur einem Arm oder einem Bein sind mir geblieben im Kopf, sie verkaufen Schuh-Bänder. Eintopf-Essen war normal, wenig Fleisch, viel Gemüse aus dem Garten. Nicht alles schmeckte, Fett war selten, Bauern gaben wenig ab, etwas Milch, sie verjagten uns von den Stoppelfeldern, die sie zuvor abgeerntet hatten. Der Krieg war vorbei, ich hörte keine Sirenen mehr, durfte nachts durchschlafen und wurde nicht mehr von den Eltern und älteren Geschwistern wegen Flieger-Alarm geweckt.
Für Politik war ich zu klein, erst viel später fiel mir beim Lesen entsprechender Bücher auf, dass quasi vom ersten Tag nach Kriegsende Deutschland voller Demokraten gewesen sein muss, plötzlich gab es keinen einzigen Nazi mehr, aber viele traten so auf, als wären sie im Widerstand gegen Hitler und Co gewesen. Dabei war die Demokratie etwas, was Amerikaner und Briten uns beibrachten.
Der 8. Mai 2024, das sind dann schon 79 Jahre nach dem Krieg. Nie wieder hatten sie anfangs geschworen, nie wieder Krieg. Und schon 1955 gab es die Bundeswehr. Kaum einer verlor ein Wort über die Nazi-Zeit, das Wirtschaftswunder ließ dafür keine Zeit, las ich Anfang der 60er Jahre. Der Holocaust hatte praktisch nicht stattgefunden, die Angst vor den Russen ersetzte das braune Thema, das vielen so peinlich war, es war ja auch leicht, die Sowjets standen in Berlin, die Stadt war geteilt. Der Marschallplan sorgte für Wunder, Deutschland band sich an den Westen, dafür sorgte Konrad Adenauer und der Franzose de Gaulle und andere. Europa wuchs zusammen, West-Europa, die EWG kam, die Nato-Mitgliedschaft der Deutschen, später die EU. Wir sind heute von Freunden umzingelt. Das darf man nicht vergessen, wenn man zurückblickt, wie das war mit der Juden-Vernichtung, dem vom Zaun gebrochenen Krieg von Nazi-Deutschland. Als ich 1989 das erste Mal die KZ-Gedenkstätte in Auschwitz besichtigte- es war anlässlich einer Reise zum 50. Jahrestags des Überfalls der Deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939- habe ich mich gefragt, warum Polen und Franzosen, Belgier, Holländer, Russen und Ukrainer überhaupt noch einem Deutschen die Hand gaben. Nach allem, was passiert war. Aber dafür sorgten neben Adenauer später auch Politiker wie Willy Brandt von der SPD, der von den Nazis gejagt worden und nach Skandinavien geflohen war und später Bundeskanzler wurde. Der uns versöhnte mit den Polen und Tschechen, Russen und Slowaken und Ungarn, die Aussöhnung mit dem Westen war Adenauers Werk. Als Schüler war ich mal in Burgund in Frankreich und wurde von älteren Franzosen, die gegen Deutschland gekämpft hatten, eingeladen, mit ihnen auf die deutsch-französische Freundschaft zu trinken. Vive l´amitié franco-allemande!
Ja, die Revanchisten sehen das anders, sie sehnen sich nach irgendetwas Nationalistischem zurück. Sie spalten. Sie waren dagegen, dass Helmut Kohl die Oder-Neiße-Linie als polnische West-Grenze anerkannte. Sie sind gegen die EU, dabei sorgt sie für den Wohlstand in weiten Teilen Europas, auch hier in Deutschland. Wir brauchen sogar eine stärkere EU, die sich noch besser verteidigten könnte gegen Russland. Auch den Überfall Russlands auf die Ukraine sehen die Revanchisten anders, sie stehen eng bei Putin, zu eng. Sie wollen die Niederlage 1945 vergessen, sie sollten sich die Vorgeschichte ansehen, als alles begann 1933. Den Untergang des Deutschen Reiches haben die Nazis verschuldet, weil sie die Nachbarn überfallen haben, am Ende war fast alles kaputt. Vergessen?
Und dann feiern wir noch am 23. Mai das Grundgesetz. Es ist der 75. Geburtstag. Die Stunde des demokratischen Deutschlands, das friedlich mitten in Europa ohne Grenzen lebt. Ohne Hass und Hetze. 75 Jahre Stabilität, wirtschaftlicher Aufstieg, internationale Anerkennung. Ja, das Land hat auch Macken, nicht alles ist gut oder gar perfekt. Und es ist auch nicht alles gerecht, daran arbeiten die demokratischen Politiker aller demokratischen Parteien. Aber es ist das beste Deutschland, das es je in der Geschichte gab. Die Dimension des Grundgesetzes macht schon Artikel 1 deutlich: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Alle Menschen sind gleich, Männer und Frauen, die Hautfarbe spielt ebenso keine Rolle wie die Religion oder die Herkunft. Seit 75 Jahren wird hier demokratisch gewählt, haben wir wechselnde demokratische Regierungen, hatten und haben wir CDU- und SPD-Kanzler, von Adenauer über Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel, Scholz. Die Bundespräsidenten stellten die FDP, die CDU, die SPD, Joachim Gauck ist parteilos. Geschadet hat kein Wechsel. Die Republik ist stabil. Immer noch. Und doch müssen wir aufpassen, die Feinde der Demokratie nehmen zu. Margot Friedländer hat Recht zu warnen und zu mahnen. Nie wieder darf es so werden, wie es mal war, als Extremisten an die Macht kamen und sie dann nicht mehr aus der Hand gaben. Bis alles in Scherben lag. Die Demokratie braucht gerade jetzt Demokraten, die bereit sind, für sie zu kämpfen. Keine Toleranz der Intoleranz. Haben die Verfassungsmütter und -väter einst geschworen.
Nie wieder ist jetzt. Rufen die Demonstranten von Nord bis Süd, von Ost bis West. Sie wollen keine braune autoritäre Herrschaft, sondern ein buntes, demokratisches, mitbestimmtes Deutschland. Wenn es schiefgeht, haben wir versagt.
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