Sinn und Zweck, Schaden und Nutzen von Sanktionen gegen Russland – eine vergiftete Diskussion. Manuskript eines Referats beim Rosa-Luxemburg-Gesprächskreis Sülz-Klettenberg, am 19. Oktober 2022.
Bitte erwartet von mir kein Referat mit fertigen Antworten zum politischen Umgang mit dem Krieg in der Ukraine. Im Ankündigungstext zu dieser Veranstaltung wurden 5 Fragezeichen gesetzt und es wurde zurecht geschrieben, dass wir die in der Ankündigung aufgeworfenen Fragen diskutieren wollen.
Mir geht es vor allem darum, Fragen zu den Sanktionen überhaupt erst einmal zu formulieren und es wäre viel gewonnen, wenn solche Fragen wieder in der Öffentlichkeit diskutierbar würden.
Wir alle erleben es täglich: Emotionalisierung und moralisch überhöhte Vorwürfe beherrschen den öffentlichen Diskurs über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.
Wenn wir abends die Tagesschau oder die heute-Nachrichten einschalten, sehen wir minutenlang Bilder von zerbombten Häusern, Tote und Interviews mit verletzten Menschen.
Natürlich ist das alles schrecklich. Krieg ist furchtbar! Und zwar jeder Krieg! Krieg bringt Zerstörung und unendliches menschliches Leid. Im Krieg geschehen Verbrechen und es gibt Grausamkeit auf allen Seiten.
Aber müssten nicht gerade deshalb alle Anstrengungen und alle Überlegungen darauf gerichtet sein, den Krieg zu beenden?
Doch das Gegenteil ist der Fall: Der Nachrichtenwert tritt hinter den schrecklichen Bildern völlig zurück und mit der so erzeugten Empathie der Bevölkerung gegenüber den ukrainischen Opfern entwickelt sich eine Eskalationsdynamik nach mehr schweren Waffen, nach Aufrüstung, nach noch mehr Geld für die Rüstung. Hinzu kommt neuerdings auch noch die Schulung von tausenden ukrainischen Soldaten in Deutschland und anderen europäischen Ländern.
Zurecht schreibt Heribert Prantl, ehemaliges Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung: „Es ist fatal und unendlich töricht, dass hierzulande schon die Wörter „Waffenstillstand“, „Friedensappell“ und „Frieden“ als anrüchig gelten, wenn sie im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine gebraucht werden. Es ist fatal, wenn das Werben für eine diplomatische Offensive fast schon als Beihilfe zum Verbrechen bewertet wird.“
Mahnende oder auch nur nachdenkliche Stimmen werden moralisierend abgewehrt und Menschen, die diplomatische Lösungen anmahnen, werden als „Putin-Versteher“, als Abweichler in die rechte Ecke gestellt. Pazifisten werden als Putins „Fünfte Kolonne“, also als willige Helfer Russlands verunglimpft.
Dabei wird der rechten Propaganda gerade durch eine mit Denktabus eingeschränkte Debatte erst richtig Raum geboten. Diese Verengung des geduldeten Meinungsspektrums stellt nicht nur eine Denkblockade für eine Verhandlungslösung dar, sie ist sogar gefährlich für die Demokratie, die von der Vielfalt der Meinungen und Argumenten lebt und mit der laut dem jüngsten Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung im Westen zunehmend weniger und im Osten gar nur noch 39 Prozent zufrieden sind.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat recht, wenn er sagt, dass „die Stimmung in der Bevölkerung auf einem ganz sensiblen Punkt“ angekommen sei und es ist auch nicht aus der Luft gegriffen, wenn Außenministerin Annalena Baerbock sogar vor „Volksaufständen“ warnt.
Wenn die öffentliche Debatte von Moral beherrscht wird und Gefühle häufig angeheizt und instrumentalisiert werden, haben es sachliche Argumente schwer und eine nüchterne und rationale Debatte wird blockiert.
Oder wie der verstorbene Satiriker Wiglaf Droste sang: „Ist das Hirn zu kurz gekommen, wird sehr gern Moral genommen“.
Noch eine Vorbemerkung:
Ich will mich heute Abend nicht mit militärischen Fragen, also mit Waffenlieferungen oder mit der Frage des Überschreitens einer Grenze zur Kriegsteilnahme auseinandersetzen. Anders als die selbst ernannten Militärexperten Anton Hofreiter oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann bin ich zu wenig Fachmann und dafür wäre eine gesonderte Diskussion notwendig.
Ich will Sie heute Abend zu einer Diskussion über die Sanktionspolitik des „Westens“ anregen. Acht Monate nach dem Einmarsch des russischen Militärs, ist es höchste Zeit eine nüchterne Bilanz über diese Sanktionspolitik zu ziehen, denn nicht nur der Krieg in der Ukraine scheint in einem Stellungs- uns Zermürbungskrieg, der täglich zahllose Opfer kostet und schreckliches Leid verursacht, festzustecken, sondern auch an der politisch-diplomatischen Front gibt es kaum Bewegung.
Statt eines „heißen“ Krieges führt der Westen derzeit einen „Wirtschaftskrieg“ gegen Russland.
Übrigens: In der Ankündigung für heute Abend steht „Wirtschaftskrieg“ ganz bewusst in Anführungszeichen, obwohl dieser Begriff vielfach – etwa auch von Wolfgang Schäuble -benutzt wird, halte ich es mit Gregor Gysi, der diesen Ausdruck für unangemessen hält, weil man einen militärischen Krieg nicht mit Wirtschaftssanktionen gleichsetzen sollte.
Ich plädiere für eine sachliche und differenzierte Debatte über die Sanktionen. Es sind doch ganz banale Fragen und das Ringen um Antworten wäre so wichtig für den äußeren, aber auch den inneren Frieden.
Ein paar dieser offen zutage liegenden Fragen will ich kurz anreißen und zur Diskussion stellen:
– Sind Sanktionen nicht auch Vertragsbrüche?
– Sind die Sanktionen eigentlich völkerrechtskonform?
– Wird bei der Sanktionspolitik nicht mit zweierlei moralischen Maßstäben gemessen?
– Können die Sanktionen dazu beitragen, den Krieg zu beenden und weiteres menschliches Leid und materielle Zerstörung in der Ukraine zu verhindern?
– Ist der sog. „Wirtschaftskrieg“ zu gewinnen?
– Wie wahrscheinlich ist ein „Sieg“ der Ukraine?
– Kann Europa, kann vor allem kann Deutschland die Sanktionen durchhalten?
– Wird mit den Sanktionen eine geopolitische oder eine friedenspolitische Strategie verfolgt?
– Welche Fragen stellen sich aus einer friedenspolitischen Perspektive?
Zur ersten Frage: Sind Sanktionen nicht auch Vertragsbrüche?
Wir müssen „Doppelstandards vermeiden“, schrieb Bundeskanzler Scholz zurecht im Juli in einem Namensbeitrag für die FAZ. Wer sich über Vertragsbrüche Putins bei der Lieferung von Gas echauffiert, darf nicht einäugig unterschlagen, dass durch die inzwischen acht Sanktionspakete mit nahezu 12.000 Einzelsanktionen, die die USA, die EU und insgesamt weitere etwa 40 Staaten des Westens verhängt haben, gleichfalls eine Vielzahl von Verträgen mit Russland gebrochen wurden.
Wenn etwa vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz oder von der EU-Kommission schon vor Monaten ein sofortiger Stopp der Gasimporte aus Russland gefordert wurde oder wenn von der Bundesregierung ein Embargo für Kohle und Öl ausgesprochen wird, ist es da nicht widersprüchlich gleichzeitig zu erwarten, dass Putin das einfach so hinnimmt und nicht seinerseits bestehende Verträge aufkündigt?
War dieser Boomerang-Effekt eines Lieferstopps eigentlich nicht zu erwarten?
Der frühere Pentagon-Berater Robert English merkt dazu sarkastisch an: „Hebe niemals eine Handgranate auf und fuchtle nie mit ihr in Richtung Deines Gegners, bevor Du nicht in der Lage bist, sie zu verwenden — sie mag sonst losgehen in Deiner eigenen Hand.“
Sind die Sanktionen eigentlich völkerrechtskonform?
Obwohl die westlichen Sanktionen nicht nach Art. 39ff. der UN-Charta vom Sicherheitsrat beschlossen wurden, wurde die Frage, ob diese völkerrechtskonform sind, allenfalls in kleinsten Fachzirkeln diskutiert. Viele Staaten halten solche einseitigen Sanktionen für völkerrechtswidrig.
Juristisch ist die Frage umstritten. So werden einerseits die westlichen Sanktionen im Vergleich zum völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg als verhältnismäßig eingestuft, andererseits beruht das Völkerrecht im Wesentlichen auf dem Gewohnheitsrecht, das heißt, es entfaltet seine Kraft letztlich dadurch, dass die Staaten die Normen einhalten, deshalb ist es keineswegs unproblematisch, wenn auf Völkerrechtsverletzungen mit Rechtsverletzungen geantwortet wird.
Wird bei der Sanktionspolitik nicht mit zweierlei moralischen Maßstäben gemessen?
Damit die Saudis ein bisschen mehr Öl pumpen sollten, begrüßte Präsident Joe Biden den von ihm nach dem grausamen Khashoggi-Mord als „Schurken“ beschimpften arabischen Kronprinzen Mohammed bin Salman mit jovialem „Fistbump“. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron drückten dem Kronprinzen herzlich die Hand.
Dabei umgeht Saudi-Arabien das westliche Ölembargo und verdoppelte im zweiten Quartal dieses Jahres den Import von russischem Öl auf 48.000 Barrels pro Tag.
Im dortigen Königreich gibt es permanent Menschenrechtsverletzungen wie Massenexekutionen und Enthauptungen, Ehebrecherinnen werden gesteinigt, Homosexuelle gehängt.
Ist der Krieg, den die Saudis im Jemen mit bisher fast 400.000 Toten führen, weniger grausam als Putins Krieg in der Ukraine?
Die Saudis verhöhnen diesen Kotau des Westens und wollen zusammen mit den Opec-Staaten mitten in der schwersten Energiekrise 2 Millionen Barrel Rohöl pro Tag weniger auf den Markt bringen – eine Drosselung von der wiederum auch Russland als Opec-plus-Mitglied profitiert, weil durch die Verknappung der Ölpreis weiter steigen wird.
Die Doppelmoral wird dadurch auf die Spitze getrieben, dass der Bundessicherheitsrat mit den Stimmen von Habeck und Baerbock nun auch noch Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien genehmigte.
Ein anderes Beispiel, wie mit zweierlei Maß gemessen wird:
„Europe`s American President”- wie die US-amerikanische Tageszeitung „Politico“ EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen titulierte – handelte mit dem autokratischen Präsidenten Aliyev in Aserbaidschan eine Absichtserklärung aus, wonach aus diesem Land innerhalb von fünf Jahren doppelt so viel Gas im Jahr geliefert werden soll wie in der Vergangenheit.
Eine Vereinbarung mit einem Staat, der nach allen politischen Indizes zu den korruptesten und autoritärsten auf der Welt gehört und der 2020 gleichfalls einen äußerst brutalen Krieg tausenden Toten mit Armenien ausgefochten hat und vor ein paar Wochen erneut schwerste Angriffe auf sein Nachbarland gestartet hat.
Man könnte die Beispiele doppelbödiger Politik beliebig fortsetzen, etwa den Kauf von umweltschädlichem Fracking-Gas aus den USA oder Katar, den Abschluss langfristiger Gasverträge, die eine Transformation der Energieerzeugung auf erneuerbare Energien um Jahre zurückwerfen. Usw. usf.
Die Kardinalfrage ist aber: Können die Sanktionen dazu beitragen, den Krieg zu beenden und weiteres menschliches Leid und materielle Zerstörung zu verhindern?
In der jüngeren Geschichte haben Sanktionen jedenfalls nie einen Krieg verhindert oder beendet. Ob Sanktionen nach dem Zweiten Weltkrieg jemals zu einem Regime-Wechsel geführt haben, ist umstritten.
Ob sie zum Zusammenbruch des Apartheid-Regimes in Südafrika geführt haben, wird bezweifelt. Im Irak haben die Sanktionen in der Bevölkerung eher Trotzreaktionen ausgelöst. Die seit 1979 gegen den Iran verhängten Sanktionen haben nicht zur Entmachtung das Mullah-Regimes geführt.
Die Schwächung der Wirtschaft eines gegnerischen Landes durch Sanktionen, schwächt nicht unbedingt auch das jeweilige dort herrschende Regime, das lässt sich in Syrien oder in Nordkorea beobachten.
Erwiesenermaßen, haben die schon ab dem Jahr 2014 massiven Sanktionen, die vom „Westen“ nach der Annexion der Krim durch die russische Föderation verhängt wurden, Putin nicht daran gehindert, einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine vom Zaun zu brechen.
Auch die Androhung von – wie es hieß – „massiven Konsequenzen und hohen Kosten“ schon vor dem Krieg, nämlich auf dem EU-Gipfel im Dezember 2021, konnten den Einmarsch nicht aufhalten.
Mit dem inzwischen schon achten Sanktionspaket der EU wurde die simple Eskalationslogik immer nur beidseitig fortgesetzt, denn auch Russland eskalierte mit einer Teilmobilmachung oder derzeit mit Raketenbeschuss auf nicht besetzte ukrainische Gebiete und auf kritische Infrastruktur. Mehr als 1100 Orte sind derzeit ohne Strom.
Ist der sog. „Wirtschaftskrieg“ zu gewinnen?
Über die Auswirkungen der Sanktionen auf Russland gibt es völlig gegensätzliche Einschätzungen. Wer der Propaganda auf beiden Seiten nicht aufsitzen will, muss zwischen den Erwartungen der westlichen Seite und den tatsächlichen Wirkungen der Sanktionen auf Russland sorgfältig unterscheiden. Denn gerade im sog. „Wirtschaftskrieg“ ist Propaganda eine der wichtigsten „Waffen“.
Ich muss an dieser Stelle auf eine detaillierte Darstellung von wirtschaftlichen Auswirkungen sowohl auf Russland, als auch auf Deutschland, Europa, ja die ganze Welt verzichten.
Eine solche Evaluation wäre jedoch längst fällig und die Fraktion der Linken hat vor ein paar Tagen mit einer Kleinen Anfrage eine solche „Erfolgskontrolle“ bei der Bundesregierung angemahnt.
Ich will nur einen einzigen Aspekt herausgreifen, nämlich die Wirkung des Energieembargos.
Nicht nur Deutschland, sondern Europa war 2021 der wichtigste Energie-Importeur aus Russland. 49 Prozent der Erdölexporte, sogar 74 Prozent der Naturgasexporte und 32 Prozent der Kohleexporte gehen an die OECD-Länder Europas. Deutschland bezog im letzten Jahr noch 55 Prozent seines Gases aus Russland.
Das immer wieder benutzte Argument, man dürfe mit den Importen von Energie nicht „Putins Kriegskasse auffüllen“, ist höchst fraglich. Russland musste zwar aufgrund der Embargos insgesamt einen Nachfragerückgang hinnehmen, weil aber die Exportpreise auf dem Markt von Öl, Kohle und Gas im Schnitt um 60 Prozent gestiegen sind, lagen die Einnahmen unter dem Strich höher als vor dem Krieg – das errechneten mehrere westliche Marktforschungsinstitute.
Signale dafür, dass Russland wirtschaftlich in die Knie gezwungen werden könnte, sind bis jetzt nicht zu erkennen. Putin erklärte jedenfalls im Juni auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg, dass der wirtschaftliche „Blitzkrieg“ gegen Russland keine Chance auf Erfolg habe, im Gegenteil verkaufte er die Sanktionen als „Chance“ für sein Land.
Manche Kritiker befürchten, dass die vom Westen verhängten Sanktionen eher zu einer Solidarisierung der Bevölkerung mit den Kriegsherren im Kreml führten und im Lande sogar eine Wagenburgmentalität verbreiteten. So meint etwa die Enkelin von Nikita Chruschtschow, Nina Chruschtschowa, die als Professorin für Internationale Politik in New York lehrt und nach eigenen Worten eine Gegnerin Putins ist: „Disney, Microsoft, McDonald’s – alle verlassen Russland. Es ist genauso, wie Putin sagt: Der Westen will uns an den Kragen. Und diese Botschaft ist jetzt viel wirkungsvoller geworden, weil die Russen es mit eigenen Augen sehen.“ Putin gehe eben nicht zu McDonald`s, er nutze auch kein Instagram.
Die Begüterteren kaufen ihre BMWs und Porsches über die Nachbarländer Belarus oder Kasachstan. Wenn man der FAZ glauben darf, dann herrschte zumindest in Moskau „unbeschwertes Sommerglück“, mit vollen Regalen mit frischem Gemüse und – wenn auch deutlich teurer – mit westlichen Produkten. Nach einer Umfrage in Moskau vom Juni dieses Jahres machen sich 58 Prozent der Befragten wegen der Sanktionen wenig (27 Prozent) oder gar keine (31 Prozent) Sorgen.
Es mag vereinzelt offenen Widerstand geben, der jedoch, wo immer die russischen Sicherheitskräfte Zugriff haben, brutal unterdrückt wird. 16.000 Menschen, die sich öffentlich gegen den Krieg eingesetzt haben, sollen inzwischen verhaftet worden sein.
Es gibt zwar keine verlässlichen Stimmungsbilder, aber derzeit scheint noch immer eine Mehrheit der Russinnen und Russen vollständig oder weitgehend hinter der dort sogenannten „militärischen Spezialoperation“ zu stehen.
Ein Ergebnis, das allerdings angesichts der totalen Zensur, der Schließung von unabhängigen Zeitungen und Fernsehsender und massiver staatlicher Repressionen gegen Oppositionelle nicht erstaunt.
Es handle sich dabei allerdings weniger um eine echte Unterstützung als um fehlenden Widerstand, sagt Lew Gudkow wissenschaftlicher Leiter des einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Russland der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Es ist jedoch auffallend, dass bislang keine einzige Großdemonstrationen für die Unterstützung der sog. „Militäroperation“ organisiert worden ist.
Inwieweit die jüngste Teilmobilmachung zu einem Stimmungswandel in Russland führt oder eher die letzten Reste des Widerstandes gegen den Krieg ins Ausland treibt, ist eine offene Frage. Das Pathos, das Putin bei der Verkündung der Mobilmachung an den Tag legte, könnte ein Indiz dafür sein, dass diese Einberufungen für das russische Machtsystem nicht ungefährlich sind – und zwar in zweierlei Hinsicht:
Die Mobilmachung kann einerseits ein Hinweis darauf sein, dass sich die Hardliner für ein härteres militärisches Vorgehen durchsetzten, worauf die Beförderung des tschetschenischen „Bluthundes“ Ramsan Kadyrow und die Ernennung des „Generals Armageddon“ Sergej Surowikin zum Oberbefehlshaber der russischen Truppen hinweisen könnte.
Andererseits weisen die offene mediale Kritik an der Einberufungspraxis und die vom Kreml selbst eingeräumten Fehler und die Absetzbewegungen von inzwischen rd. 700.000 wehrpflichtigen Russen in Nachbarländer darauf hin, dass die Unterstützung bei weniger ideologisch überzeugten Kriegsbefürwortern bröckelt. Immerhin sollen 30 Prozent der Russen für eine Beendigung des Krieges sein.
Wie wahrscheinlich ist ein „Sieg“ der Ukraine?
Seit September hat die Ukraine eine Gegenoffensive gestartet, mehrere tausend Quadratkilometer und einige hundert Dörfer sind zurückerobert worden. Ein Großangriff auf Cherson wird erwartet. Das „Momentum“ sei auf ukrainischer Seite, die Ukraine habe das Heft des Handels in der Hand. Es ist von einem „Sieg“ der Ukraine die Rede. Der Westen hat für weitere Milliarden Militärhilfe zugesagt.
Gegen solche Siegeshoffnungen steht der nüchterne Befund, dass sich die Kräfteverhältnisse zwischen Russland und der Ukraine nach wie vor drastisch unterscheiden. Die Angaben des russischen Verteidigungsministers Sergei Schoigu, wonach es in Russland 25 Millionen Reservisten gebe, mögen maßlos übertrieben sein, aber selbst wenn die russische Militärmacht geschwächt würde, so würde die Verfügung über das größte Nuklearwaffenarsenal ausreichen, um den Nachbar oder sogar die ganze Welt zu bedrohen. Nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI verfügt Russland über 6255 Atomwaffen, von denen fast 1600 einsatzbereit sein sollen.
Nicht nur der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas vertritt die Meinung, dass „ein Krieg gegen eine Atommacht nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinne „gewonnen“ werden kann, jedenfalls nicht mit Mitteln militärischer Gewalt“. Der Satz John F. Kennedys als Lehre aus der Kuba-Krise ist auch nach nunmehr 60 Jahren immer noch richtig, nämlich „dass die Führer von Nuklearmächten sich nicht gegenseitig in die Lage bringen dürfen, dass es nur noch die Wahl zwischen Demütigung und Atomkrieg gibt.“
Und die atomare Gefahr ist konkret. Putin blufft nicht, sagen Angela Merkel und Joe Biden. Ein neues rotes Telefon ist nicht in Sicht.
Die atomare Gefahr wird nicht von Leopard-Panzern abgewendet.
Die russische Nuklearkriegsdoktrin erlaubte ja nicht nur Atomschläge mit Atomschlägen zu beantworten, sondern jeden Angriff, also auch einen Angriff mit konventionellen Waffen, der Russlands Überleben gefährdet.
Bedrohlich sind auch die Planspiele der geheim tagenden Nuklearen Planungsgruppe der NATO am letzten Donnerstag in Brüssel darüber, wie die nukleare Abschreckung des Verteidigungsbündnisses angesichts der aktuellen russischen Drohungen maximiert werden könne.
Selbst US-Präsident Biden warnt: “Zum ersten Mal seit der Kuba-Krise haben wir es mit einer direkten Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen zu tun“ und malt ein „Armageddon“ an die Wand.
Es ist beängstigend, dass der Westen, die EU oder auch die Bundesregierung schweigen, wenn Präsident Selenskij provozierend von der NATO verlangt: „die Möglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes durch Russland auszuschließen“ und wichtig sei: „dass es Präventivschläge sind, damit sie (nämlich die Russen) wissen, was ihnen blüht, wenn sie sie anwenden“. Es dürfe nicht umgekehrt sein: „Auf Schläge von Russland warten, um dann zu sagen: ›Ach du kommst mir so, dann bekommst du jetzt von uns‹.”
Diese Zuspitzung auf einen möglichen Atomkrieg erforderte statt betretenem Stillschweigen ähnlich entschlossene Deeskalationsmaßnahmen wie während der Kuba-Krise. Aus der von Scholz angekündigten „Zeitenwende“ darf nicht – wie Heribert Prantl das formuliert hat – ein „Zeitenende“ für Europa werden.
Aber nicht nur Atomwaffen sind eine große Gefahr für eine nukleare Katastrophe, sondern auch die Kämpfe im Umkreis um die ukrainischen Kernkraftwerke.
Kann Europa und kann vor allem Deutschland die Sanktionen durchhalten?
Die Sanktionen tangieren die USA wirtschaftlich nur wenig. Doch Europa und zuvorderst Deutschland müssen die Sanktionen durchhalten können. Die Sanktionen gegen Russland führten zu einer regelrechten Preisexplosion: Seit August 2021 ist der Gaspreis für Verbraucher um etwa das Dreieinhalbfache angestiegen. Nach der jüngsten Umfrage von infratest dimap machen sich 61 Prozent der Befragten Sorge, dass sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können.
Die EU-Kommission schätzt, dass bis 2027 Investitionen von 210 Milliarden Euro notwendig seien, um den Import russischer Energie auslaufen zu lassen.
Die Bundesregierung hat inzwischen drei sog. „Entlastungspakte“ mit einem Volumen von 95 Milliarden Euro beschlossen. Für den sog. „Abwehrschirm“ plant der Bund in den nächsten Jahren weitere 200 Milliarden Euro ein und seit Olaf Scholz die „Zeitenwende“ ausgerufen hat, ist ein Sondervermögen von 100 Milliarden für die Rüstung vorgesehen. Nimmt man die Hilfen für Geflüchtete, für Subventionen beim Sprit und beim ÖPNV u.v.a.m. dazu, dann werden – verursacht durch den Krieg in der Ukraine – bei Bund, Land und Kommunen Mittel im Umfang von weit über einer halben Billion Euro gebunden, die für andere produktive Zwecke wie den Erhalt der Infrastruktur, für Bildung allgemein, für die Transformation in eine klimaneutrale Gesellschaft oder auch für die globale Hunger- und Armutskrise eingesetzt werden könnten.
Diejenigen Staaten in der Europäischen Union und die politischen Kräfte, die in Deutschland zur Überwindung eines Gasnotstandes auf die Kernenergie setzen, sollten wissen, dass sie bei den Kernkraftwerken gleichfalls von Russland abhängig sind, wie bei Kohle und Gas. Die EU bezieht rund 40 Prozent ihres Kernbrennstoffs von Russland und dem eng mit im verbündeten Kasachstan.
In der Eurozone liegt die Inflationsrate zwischen über 20 Prozent in den baltischen Staaten und bei über 9 Prozent im Durschnitt der Eurozone. In Deutschland in diesem Jahr um 10 Prozent und im kommenden Jahr nicht viel niedriger. Neuerdings geht auch die Bundesregierung im kommenden Jahr von einer Rezession aus. In der Wachstumsprognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist Deutschland mit einem Minus von 0,3 Prozent das Schlusslicht unter den Industrienationen.
Ich will auf die Euch sicherlich bekannten wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen, in Form der Inflation, der Explosion der Erzeugerpreise, in Form einer Rezession und der Gefahr einer Deindustrialisierung nicht weiter eingehen.
Nur so viel: Wie sollte die exportabhängige deutsche Wirtschaft auch wettbewerbsfähig bleiben, wenn die Firmen hierzulande gegenüber den USA einen um den Faktor acht bis neun höheren Gaspreis bezahlen müssen?
Wegen des Einkaufs von Energie aus anderen Quellen als den bisherigen verliere die deutsche Volkswirtschaft in diesem Jahr knapp 60 Milliarden Euro, sagte Habeck am vergangenen Donnerstag beim Klimakongress des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) in Berlin. Im kommenden Jahr könnten es knapp 100 Milliarden Euro Verlust werden.
Kostete die Kilowattstunde 2018 noch 5,93 ct/kWh, so liegt der Durchschnittspreis für eine Kilowattstunde hierzulande inzwischen bei 21,45 ct/kWh. Zahlte eine Familie mit einem Verbrauch von 20.000 kWh vor einem Jahr noch 1.258 Euro im Jahr, sind es aktuell durchschnittlich 4.350 Euro (Stand 1. September 2022). Dies entspricht einem Anstieg von ca. 246 Prozent.
Zwar hat die Bundesregierung befristet zum 31. März 2024 die Mehrwertsteuer auf Gas von 19 Prozent auf 7 Prozent gesenkt. Doch trotz der zahlreichen Hilfen dürften die Entlastungen auf die persönliche finanzielle Situation nur unvollständig, wenn überhaupt wahrgenommen werden, denn unter dem Strich müssen künftig alle mehr für Heizung, Strom und Sprit bezahlen. Und 12 Cent/KWh des zu 80% subventionierten Gaspreises entspricht eben immer noch fast dem doppelten des Preises in der Vergangenheit. Und statt 6 Abschlagszahlungen von Oktober 2022 bis März 2023 gibt es eben nur eine. Die Gaspreisbremse tritt erst in Kraft, wenn es wieder wärmer wird.
Bloomberg sagt für Deutschland wegen der hohen Energiepreise einen Fabriken-Exodus voraus. Das Handelsblatt befürchtet, dass in Schlüsselindustrien Betriebe reihenweise schließen werden und Konzerne mutmaßen über eine „Deindustrialisierung“.
Die Erzeugerpreise gewerblicher Produkte waren im August 2022 um 45,8 % höher als im August 2021. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, war dies der höchste Anstieg gegenüber dem Vorjahresmonat seit Beginn der Erhebung im Jahr 1949. Der allgemeine Lebensmittelpreisindex liegt um 58,5 Prozent höher als vor Kriegsbeginn.
Es gibt auch zahllose mittelbare Schäden, die gar nicht in einen Zusammenhang mit den Kriegsfolgen gestellt werden: Wegen der hohen Energiekosten gibt es Knappheiten und Lieferengpässe bei Düngemitteln und verschiedensten Chemikalien, bis dahin dass Fällmittel in den Kläranlagen knapp werden und Phosphate in hoher Konzentration in Flüsse gelangen.
Angesichts der dramatischen Auswirkungen auf den Wohlstand und die Wirtschaft in Deutschland, Europa, ja im Hinblick auf die Ernährungskrise auf große Teile der Welt, mehren sich die Stimmen, die eine ehrliche Bestandsaufnahme der Wirkung der Sanktionen gegen Russland fordern.
Auch Kanzler Olaf Scholz hat mehrfach als einen seiner „vier klaren Grundsätze für die Politik“ im Ukraine-Krieg genannt: „Wir unternehmen nichts, was uns und unseren Partnern mehr schadet als Russland“. Aber wo findet eine Debatte über Nutzen und Schaden der Sanktionen statt?
Es mag schwierig sein den Nutzen und den Schaden gegeneinander abzuwägen, weil der Nutzen der Sanktionen vor allem politischer Natur – also etwa die Eindämmung der russischen Expansion -, während die Kosten überwiegend ökonomischer Natur sind. Eine sachliche Debatte über das sicherlich hochkomplexe Kosten-Nutzen-Kalkül der Wirkung der Sanktionen ist vor allem auch deshalb geboten, um die Opfer, die bei uns von den Bürgerinnen und Bürgern abverlangt werden, politisch rechtfertigen zu können.
Allein die Schuld auf Putin zu schieben, wird auf Dauer nicht ausreichen.
Ohne eine sachliche Abwägung der ambivalenten Wirkungen der Sanktionen, dürfte die Emotionalisierung und Vergiftung des öffentlichen Diskurses weiter zunehmen und das Freund-Feind-Denken könnte eine gefährliche Eskalation auslösen. Nicht ohne Grund spricht Bundeskanzler Olaf Scholz vom „sozialen Sprengstoff“. Von einem „heißen Herbst“ und von einem „Wutwinter“ ist die Rede.
Dass am Sonntag vor einer Woche 10.000 AfD-Anhänger durch Berlin marschiert sind, ist schlimm, noch schlimmer ist aber, dass gerade mal 14 Hundert Gegendemonstranten auf der Straße waren. Nicht zuletzt bei der Landtagswahl in Niedersachsen hat die AfD mit der schlichten Forderung nach einem Ende der Sanktionspolitik ihre Stimmenanteile nahezu verdoppelt. Und wer die hilflosen Reaktionen der Journalisten auf die Statements des AfD-Vorsitzenden Chrupalla am Abend der Wahl in Niedersachsen gehört hat, dem wurde deutlich wie wichtig eine sachlich fundierte Gegenargumentation wäre.
Die Linke ist dagegen aus den Parlamenten im Westen geflogen und bei einer Wahlwiederholung in Berlin könnte die Partei bei einem Verlust eines Direktmandates sogar auch noch aus dem Bundestag ausscheiden.
Der Sieg der Neofaschisten in Italien ist ein Wetterleuchten am Horizont. Wie lange bietet die Besinnung auf unsere Vergangenheit noch Schutz vor einer Entwicklung nach Rechtsaußen, wie in Polen, Ungarn, Italien, Schweden oder Frankreich?
Einfach nur ein Ende der Sanktionen zu fordern ist zu schlicht
Man machte es sich allerdings zu einfach, wenn man schlicht nur ein Ende der Sanktionen fordert. Das Kind ist schon in den Brunnen gefallen und man würde die Dynamik, die dieser Krieg ausgelöst hat, naiv und voluntaristisch unterschätzen.
Selbst wenn Russland wieder bereit wäre, Gas nach Deutschland zu liefern, stellt sich die Frage, ob das durch die Zerstörung der Röhren von Nord Stream 1 und 2 physisch überhaupt noch möglich wäre. Ob die zerstörten drei Röhren reparabel sind oder ob über die intakte der beiden Röhren von Nord Stream 2 von Russland Gas exportiert würde, ist eine offene Frage. Schon der Lieferstopp über Nord Stream 1 war ja höchst dubios begründet. Über die beiden Pipelines Yamal und UGTS könnte zwar viel mehr Gas geliefert werden, aber es ist nicht zu erwarten, dass Polen und die Ukraine da zustimmen. Bis die Türkei der von Putin vorgeschlagene Umschlagplatz für russisches Gas nach Europa werden könnte, wird es noch lange Zeit dauern.
Wichtig ist die Unterscheidung zwischen einer geopolitischen und einer friedenspolitischen Zielsetzung der Sanktionen
Wichtig für die Entwicklung einer Strategie zur Beendigung des Krieges wäre es zunächst einmal zwischen einer geopolitischen Zielsetzung und einer friedenspolitischen Strategie zu unterscheiden, wie es der Friedensforscher Joachim Becker empfiehlt. Es ist nämlich unschwer zu erkennen, dass sowohl mit den Waffenlieferungen als auch mit den Sanktionen zwei fundamental unterschiedliche Ziele verfolgt werden können.
Eine geopolitische Strategie verfolgt z.B. folgende Ziele:
– Geostrategische Sanktionen sollen – wie Außenministerin Annalena Baerbock drohte – Russland „ruinieren“, so dass „es volkswirtschaftlich jahrelang nicht mehr auf die Beine kommt“.
– Sie sollen – wie das etwa der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin ausplauderte – Russland derart schwächen, „dass es zu so etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist“.
– Geostrategische Überlegungen stehen auch hinter dem Ziel eines Regime-Change, also Putin aus der Macht zu drängen, weil man mit ihm nicht verhandeln könne, da dieser – wie der Gaslieferstopp beweise – sich nicht an Vereinbarungen halte. „Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben“, verplapperte sich US-Präsident Joe Biden im März bei einem Besuch in Polen und deutete seine Zielvorstellung eines Regime-Change an.
– Die damit verbundenen Ziele dienen der Aufrechterhaltung einer von den USA bestimmten „unipolaren Ordnung“ und der dazu notwendigen Zurückdrängung des russischen Einflusses auf die Weltpolitik sowie zur Konzentration der Kräfte des „Westens“ auf den Systemgegner China. Viele sehen darin das Hauptziel, der massiven militärischen Unterstützung der Ukraine. Die Sanktionen sind in dieser geopolitischen Strategie also in Wahrheit Bestandteil eines „Stellvertreterkrieges“, den die USA mit Russland führen.
Das mit einer solchen geopolitischen Strategie der Sanktionen verfolgte Kriegsziel ist verbunden mit einem „Sieg“ der Ukraine und der Wiederherstellung der vollen Souveränität über sämtliche Gebiete, also einschließlich der Krim und der sog. „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, also der Wiederherstellung des Status vor dem Frühling 2014.
So muss man wohl den amerikanischen Verteidigungsminister Austin und seinen Amtskollegen Außenminister Blinken verstehen. Auch der ukrainische Präsident Selenskij gab bei der zweiten Krim-Konferenz am 23. August und tags darauf am Unabhängigkeitstag der Ukraine das Ziel aus, alle besetzten Gebiete einschließlich der von Russland annektierten Halbinsel zurückholen.
Es ist wohlfeil einfach nur die Forderung nach Friedensverhandlungen aufzustellen
Da muss man sich schon ein paar Gedanken mehr machen, wie ein Waffenstillstand oder gar Friedensverhandlungen zustande kommen könnten und wie man sich vor allem auch auf westlicher Seite positioniert.
Es ist offenkundig, dass die Ukraine, um in diesem Krieg bestehen zu können, die militärische und finanzielle Unterstützung des Westens bedarf. Man kann die Hilferufe, ja sogar das fordernde Auftreten von Selenskij und vieler Ukrainer in ihrer Not nachvollziehen. Die Ukraine ist schließlich überfallen worden!
Diese Betroffenheit darf und sollte aber nicht zu der mutlosen Haltung der Bundesregierung oder der Partei Die Grünen auf ihrem Parteitag vom Wochenende oder der Europäischen Union führen, dass es allein Sache der Ukraine sei, über den Weg zu einer Waffenruhe und über mögliche künftige Friedensregelungen zu entscheiden.
Im Gegensatz zur EU verlangen die USA immerhin, dass die Regierung in Kiew Rechenschaft über die Verwendung des Militärgeräts ablegt.
Solange die Bundesregierung und die EU eine solche passive Haltung beibehält, ist das größte Hindernis für eine Aufnahme von Verhandlungen jeglicher Art die Angst vor Verhandlungen selbst. Denn bei dieser Haltung müssen Politiker befürchten, dass sie als Beschwichtiger und sogar als Defätisten gelten, wenn sie am Verhandlungstisch Kompromisse statt eines militärischen Siegs fordern.
Dabei muss es doch auch der Ukraine „vor allem darum gehen, den Frieden zu gewinnen und nicht den Krieg“, wie das Michael von der Schulenburg, ehemaliger OSZE-Diplomat, zurecht gesagt hat.
Um aus dieser politischen Lähmung herauszukommen, wäre es notwendig die Sanktionen auf eine friedenspolitische Perspektive auszurichten, sie zumindest zur Diskussion zu stellen. Denn dazu gibt es m.E. keine realistische Alternative.
Friedenspolitisch stellen sich beispielhaft etwa folgende Fragen
– Will man Russland Sanktionserleichterungen in Aussicht stellen, wenn es sich zu einem Waffenstillstand und zu einem möglicherweise darauffolgenden Friedensvertrag bereit erklärt? Es brauchte eine klare Antwort auf die Frage, ob die Sanktionen konditioniert, ob sie in einer Wenn-Dann-Beziehung stehen.
– Sollte es ein offensives Angebot für eine schrittweise Aufhebung der Sanktionen gegen einen gestuften Rückzug des russischen Militärs geben?
– Wer könnte ausloten, ob es stimmt, was Alt-Kanzler Schröder nach seinem Treffen mit Putin dem stern gesagt hat, dass im Kreml „eine Verhandlungslösung gewollt wird“?
– Was ist dran an dem Angebot des russischen Außenministers Sergej Lawrow, dass Putin für ein Treffen mit US-Präsident Biden beim G20- Gipfel im November in Indonesien offen sei und bereit sei, sich „jegliche Vorschläge zu Friedensgesprächen anzuhören“?
Zu einer friedenspolitischen Strategie gehörte, dass über solche Vorschläge überhaupt erst einmal nachgedacht werden kann. Das müsste noch nicht einmal in erster Linie von Seiten der Regierung passieren, denn solche Verhandlungsangebote können wohl nicht auf dem offenen Markt ausgetragen werden, sondern sie müssten – wie bei der Lösung der Kuba-Krise – über sog. Back-Channels gefunden werden.
Von den Parteien und vor allem in der öffentlichen Debatte müssten folgende eigentlich auf der Hand liegende Fragen diskutiert werden
– Mal angenommen, Russland forderte als Gegenleistung für eine Waffenruhe die Aufhebung westlicher Sanktionen. Würden wir einer solcher Aufhebung zustimmen bzw. welche Sanktionen würden wir aufheben? Oder wären wir erst bei einer umfassenden Friedensregelung bereit nachzugeben?
– Mal angenommen, ein Waffenstillstand rückte in erreichbare Nähe. Wer sollte und könnte als Vermittler auftreten? Etwa Erdogan, wie beim Abkommen über die Getreidelieferungen? US-Präsident Biden? Chinas Staatschef Xi Jinping oder Indiens Premierminister Modi? Was könnten Scholz oder Macron beitragen?
– Wer sollte eine Waffenruhe überwachen?
– Warum versucht UN-Generalsekretär Guterres nicht die Kriegsparteien an einen Verhandlungstisch zu laden. Wenn dann jemand nicht erschiene, wäre wenigstens klar, wer den Krieg weiterführen will und wer nicht.
– Wäre es möglich, dass dieser Krieg „eingefroren“ werden könnte, (so Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer), wäre es etwa möglich einen ähnlichen Status zu erreichen, wie in Abchasien mit der Abspaltung von Georgien oder mit dem de facto unabhängigen Transnistrien (Moldau)?
– Würde die Ukraine – wie bei den Verhandlungen in Istanbul im März dieses Jahres angedeutet – den Status von nach 2014 akzeptieren, dass die Krimfrage und der Status der autonomen Republiken Luhansk und Donezk im Osten offengehalten würden (also ähnlich wie das im Minsker Abkommen von 2015 vorgesehen war)?
– Was könnte Präsident Selenskij angeboten werden, um ihn wieder von seiner jüngsten Forderung abzubringen, Mitglied der NATO zu werden? Fände der Verzicht auf eine Mitgliedschaft in der NATO (wie das gleichfalls im März Selenskij, kurz nach Ausbruch des Krieges angedeutet hatte) eine verfassungsändernde Mehrheit in der Ukraine?
– Wie könnten alternativ zur NATO stabile Sicherheitsgarantien für die Ukraine aussehen und durch wen gewährleistet werden?
– Könnte man – um die Verhandlungsbereitschaft der Ukraine zu fördern – das Angebot eines multilateralen Fonds für den Wiederaufbau und für die vom Krieg zerstörten Regionen machen?
– Müsste nicht weit über die militärische Friedenssicherung in der Ukraine hinausgedacht werden und etwa die künftige Rolle Russlands bei der Bekämpfung des Klimawandels und bei der Bewältigung der sozial-ökologischen Wende, bei der Verhinderung eines weltweiten Rüstungswettlaufs bzw. bei einer weltweit kontrollierten Abrüstung oder bei einer Ächtung von Atomwaffen mit ins politische Kalkül gezogen werden? (So etwa in der Erklärung des DGB zum Antikriegstag am 1. September 2022, in diese Richtung denkt offenbar auch Rolf Mützenich, der Fraktionsvorsitzende der SPD.)
Denn dramatische Auswirkungen haben die Sanktionen gegen Russland auch auf die globale Ernährungslage und vor allem auch auf die Klimapolitik. Die großen Zukunftsaufgaben sind auf mehr Gemeinsamkeit angewiesen, auch mit Russland. Wie soll es zu einem globalen Klima- und Ressourcenschutz und zu einem schonenden Umgang mit den Naturgütern kommen, wenn das größte Land der Erde nicht beteiligt wird.
Die Finanzierung militärischer Aufrüstung und der Verlust an wirtschaftlicher Leistung dürfe nicht zu Lasten der notwendigen Investitionen in den sozial-ökologischen Umbau gehen, verlangt nicht nur der DGB.
Schon jetzt droht der völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine zum Beschleuniger neuer globaler Blockbildungen zwischen dem industrialisierten Westen und dem globalen Süden einerseits aber auch zwischen den USA und China zu werden, mit der Gefahr des Rückfalls in einen neuen globalen kalten wie heißen Krieg.
Es sind im Übrigen nicht nur naive Friedensfreunde oder linke Aktivisten oder Rechtsextreme, die Verhandlungen verlangen. Auch Papst Franziskus hat am 2. Oktober Putin und Selenskij zu einer sofortigen Waffenruhe auf.
Ein dauerhafter Frieden könne nur „unter Einbeziehung Russlands“ erfolgen, meint etwa auch die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Immerhin sind nach einer Forsa-Umfrage vom August 77 Prozent der deutschen Bevölkerung der Meinung, dass der Westen Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges anstoßen sollte.
Frieden muss gestiftet werden. Doch wo sind die Stifter?
Die Quellen für nahezu alle genannten Fakten (ich habe das Referat um neuere Fakten erneuert) finden Sie im „Blog der Republik“ unter folgenden Links:
lieber Wolfgang
herzlichen Dank für die Übermittlung Deines so interessanten Artikels zum Ukrainekrieg . ich teile Deine Sorge und Deine Ansicht der Situation vollständig und hoffe ebenso , dass endlich jemand den Mut und die nötige Entschlossenheit hat , ersie Schritte zu wagen !
in herzlicher Verbundenheit , Ansgar