Seit Ende November 2021 hat sich die Situation wie folgt entwickelt. Russland hat in Grenznähe zur Ukraine eine erhebliche show of force aufgebaut, die nach Meinung von Militärexperten für eine „full scale“-Invasion kaum reichen würde. Seine finalen Absichten markierte Russland mit der Formel eventueller „militär-technischer Maßnahmen“ und verbarg sich dahinter. Das führte zu diplomatischen Initiativen zu den Themenkomplexen (1) (a) Sicherheitsordnung in Europa und (b) Rüstungskontrolle einerseits und (2) Beendigung der opferreichen und militärisch sinnlosen Kämpfe im Donbass, Initiierung eines tragfähigen modus vivendi andererseits. Ergebnis war, so schälte sich bis Mitte Februar heraus:
- Verhandlungen zu architektonischen Fragen der 1989/90 ff verabredeten Sicherheitsordnung in Europa verweigerte der Westen, er bot allein Gespräche zur Rüstungskontrolle an – ein anderslautender Vorstoß von Frankreichs Präsident Macron kam anscheinend zu spät.
- Zur Donbass-Situation verweigerte die Ukraine, schon gleichsam die Schlinge am Hals, in einer dramatischen Sitzung am 11. Februar in Berlin jeden Fortschritt.
Das reichte Russland nicht. Ergebnis war die Entscheidung für eine Invasion am 24. Februar. Die USA hatten das präzise vorhergesagt, deswegen die Verlegung der Botschaft nach Lviv. Die Eröffnungszüge des russischen Militärs entstammen dem Lehrbuch. Ob die „Blitzkriegs“-Taktik und -Erwartung aufgeht, wird sich in wenigen Tagen erwiesen haben. Ergebnis in Richtung Westen ist jedenfalls: Das Handtuch ist erst einmal zerschnitten. Die wahrscheinliche Konsequenz: Der architektonische Torso der Sicherheitsordnung in Europa wird weiter unsaniert bleiben. Der Westen igelt sich in Vorstellungen von Abschreckung qua (weiterer) Aufrüstung ein. Eine Pause strategischen Nachdenkens scheint nicht eingelegt zu werden.
Frage ist, wer das Torsohafte der Sicherheitsordnung in Europa mehr zu fürchten hat: Russland oder die Europäer? Die torsoartige Struktur bietet den Europäern nur solange Sicherheit, wie die USA sie gewähren. Dort aber, in den USA, spricht vieles für einen Wahlsieg eines Trump-artigen Kandidaten im November 2024. Trump hat das Putinsche Vorgehen begrüßt. Dann wird Europa ohne Schutz dastehen. In Russland ist das „eingepreist“. In (West- und Mittel-)Europa hingegen ist diese Aussicht bislang noch ein Tabu.
Kurzfristig jedenfalls ballert der Westen gen Russland zurück, mit Salven einer anderen Waffenart, mit Wirtschaftssanktionen. Da wurden die Kaliber präzise vorausgewählt, es wird allein zu Beschränkungen für Akteure im Finanzmarkt gegriffen sowie zu solchen für designierte Einzelpersonen. Der Energiebereich ist ins Waffenensemble der EU zwar eingestellt worden, aber fein säuberlich ziseliert eingeschränkt: Allein für Raffinerien in Russland ist etwas dabei, denen darf keine Ausrüstung mehr geliefert werden – diese Technologie stammt fast ausschließlich aus Europa. Dadurch soll es Russland unmöglich gemacht werden, Raffinerien zu reparieren und zu modernisieren. Bei der zeitweiligen Aussetzung des Verfahrens zum Betreiber der Pipeline Nord Stream 2 handelt es sich um keine Sanktion. Die USA haben zum Energiebereich keine spezifischen Sanktionen in ihre Pakete integriert.
Die Rationalität jeglichen Kampfes ist: Wie Du mir, so ich Dir! Oder anders: Es wird immer (nur) „zurück“-geschossen. Angesichts der Erfahrungen mit Russland am 24. Februar vor dem Hintergrund der ausführlichen abtastenden Gespräche in den gut zwei Monaten zuvor stellt sich die Frage: Was ist, wenn Russland bei der Waffenart, welche die EU sich zum Ballern gewählt hat, seinerseits zurückballert? Und dabei die feinsäuberliche Ziselierung beim Energiesektor geflissentlich „übersieht“? Wie verletzlich ist der Westen, ist Deutschland da, wenn Russland nicht allein „zurückschießt“ sondern durch Querbewegung eskaliert?
Erstens, der Krieg hat vor über 6 Jahren begonnen. Seitdem sind über 13.000 Menschen umgekommen, Milionen geflohen. Die meisten Opfer sind auf der Seite der russichen Minderheit zu beklagen. Zu diesen Mißständen hat man kaum was gesagt, auch was für Figuren sich innerhalb der ukrainischen Staatsgarde in form des Batallion Azow umhertreiben schweigt man. Putins Invasion zu verurteilen, aber die NATO ist nicht weniger Schuld an der Eskalation, hatte es doch noch 23.01. massive Anghriffe auf die Zivilbevölkerung im Donbass gegeben, den auch ihr Artikel auslässt, obwohl die OSZE davon berichtet. Das die Russen sich dann, gerade ein Beispiel an der NATO nahm um militärsich eine „humanitäre Katastrophe“ abzuwenden ist wohl der Zynismus unserer Zeit.