Sein Leben war die Politik, über 50 Jahre war er Abgeordneter des Deutschen Bundestages, Kanzleramtsminister, Innenminister, Finanzminister, Fraktions- und Parteichef der CDU, Bundestagspräsident. Das mit der Karriere hat er stets klein gespielt, dabei war es eine, außer Kanzler, Bundespräsident und, wie er selbst in der für ihn typischen Selbstironie hinzufügte, Papst war er nie. Wer ihm begegnete, wer mit ihm sprach, ein Interview führte oder ihn als Gast im Hintergrundkreis hatte, musste gut vorbereitet sein. Dann lohnte es sich, denn Wolfgang Schäuble war jemand, der etwas zu sagen hatte. Er kannte die Politik, er konnte Politik, schwarz, rot, grün. gelb, das war nicht so wichtig. Argumente waren entscheidend, dann diskutierte er gern, leidenschaftlich. Einfach war er nicht dabei, er konnte attackieren, heftig sogar, hart an der Grenze des Erlaubten. Der Mann hat viel erreicht in seinem Leben und erlitten. Wer seine Erinnerungen liest- ich habe das gerate getan-, wird vieles erfahren von ihm, über ihn, über Freunde, Gegner. Es macht Spaß, das Buch mit immerhin 627 Seiten zu lesen. Es ist eine ehrliche Bilanz des badischen CDU-Politikers, der vor über einem Jahr starb, gut und verständlich zu lesen. Ein spannendes Geschichtsbuch.
Schäuble war ein Innenpolitiker, ein Anhänger der europäischen Idee, ein Freund Frankreichs, weshalb er es bedauerte, dass Deutschland und Frankreich nicht die Lokomotive für den europäischen Zug gebildet haben, damit der mehr Fahrt aufnimmt. Denn wir brauchen ein starkes Europa, mehr denn je. Jedes einzelne Land der EU mag sich großartig fühlen, groß im Sinne von mächtig und einflussreich ist es allein nicht, kein einziges Land kann es aufnehmen mit den Super-Großen dieser Welt, mit Amerika, Russland, China, Indien. Aber die europäische Gemeinschaft, träte sie geschlossen auf, wäre eine Macht, die sich behaupten könnte.
Der Atlantiker
Der CDU-Politiker war ein Atlantiker. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind immer noch der große Bündnispartner des Westens, der westlichen Allianz, das mit der Wertegemeinschaft lasse ich mal beiseite angesichts eines künftigen US-Präsidenten Donald Trump, der immerhin ein verurteilter Straftäter ist, ein notorischer Lügner, einer, der immer wieder Frauen belästigt hat, gegen den viele Klagen anhängig sind, einer, von dem man nicht weiß, ob er die Nato aufkündigen oder seine Forderungen an die anderen Nato-Partner so heraufsetzen will, dass es wehtut. Auf Trump wird sich der Westen, die EU, Deutschland nicht verlassen können. Gerade Deutschland, das ja über Jahrzehnte in Amerika seinen großen Freund sah. Dabei vergisst man schnell, welche Rolle im zweiten Weltkrieg die UdSSR gespielt hat, dass die Sowjets im Krieg gegen die Nazis zur Befreiung auch Deutschlands von der braunen Tyrannei rund 25 Millionen Tote zu beklagen haben. Wer weiß, wie lange der Krieg ohne die Sowjets gedauert, wie lange die Nazi-Vorherrschaft weite Teile Europas terrorisiert hätte?
Einer wie Schäuble konnte sich dazu äußern, er war auch Außenpolitiker. Aber er kannte sich auch mit Finanzen aus, das hatte er mal gelernt nach dem Jura-Studium. Man denke an seine Rolle im Zusammenhang mit der Finanz-Krise in der EU und Griechenland. Er war der Berater von Helmut Kohl, vielleicht der wichtigste, ich will es nicht beschreiben. Kohl war nicht einfach, er war dominant, regierte oft auch nach Gutsherrenart, wie man aus den schwarzen Kassen der CDU später herauslesen konnte. Und er stellte sein angebliches Ehrenwort über das Gesetz. Von einem Kanzler hätte man das nicht erwartet. Da spürt man auch die Enttäuschung Schäubles über sein Vorbild, seinen Chef, dem er, was er immer wieder einräumt, vieles verdankte. Kohl vertraute ihm, aber Schäuble war einer, der loyal war zu Kohl, auch in Momenten, wo der schwarze Riese ihn nicht gefördert hat. Ich meine zum Beispiel die Tatsache, als Kohl, sichtlich gealtert, aber dennoch unbedingt gegen den viel jüngeren und dynamischen Gerhard Schröder antreten wollte und natürlich klar verlor. Es ist müßig, darüber zu rätseln, ob einer wie Schäuble, im Rollstuhl sitzend, dem SPD-Herausforderer hätte mehr Paroli bieten können. Aber Kohl ließ Schäuble diese Chance nicht mal.
Loyaler Berater
Er war über Jahre auch ein Berater von Angela Merkel, deren nüchterne Intelligenz und Humor er offensichtlich geschätzt hat. Auch hier war er der loyale Parteifreund, der der Kanzlerin aus dem Osten den Rücken freihielt. Und der nicht zu irgendwelchen Intrigen bereit war, als die Flüchtlingskrise Merkel 2015 in ziemliche Nöte brachte. Denn das Herz, das die Regierungschefin aus der Uckermark gegenüber der Schicksal der Flüchtlinge aufbrachte und sie deshalb über die Grenze nach Deutschland ließ, war das eine, das fehlende Konzept, wie man in kürzester Zeit solche Massen an Menschen hier integrieren sollte, war das andere. Schäuble verweigerte dem CSU-Politiker Edmund Stoiber die Gefolgschaft, als dieser vorschlug, Schäuble solle Merkel stürzen und dann selber nach dem Kanzleramt greifen. Und dann erinnerte Schäuble in seinem Buch an eine ähnliche Episode der Kohl-Zeit. „Wie Jahrzehnte zuvor bei Kohl blieb ich bei meiner Überzeugung, dass der Sturz der eigenen Kanzlerin unsere Partei langfristig nur schaden könnte, ohne das Problem wirklich zu lösen. Das war mein Verständnis von Loyalität.“
Beinahe natürlich war es, dass einer wie Schäuble auch den großen Alten der CDU, Konrad Adenauer fast verehrte, den Gründer der CDU nach dem Krieg, der erster Bundeskanzler war, der die West-Bindung der Bundesrepublik festschrieb. Und anderes mehr. Aber Schäuble vergaß dabei nicht, Dinge zu erwähnen, die man dem Christdemokraten aus Rhöndorf kritisch vor Augen halten muss. So fand Schäuble Adenauers Umgang mit Willy Brandt, den er im Wahlkampf Brandt alias Herbert Frahm nannte. weil er ein uneheliches Kind war, „unanständig.“ Das war es auch und das habe ich dem wirklich großen Adenauer auch nie verziehen. Denn so was sagt man nicht, das hat nichts mit hartem Wahlkampf zu tun, nichts mit inhaltlicher Auseinandersetzung. Einen solchen Stil nenne ich böse. Ich denke noch an das entsprechende Flugblatt, das die Adenauer-CDU damals in vielen Haushalten verteilen ließ. Es hat mich empört.
Respekt hatte er vor Helmut Schmidt, vor seiner Haltung, Standhaftigkeit im Kampf gegen die RAF, seinem Ansehen in der Welt. Mehrfach haben sich Schmidt und Schäuble getroffen nach Schmidts Ausscheiden aus der Politik, in Hamburg und Berlin. Es gab wohl eine gegenseitige Wertschätzung. Schäuble war ein Polit-Profi, einer mit fundierter Meinung, mit Haltung, dazu wie Schmidt ein Freund der Musik. Schäuble mochte einen anderen Hamburger, Hans-Jürgen Klose, damals Fraktionschef. Man traf Vereinbarungen und hielt sich dran, eine gewisse Verschwiegenheit gehörte dazu. Keine allzu große Meinung hatte Schäuble von Gerhard Schröder. Dessen eher robuste Sprache (Hol mir mal ne Flasche Bier) war nicht nach Schäubles Geschmack. Aber klar liest man aus dem Buch, dass Demokraten natürlich miteinander Politik machen müssen, unabhängig von Meinungsverschiedenheiten. Da muss halt ein Kompromiss gefunden werden.
Wolfgang Schäuble war einer der entscheidenden Politiker im Zusammenhang mit der deutschen Einheit. Der entsprechende Vertrag trägt seine Handschrift. Er war es auch, der Jahre zuvor in der entscheidenden Debatte über die künftige Hauptstadt im Plenum des Bonner Bundestages die wohl ausschlaggebende Rede hielt. Auf ihn war auch hier Verlass, weil für ihn das über Jahre gegebene Wort zählte, Berlin, die geteilte Stadt, sei selbstverständlich unsere Hauptstadt, Bonn eben nur das Provisorium, weil das Land geteilt war. Wobei man hinzufügen muss, dass hinter den Kulissen die Alten der Politik, Brandt, Vogel, Kohl, Genscher, Lambsdorff Einfluss auf ihre Abgeordneten genommen hatten. Mehrfach hörte ich, dass ein jüngerer Abgeordneter erzählte, dass sein Chef ihn gefragt habe, wie er denn abstimmen werde. Und als er sagte, Bonn, sei der Hinweis gekommen, ob er denn nicht an seine Zukunft denke. Nachtigall…,
Leidenschaftlicher Abgeordneter
„Ich bin leidenschaftlich gerne Abgeordneter.“ So das Bekenntnis Schäubles gegen Ende des Werkes in einem Fazit. „Wer möglichst viel Geld verdienen will, sollte kein Mandat anstreben.“ Ein Tag eines führenden Politikers dauert nicht nur im Ausnahmefall 16 oder 17 Stunden. Das hat schon Helmut Schmidt einst eingeräumt, Helmut Kohl und Angela Merkel wird es nicht anders ergangen sein als Olaf Scholz. Die Belastung ist gewaltig, führende Politiker haben so gut wie nie Feierabend, kaum ein freies Wochenende und selbst im Urlaub müssen sie erreichbar sein. Und dazu kommt noch, dass sie erheblicher Kritik ausgesetzt sind. Das müssen sie aushalten, einer wie Schäuble konnte das und konnte auch damit umgehen. Er selbst war kein Kind von Traurigkeit in der politischen Arena. SPD-Chef Hans-Jochen Vogel hat ihm mal vorgeworfen, seit seinem Attentat im Rollstuhl noch härter, er meinte wohl schlimmer geworden zu sein. Vogel hat sich für diese kurze Entgleisung entschuldigt. Andererseits muss ich bei allem Respekt vor Wolfgang Schäuble erwähnen, dass er im Umgang mit seinen Mitarbeitern gelegentlich knallhart sein konnte. Einer von ihnen hat das mal in einem Vier-Augen-Gespräch beklagt. Und es ist ja bekannt, dass der Finanzminister Schäuble mal seinen Pressesprecher auf offener Bühne der Bundespressekonferenz abwatschte.
Es sei „ein wunderschöner Beruf“, liest man in dem Buch, obwohl er doch während des Wahlkampfs vor der Haustür im Schwarzwald von einem Attentäter beinahe erschossen worden wäre. Er überlebte, lebensgefährlich verletzt, wurde operiert und operiert und über die nächsten Jahre musste er immer wieder in die Klinik, damit ihn Ärzte behandelten. Die Öffentlichkeit erfuhr so gut wie nie davon, wenn Schäuble wieder mal für einen oder mehreren Tagen nicht im Dienst war, dann war er in der Hand seiner Ärzte. Und vom OP-Tisch ging es dann nach Brüssel, Berlin oder wohin auch immer, aufgeben war nicht seine Sache. Er empfand den Beruf des Politikers als Berufung, gestalten zu können. Schäuble räumte ein, dass er sich, wie viele andere, in Putin getäuscht habe. Ja, so war das halt. Und nachher weiß man es ohnehin besser. Wenn man alles früher gewusst hätte, passierten wohl kaum Fehler.
Politik heißt nicht, es allen und jedem Recht machen zu wollen. Neben Rechten gibt es auch Pflichten, der Einzelne „kann, darf und muss einen Beitrag leisten für andere und damit für das Gemeinwohl“. Gleich ob im Rahmen einer Dienstpflicht, in Ehrenämtern oder in anderen zivilgesellschaftlichen Engagements. Die Bürger müssen darüber informiert werden, die Demokratie nicht als Supermarkt für Schnäppchenjäger zu begreifen. Zur Aufgabe politischer Führung gehöre, zu erklären, „dass weniger Anstrengung und Arbeit angesichts wachsender globaler Konkurrenz den Platz an der Spitze der Wohlstandspyramide nicht mehr garantieren können“. Und: „Wir müssen dann akzeptieren, dass es auch für uns etwas weniger wird.“ Oder aber „wir arbeiten alle wieder länger und verankern das Bewusstsein von Fleiß und Leistung wieder stärker in der Erziehung, Bildung und Ausbildung unserer Kinder.“
Freiheit, schreibt Schäuble, ist nicht grenzenlose Freizügigkeit, es gibt Grenzen und Knappheit, mit denen wir umgehen müssen. Sie gehören dazu. Ich könnte an dieser Stelle das Wort von Rosa Luxemburg anfügen: Freiheit ist immer die Freiheit des anderen. Ich glaube kaum, dass Schäuble das anders gesehen hätte. Und weil das so ist, möge Politik nicht so verstanden werden , dass man den Bürgern immer neue Angebote macht nach dem Motto: Wer bietet mehr. Vielmehr müsse Politik dem Bürger erklären, warum manche Wünsche nicht zu erfüllen seien, also Forderungen abgelehnt werden müssten. Ein Stil, der leider aus der Mode gekommen zu sein scheint, wenn man sich all die Wahlversprechen aller Parteien heute anhört. Man müsse, um die Zukunft zu gestalten, auch den Mut haben, gegen Mehrheiten zu stehen. Als Beispiel nennt er in dem Buch die Grünen, die als Bewegung vor 40 Jahren begonnen haben und längst zu einer etablierten Partei geworden sind, die mitregiert und Verantwortung trägt.
Niederlagen gehören dazu
Wolfgang Schäuble ist ein Politiker, der in seiner langen Laufbahn erfahren und gelernt hat, mit Niederlagen umzugehen. Er selber bekam mit, wie der Kanzler Kiesinger 1969 über Nacht zum Oppositionspolitiker wurde, weil Brandt und Scheel die erste sozialliberale Koalition bildeten. Schäuble zog in den Bundestag ein, als seine CDU in der Opposition war und leidenschaftlich die Ostpolitik der Regierung Brandt bekämpfte. Was ein Fehler war, denn die Aussöhnung mit dem Osten ist genauso einer der Pfeiler der Bundesrepublik wie die Bindung an den Westen. Schäuble erlebte dann den Sturz der Regierung Schmidt/Genscher und die Wahl von Helmut Kohl. Dass Schmidt den Wechsel der FDP zur Union als „Verrat“ tadelte, habe ich damals so verstanden. Ich war auf dem Wahlparteitag der FDP in Freiburg, auf dem die Wahl-Losung der Liberalen für den Wahlkampf festlegt wurde: FDP wählen, damit Helmut Schmidt Kanzler bleibt. Dazu wurde das Porträt des beliebten Hamburger Sozialdemokraten auf FDP-Plakate gesetzt. Sauber war das nicht. Dass Teile der SPD Schmidts Politik nicht mehr folgen wollten in der Sicherheits- und Sozial- und Haushaltspolitik, ist eine andere Frage. Dennoch aufschlussreich, wie Schäuble diese Passage schildert. Und dabei auch betont, dass davon die Welt nicht untergeht, weil Niederlagen die Chance bieten, wieder aufzustehen und sich neu aufzustellen.
Am Ende folgt dann das Bekenntnis zur Demokratie. Natürlich. „Auch wenn die Prozesse in der Demokratie oft langsam und mühsam sind: Die grundsätzliche Fähigkeit zur Selbstkorrektur bleibt für mich die zentrale Errungenschaft unserer westlichen Welt.“ Und weil wir gerade in krisenhaften Zeiten leben, zitiert der Optimist Schäuble den Philosophen Karl Popper: die offene Gesellschaft werde immer den Weg zu neuen Lösungen finden. Deshalb seien Krisen immer auch Chancen. Wörtlich Schäuble: „‚Wir haben also Grund zur Zuversicht, das gilt heute genauso wie vor fünfzig Jahren.“
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