Am Tag nach der Krönungsmesse für den neuen SPD-Chef und Kanzlerkandidaten Martin Schulz mit einem Wahlergebnis von 100 Prozent fragen die einen nach den Inhalten des Merkel-Herausforderers und die anderen stellen die Frage, ob denn der Kandidat diese Begeisterung bis zum Wahltag am 24. September werde halten können. Zugegeben, bis zur Bundestagswahl ist es noch ein halbes Jahr, aber auf dem Weg dahin finden Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW statt. Und wenn die SPD diese Urnengänge gewinnt, nährt der eine den anderen Erfolg und hält die Euphorie auf hohem Niveau. Wenn, möglich, könnte.
Es ist interessant, wenn CDU-Generalsekretär Tauber in seiner Not nach den Inhalten von Schulz fragt und beinahe trotzig betont, Merkel werde regieren, während die anderen eine Show abziehen. Diese Reaktion, in anderer Weise ausgerechnet von der Linken geteilt, lässt darauf schließen, dass die anderen Parteien, namentlich die Union, mit einer solchen Zustimmung der SPD zu Schulz nicht gerechnet hat. Ausgerechnet die sonst so streitlustige SPD, die den Amtsvorgänger Sigmar Gabriel mit gerade mal 75 Prozent abstrafte, feiert nun geschlossen und ohne jeden Widerspruch den neuen Mann. Ja, das hat es nicht nur in der SPD noch nie gegeben. Es zeigt, die Partei glaubt wieder an sich, man will wieder ins Kanzleramt. Schulz hat das Kunststück fertig gebracht, die SPD binnen weniger Wochen aus ihrer Depression ans Licht zu führen. Der Kandidat will den Erfolg, die Partei auch. Das war nicht immer so. Man frage alte SPD-Strategen, die immer mal wieder beklagten, dass ihre Partei nie zufrieden sei, nicht als Regierung und auch nicht als Opposition.
Merkels „Sie kennen mich“
Dass ausgerechnet die CDU nach Inhalten fragt, verwundert ein wenig. Ihre Parteichefin und Bundeskanzlerin steht nicht unbedingt für ein Programm der CDU. Im Gegenteil beklagen seit längerem Unions-Kreise, dass Merkel im Grunde rot-grüne Politik als Kanzlerin umgesetzt habe und nennen als ein Beispiel den Mindestlohn. Und dass sie kürzlich die Agenda-2010-Politik ihres SPD-Amtsvorgängers Gerhard Schröder gegen Reformvorschläge von Martin Schulz verteidigte und zwar gerade so, als wäre das der Kern ihrer eigenen Politik, hat einige ihrer Leute die Nase rümpfen lassen. Merkel und Inhalte, das ist ein Kapitel für sich, man denke an die Atompolitik, an den Ausstieg der rot-grünen Bundesregierung, den sie, kaum im Amt, wieder zurücknahm, aber als Fukushima passierte, machte sie abermals kehrt und erklärte nunmehr für ihre eigene Bundesregierung den Ausstieg aus der Kernenergie.
Keine Alternative gebe es zu ihrer Politik, so hatte Merkel immer wieder argumentiert. Und in Wahlkämpfen hatte sie sich vor die Wählerinnen und Wähler mit der Erklärung gestellt: „Sie kennen mich.“ Will sagen, bei mir ist alles in guten Händen, keine Experimente. Aber so einfach wird das nicht mehr gehen, weil seit einigen Wochen die jahrelang abgeschlagene SPD wieder auf Trapp gebracht worden ist und zwar auf Augenhöhe mit der Amtsinhaberin. Auf das „Sie kennen mich“ gab es in jüngster Zeit schon mal die Reaktion: „Eben.“
„Arbeiterkaiser aus Würselen“
Die FAZ beschrieb den neuen „Heilsbringer“ der SPD als Gefühlsmenschen und „Arbeiterkaiser aus Würselen“. Gleich, ob da neben einer gewissen Anerkennung auch Ironie mitschwingt, der gelernte Buchhändler ohne Abitur, der fünf Fremdsprachen spricht, ein Mann aus kleinen Verhältnissen, der Vater war ein Dorfpolizist, hat die SPD in eine unbändige Begeisterung versetzt. Wann gab es das schon mal mal? Unter Willy Brandt? Oder als Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine einst in Mannheim Rudolf Scharping stürzten und das Ruder der Oppositionspartei übernahmen und Helmut Kohl das Fürchten lehrten? Ja, so war das damals 1998 mit dem „Schwarzen Riesen“ aus Oggersheim, der auch als unschlagbar galt, zumal mit der Erfahrung aus 16 Dienstjahren im Kanzleramt, ausgestattet mit dem Ruhm der deutschen Einheit. Er wurde abgewählt, weil er den richtigen Zeitpunkt des Abschieds verpasst hatte. Die Menschen waren Kohl-müde geworden. Was ist, wenn ähnliches mit Merkel passiert? Eine gewisse Müdigkeit im Amt ist ihr nicht abzusprechen. Sachlich-emotionsfrei, so ist sie, ihr Gegenspieler dagegen freundlich, Wärme ausstrahlend. Schulz geht mehr auf die Leute zu, auf sie ein, er hört ihnen zu. Über 13000 neue Mitglieder hat die SPD dank des Schulz-Effektes, aber auch die CDU hat neue Mitglieder verzeichnet.
Seine Rede in Berlin mag dem einen oder anderen Beobachter zu bekannt vorgekommen sein. Martin Schulz hat bewusst tief in die Geschichte der SPD gegriffen, erzählt, wie sie die Nazis bekämpft hatten. Das hat früher auch Willy Brandt so gehalten, wenn er – den Tränen nah- den legendären SPD-Fraktionschef Otto Wels zitierte, als dieser am 23. 3. 1933 das Nein der SPD zum Ermächtigungsgesetz Hitlers erklärte: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Worte, die über der Eingangstür der SPD-Fraktion im Berliner Reichstag zu lesen sind. Dass die SPD in der DDR verboten war, vergisst er ebenso wenig wie das Frauenwahlrecht, das man einst erkämpft habe wie das Nein des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder zum Irak-Krieg. Und dass er Bezug nimmt auf einen der Größten in der SPD-Geschichte, auf Willy Brandt, versteht sich fast von selbst. Schulz macht es gekonnt und erntet den Beifall der Parteifreunde.
Die Rechtspopulisten von der AfD hat er von vornherein angegriffen. Der Europäer Schulz weiß um die Bedeutung der Europäischen Union und die Gefahren durch Nationalisten und Rassisten. Was wäre Europa ohne die EU, ohne die Römischen Verträge? Wo wäre man denn gelandet nach dem Zweiten Weltkrieg, als große Teile des Kontinents in Schutt und Asche lagen!? Ein Krieg, ausgelöst durch die Nazis, deren Rassismus und Antisemitismus. Und heute steht dieses Europa glänzend da, seit über 70 Jahren hat es keinen Krieg gegeben, die alten Feinde Frankreich und Deutschland stehen Seite an Seite, Polen muss sich vor der Übermacht der Deutschen nicht mehr fürchten, wir sind von Freunden umzingelt. Warum also das ändern? Schulz über die AfD: „Die AfD ist eine Schande und keine Alternative.“ Das wirkt nicht nur, aber auch und gerade in den Reihen der SPD.
Lafontaine könnte an der Saar wichtig sein
Ob der Hype um Schulz hält? Am Sonntag wird im kleinen Saarland gewählt. Aber Vorsicht, das Ländchen an der Seite zu Frankreich hat schon des Öfteren eine wichtige Rolle gespielt. Man denke an Oskar Lafontaine, der einst als Oberbürgermeister von Saarbrücken startete, Ministerpräsident des Saarlands wurde, dann SPD-Parteichef, Bundesfinanzminister wurde, ehe er aus Verärgerung über den Kanzler Schröder die Brocken hinwarf, die SPD verließ und Mitglied der Linken wurde. Heute ist er Fraktionschef der Partei in Saarbrücken, er könnte eine Koalition mit der SPD ermöglichen, Anke Rehlinger(SPD) zur Ministerpräsidentin machen und damit wäre die beliebte Regierungschefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die offen für die Fortsetzung der großen Koalition wirbt, abgelöst. Könnte, möglich. Eine Rot-Front-Kampagne zieht heute nicht mehr. Und Lafontaine hat an der Saar immer noch viele Sympathisanten. Aber wie gesagt, es könne auch die große Koalition unter Führung von Frau Kramp-Karrenbauer wiedergewählt werden.
Ein paar Wochen später wird in Schleswig-Holstein gewählt. Auch dort hat sich mit dem Schulz-Effekt- was immer das bedeutet- die Stimmung verändert. In Umfragen liegt die SPD mit ihrem Ministerpräsidenten Torsten Albig plötzlich wieder vorn, die CDU rangiert auf Platz 2. Gewinnt Albig die Wahl an der Küste, wird man das auch Schulz zuschreiben.
Laschet liegt klar hinter Kraft
Ja, die Stimmung in der Republik ist durch die neue SPD-Spitze mit dem Mann aus Würselen gekippt. Das gilt auch für NRW. Nimmt man die jüngsten Umfragen, so führt die SPD mal mit 37 Prozent, mal mit 40 Prozent, liegt Armin Laschet mit seiner CDU abgeschlagen dahinter mal mit 30 Prozent und mal mit 28 Prozent. Die Beliebtheit der Ministerpräsidentin Hannelore Kraft scheint den Ausschlag zu geben, Laschet erreicht nicht einmal die Hälfte des Wertes von Kraft. Seine zuweilen etwas laut vorgetragene Kritik an den Zuständen im Land, das angeblich so schlecht von Rot-Grün regiert wird, könnte zu einem Rohrkrepierer werden. Die Skandalisierung der Politik scheint ihm nicht zu helfen, Innenminister Jäger hin oder her. Und dass er kritiklos der Kanzlerin folgt, ohne eigene Positionen erkennen zu lassen, könnte sich negativ auswirken.
Die Mehrheiten wären nach heutigem Stand nicht klar, weil die Grünen schwächeln wie die CDU, weil Frau Kraft die Linke im Land nicht schätzt. Aber es taucht da ein alter Bekannter auf am Horizont: die FDP ist erstarkt, das Institut Forsa sieht die Liberalen in NRW mit 11 Prozent und erwähnt als Koalitionsmöglichkeit: SPD und FDP, also sozialliberal. Das gab es schon mal vor vielen Jahren wie übrigens auch im Bund.
Könnte, möglich, Fragen über Fragen. Es wird ein spannendes Jahr, weil eben am 24. September die Bundestagswahl stattfindet. Merkel oder Schulz, lautet dann die Frage, wenn man mal die große Koalition ausschließt.
Bildquelle: Wikipedia, User Mettmann, CC BY 3.0