Nazi-Schmierereien, Attacken auf Synagogen, Hakenkreuze an jüdischen Restaurants, Hakenkreuze in Holocaust-Gedenkstätten. Entsetzlicher deutscher Alltag . Die Deutschen nehmen die Taten zur Kenntnis, aber sind sie mehrheitlich wirklich entsetzt? Ganz anders 1959, als die Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen beschmiert wurde. Ein bedrückendes Lehrstück über Antisemitismus in der jungen Bundesrepublik. Oder, wie der Kölner Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll damals schrieb, ein jähes Aufwachen ob der verheerenden „Zeichen an der Wand“.
Es war ein Schock. Für die jüdische Gemeinde in Köln, für das Land. Und weltweit für alle, die den Deutschen vierzehn Jahre nach Ende der Naziherrschaft ohnehin nicht abnahmen, dass sie sich vom Antisemitismus los gesagt hatten. Am späten Heiligabend 1959 entdeckten katholische Kirchgänger Schmierereien an der Synagoge in Köln. Hakenkreuze und die Warnung: „Deutsche fordern: Juden raus.“ Erst wenige Wochen zuvor war die Synagoge in der Roonstraße – während der Reichspogromnacht 1938 zerstört – nach dem Wiederaufbau in Anwesenheit von Bundeskanzler Konrad Adenauers eingeweiht worden.
Es war keineswegs die erste Schändung jüdischer Einrichtungen in der Bundesrepublik. Aber der symbolträchtige Zeitpunkt der Weihnachtsnacht gab dieser Tat eine so große Wucht. Für den Zentralrat der Juden in Deutschland war klar, dass das höchste christliche Fest gezielt genutzt worden sei, um Hass zu säen. Für Heinz Galinski, den wortgewaltigen Vorsitzenden des Zentralrats, stand die Kölner Tat lediglich in einer „Kette unliebsamer Ereignisse“, die trotz aller Warnungen immer wieder „verniedlicht“ worden seien. Mehr als 20 Prozent der deutschen Bevölkerung waren Ende der 50er Jahre der Meinung, Juden hätten in Deutschland nichts zu suchen. Sie teilten damit die „Juden-raus“- Schmierereien der Täter von Köln: zwei 25jährige Mitglieder der rechtsradikalen „Deutsche Reichspartei“, die noch an den Weihnachtstagen festgenommen wurden.
Die Welle der Empörung, die rund um den Globus ging, war – wie der renommierte Historiker Norbert Frei in seinem jüngst erschienen Buch „Im Namen der Deutschen – Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit“ schreibt – „präzedenzlos“ und „traf die Bonner Politik gänzlich unvorbereitet“. Zwar reagierten Bundespräsident Heinrich Lübke und Bundeskanzler Konrad Adenauer prompt und verurteilten die Tat. Lübke wandte sich gleich nach dem Weihnachtsfest mit einem Telegramm an die Kölner jüdische Gemeinde und stellte klar: „Wo immer ewig Gestrige in Unbelehrbarkeit und Verstörtheit die sich anbahnende Versöhnung zu zerstören versuchen, wird alles geschehen, sie der gerechten Strafe zuzuführen.“ Und Adenauer versicherte am 2. Januar im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen, dass er sich mit ganzer Kraft dafür einsetze, Antisemitismus den Boden zu entziehen.
Die Nachahmungstaten, die bundesweit dem Kölner Anschlag folgten, sprachen eine andere Sprache. Fast siebenhundert Schändungen registrierte der Verfassungsschutz allein bis Ende Januar. Das BundesInnenministerium ließ ein Weißbuch der antisemitischen Ausfälle erstellen. Voller Scham zeigte sich der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, vor dem Abgeordnetenhaus: „Wenn man die Meldungen aneinanderreiht, könnte man meinen, eine weit verstreute Brigade des Teufels habe Urlaub bekommen und sei auf uns losgelassen.“
Nicht zuletzt durch die internationalen Proteste – in London gingen 20 000 Kriegsveteranen auf die Straße, in New York demonstrierte eine aufgebrachte Menge vor dem bundesdeutschen Generalkonsulat – sah sich Adenauer veranlasst, in einer Rundfunkansprache am 16. Januar die Taten erneut zu verurteilen und das Ausland gleichzeitig zu beruhigen. Im Gegensatz zu den rechtsradikalen Tätern von Köln seien die Nachahmer zumeist junge „Flegel“. Er riet der Polizei und der Bevölkerung: „Wenn Ihr irgendwo einen Lümmel erwischt, vollzieht die Strafe auf der Stelle und gebt ihm eine Tracht Prügel.“
Politisch hegte die Regierung eher den Verdacht, dass die DDR hinter den Schmierereien stehen könnte, um die Bundesrepublik als Hort von Altnazis zu verunglimpfen.
Für den Kölner Schriftsteller Heinrich Böll machte die eine wie die andere Sicht keinen Unterschied für die verheerende Bedeutung der „Zeichen an der Wand“. Er schrieb im Januar 1960: „Selbst wenn alle Hakenkreuze von Saboteuren und Flegeln aufgemalt worden wären, so wäre damit doch nicht die Tatsache ausgelöscht, dass ein Hakenkreuz in unserem Staat auf eine Synagoge gemalt, jene Vergangenheit zu wecken vermag, die noch nicht vergangen ist.“
Böll fehlte der radikale Schnitt mit der Vergangenheit. Einmal, weil Altnazis in das Gewand von Demokraten geschlüpft waren und an wichtigen Stellen der Bundesrepublik saßen. Zum anderen, weil den jungen „Flegeln“ in der jungen Bundesrepublik die Gräueltaten des Naziregimes verschwiegen wurden. Schon 1954 klagte er in einem Beitrag für die Kölnische Rundschau unter dem Titel „Aufstand des Gewissens“ an: „Unsere Kinder wissen nicht, was vor zehn Jahren geschehen ist. Sie lernen die Namen von Städten kennen, mit deren Nennung sich ein fader Heroismus verbindet: Leuthen, Waterloo, Austerlitz, aber von Auschwitz wissen unsere Kinder nichts.“ Und boshaft fügte er hinzu: „Wir beten für die Gefallenen, die Vermissten, für die Opfer des Krieges, aber unser abgestorbenes Gewissen bringt kein öffentliches, kein klares und eindeutig formuliertes Gebet für die ermordeten Juden zustande, und doch müsste jeder, der Augen hat zu sehen, wer Ohren hat zu hören, es überall sehen, überall hören.“
Die Täter von Köln wurden noch im Januar 1960 zu Haftstrafen von zehn und 14 Monaten verurteilt – wegen Sachbeschädigung. Ein Gesetzentwurf zur Volksverhetzung lag im Bundestag seit langem auf Eis. Er wurde unter dem Eindruck der Schändungswelle erst im Laufe des Jahres 1960 verabschiedet. Die Forderungen nach einem Verbot der „Deutsche Reichspartei“, der die Täter angehörten, wurden lauter. In Rheinland-Pfalz, wo die Partei es 1959 in den Landtag geschafft hatte, wurde sie 1960 verboten. Bundesweit löste sie sich 1965 nach den Erfolgen der NPD auf und ging in der neuen rechtsextremen Partei auf.
Mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 rückte die juristische Aufarbeitung des Holocaust erstmals ins öffentliche Interesse. Doch einem breiten Publikum wurde der Mord an sechs Millionen Juden in den nationalsozialistischen Todesfabriken erst 1979 durch die Ausstrahlung der US- Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ bekannt. Mehr als 20 Millionen Zuschauer sahen die Serie über die unvorstellbare Brutalität der „Endlösung“ im deutschen Fernsehen. Bundeskanzler Helmut Schmidt würdigte die „Geschichte der Familie Weiss“ im Bundestag mit den Worten: „Jedenfalls zwingt dieser Film zu Nachdenken, zum moralischen Nachdenken.“ Der Kanzler verband dieses Nachdenken mit der Aufforderung an alle Fraktionen, die Verjährungsfrist für Mord aufzuheben, um die juristische Verfolgung von Nazitätern in der Bundesrepublik für alle Zeit möglich zu machen.
Erstveröffentlichung in www.vorwaerts.de