Wir leben in einer Demokratie – zum Glück. Die zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass ein Regierungschef in Berlin kein absolutistischer Herrscher ist; und dass Irrtümer möglich sind und korrigiert werden können.
Das muss man so betonen. Grund sind persistent autoritäre und verfassungswidrige mediale Tendenzen. In ihren verkaufsfördernden Konzept der Personalisierung der Politik tendieren die Medien u.a. dazu, die Person an der Spitze in Berlin zum „Allmächtigen“ aufzupusten und ihm das „Irren ist menschlich“ abzusprechen. Dies gilt es abzuwehren.
Bundeskanzler Scholz hat bei seiner überraschenden, weil intern kaum abgestimmten Regierungserklärung am Sonntag, den 27. Februar 2022 zwei finanzielle Festlegungen getroffen.
1. „Wir werden … ein Sondervermögen Bundeswehr einrichten, …. Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen. … ich richte mich hier an alle Fraktionen des Deutschen Bundestages: Lassen Sie uns das Sondervermögen im Grundgesetz absichern.
2. „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren. … Wir streben dieses Ziel nicht nur an, weil wir bei unseren Freunden und Alliierten im Wort stehen, unsere Verteidigungsausgaben bis 2024 auf 2 Prozent unserer Wirtschaftsleistung zu steigern. Wir tun dies auch für uns, für unsere eigene Sicherheit, wohl wissend, dass sich nicht alle Bedrohungen der Zukunft mit den Mitteln der Bundeswehr einhegen lassen. Deshalb brauchen wir eine starke Entwicklungszusammenarbeit.“
Beide Festlegungen klingen wie in Stein gemeißelt. Doch für beide braucht der Kanzler Mehrheiten im Deutschen Bundestag. Die hatte er vorab nicht organisiert. Zwei Monate später bröckelt es. Hier der aktuelle Stand.
1. Sondervermögen Bundeswehr
Um das Sondervermögen einrichten zu können, bedarf es der Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion. Die 100 Mrd. € sollen per Kreditermächtigung und jenseits des Haushalts fließen. Dazu gibt es, darüber hinaus, keinen neuen Stand. Der Stand vom 27. Februar 2022 ist vielsagend genug.
Zum Hintergrund des Entstehens. Seit längerem gab es innerhalb des Bundeswehrverbands (DBWV) eine Gruppe, die nach grundsätzlichen Neuansätzen in der neuen Koalition gesucht hatte. In Führung war der DBWV-Vorsitzende Wüster gegangen. Der hatte dazu zwei Treffen mit Finanzminister Lindner, das zweite am 24. Februar vormittags – eine Kairos-Situation. Da muss die Idee mit dem Sondervermögen festgeklopft worden sein. Der Kreis der Eingeweihten, mit denen abgestimmt wurde, blieb sehr klein. Am selben Tag bis Freitag erfolgte zunächst die Abstimmung mit Kanzler Scholz, mit Einbindung der Grünen-Führung im Kabinett. Anschließend gab es eine Abstimmung mit Oppositionsführer Merz, der erforderlichen Verfassungsänderung wegen, um Klima- und Sicherheitspolitik nicht unter einem Finanzdeckel /“Schuldenbremse“ gegeneinander fahren zu müssen.
Das gelang. Merz hat zugestimmt, wenn auch unter Vorbehalten. Erklärt hat er die Zustimmung in seiner Rede am Sonntag im Deutschen Bundestag – die ist substantiiert, weil er zu den wenigen gehörte, die vorab informiert waren. Hier das Protokoll
Die Bedingungen, an die Merz die Zustimmung seiner Fraktion geknüpft hat, hatten damals noch einen energie- und konsumpolitischen Kern. Das liest sich wie folgt:
„Wir haben in den letzten Tagen mit Ihren Fraktionen um gemeinsame Antworten gerungen, und wir geben sie wieder in einem Entschließungsantrag, den wir heute gemeinsam mit der SPD, den Günen und der FDP einbringen. Aber lassen Sie mich das ganz deutlich sagen: Dieser Antrag ist nur das gemeinsame Minimum, das wir heute hier feststellen können. …. Herr Bundeskanzler, <wir> bieten Ihnen und Ihrer Regierung … umfassende und konkrete Hilfe und Unterstützung an …. Wenn Sie es für notwendig erachten, die Energiepolitik und die Ihrer Regierung neu auszurichten, wenn Sie mit uns der Meinung sind, dass wir jetzt endgültig auf keine weiteren Optionen der Energieerzeugung mehr verzichten dürfen, dann finden Sie dabei unsere tatkräftige Unterstützung. …. Wie wir diese neuen Schulden aufnehmen und wie wir sie dann möglicherweise in unserer Verfassung verankern, … Darüber müssen wir dann in Ruhe und im Detail sprechen. Lassen Sie mich auch dies ganz klar sagen: Das machen wir dann in allen Teilen gemeinsam, nicht in der Arbeitsteilung, dass wir für Sie bei den unangenehmen Dingen den Kopf hinhalten und Sie in Ihrer Koalition unverändert alle Wohltaten weiter zulasten der jungen Generation verteilen, Herr Bundeskanzler. Das machen wir dann nicht!“
Das lese ich so, dass Merz für die CDU/CSU-Fraktion die Nutzung der Atomkraftwerke – zumindest als Option – zur Bedingung ihrer notwendigen Zustimmung zur Verfassungsänderung gemacht hat. Das liegt auch deswegen nahe, weil sich Oettinger und Fuest (Chef Ifo-Institut; Lindner-Berater) wie orchestriert dazu öffentlich werbend geäußert haben.
Zwei Monate später, in der gemeinsamen Entschließung von Regierungs- und Unionsparteien vom 27. April 2022, kommt allein das Sondervermögen noch vor, und das konsensual – das Einfrieren der im Verteidigungshaushalt, in der Mittelfristigen Finanzplanung, bereitgestellten Mittel, der „freeze“ auf dem Niveau von 2021, spielt keine Rolle. Mehr dazu unten.
2. 2%-Quote für “Verteidigung” ab 2022
Als erstes muss man das bedrückende Phänomen ansprechen, dass selbst unserem Bundeskanzler, der verteidigungspolitischer Neuling ist, von seinem Stab eine Aussage untergeschoben wird, die falsch ist. Der Redeteil, dass
„wir bei unseren Freunden und Alliierten im Wort stehen, unsere Verteidigungsausgaben bis 2024 auf 2 Prozent unserer Wirtschaftsleistung zu steigern“
ist schlicht fake. Das ist weder der Wortlaut noch gar der Sinn der Kompromissformulierung zum NATO-burden-sharing-Beschluss von Wales Anfang September 2014. Der mediale Dauerbeschuss mit dieser zuspitzenden aber falschen Formulierung über Jahre zeitigt Wirkung in den Hirnen, nicht nur der breiten Masse sondern selbst in der Regierungsspitze. Erfunden hatte Generalsekretär Stoltenberg diese Vereinfachung für die von der NATO berichtenden Journalisten, um eine Front zu begradigen, um dem NATO-Gegner Trump einen Hebel zum Einreißen des NATO-Gebäudes zu nehmen. Das war situationsgemäß verständlich. Dass die wahrheitswidrige Vereinfachung nach Trumps Abtritt weitervertreten wird, ist aber Unsinn: Der Anlass ist entfallen, Trump ist nicht mehr Präsident, die NATO wurde gerettet. Verteidigungsausgaben können wieder bedarfsgemäß kalkuliert werden.
Die Bestimmung des Bedarfs ist gerade eine höchst spannende Aufgabe. Mit den „Garagentechnologien“, einfachen Präzisionswaffen wie manngestützten Luft- und Panzer-Abwehrgerät sowie Drohnen, deutet sich erneute eine waffentechnologisch induzierte militärstrategische Revolution an, die zu einem Umschlag, zu einer David-versus-Goliath-Konstellation, führen könnte. Man ist erinnert an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als die teuren und komplexen „Schlachtschiffe“ als Inbegriff militärischer Überlegenheit zur See galten und entsprechend angeschafft wurden, ihnen aber zu Beginn des Krieges alsbald mit der Billig-Waffe „U-Boote“ überraschend der Garaus gemacht wurde. Der unerwartete Erfolg der Ukraine im Abwehrkampf um Kiew, der wesentlich auf der Lieferung westlicher Kleinlenkwaffen, verbunden mit Bereitstellung westlicherseits gewonnener Aufklärungsergebnisse, zurückzuführen ist. gibt dieser Revolutions-Erwartung erneut Auftrieb.
Als Zweites lohnt ein Blick in die Beschlüsse zum Bundeshaushalt 2022 sowie in die jüngsten Parteitagsbeschlüsse von Grünen und FDP.
A) Bundeshaushalt. Der Haushalt des Bundes für 2022 ist verabschiedet, der Verteidigungshaushalt („Einzelplan 14“) steht. Das Ergebnis ist in der Graphik gezeigt. Es hat einen Anstieg gegenüber 2021 um gut 7 Prozent gegeben. Entscheidend aber ist die selbstbindende Aussage dieser Koalitionsregierung:
„… soll der Etat gegenüber dem geltenden Vierjahres-Finanzplan ab 2023 durchgängig 50,1 Milliarden jährlich hinterlegt werden. … Insgesamt ergibt sich ein Plus von rund 12,4 Milliarden Euro im Vergleich zum geltenden Finanzplan.“
B) Die Partei Bündnis 90 Die Grünen haben ihren 1. Ordentlicher Länderrat 2022, den sog. „Kleinen Parteitag“, am 30. April 2022 in Düsseldorf abgehalten und in dem Beschluss zum Ukraine-Krieg formuliert:
„lehnen eine Verankerung der von Vorgängerregierungen zugesagten NATO-Quote von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben im Grundgesetz ab. Fixe Quoten abseits des Bedarfs der Bundeswehr, bei fehlenden effizienten Beschaffungsstrukturen und einem Zu-wenig an europäischer Zusammenarbeit bedeuten eben genau nicht mehr Sicherheit;“
Das bedeutet: Sie machen zwar ebenfalls das fälschliche Narrativ „2 Prozent vom BIP ab 2024 ist Beschlusslage“ zur Grundlage ihrer Entscheidung, lehnen das Phantom aber ab, weil es um eine bedarfsgerechte Finanzierung der Bundeswehr gehe. Wie wahr.
C) Die Freien Demokraten erwähnen die Scholzsche Zusage von 2 Prozent vom BIP ab 2022 bei dem Beschluss auf ihrem letzten Bundesparteitag (23. April) gar nicht erst, sie nennen allein das Sondervermögen und werben allein dafür um die Zustimmung der Union.
Ergebnis ist somit:
- Die Bundeswehr bzw. die Ausgaben für Verteidigungszwecke werden in der laufenden Legislaturperiode im Haushalt (Epl. 14) um insgesamt 12 Mrd. € erhöht. Zusätzlich wird es in den nächsten rund 10 Jahren eine zusätzliche Verfügungsmasse aus dem Sondervermögen geben, hauptsächlich für Investitionsprojekte (Groß-Rüstungsprojekte; Liegenschaften fit machen für Kimaneutralität).
- Die Maßgabe „2 Prozent vom BSP ab 2022“ ist wieder vom Tisch genommen. Bündnisintern ist das kaum angreifbar, weil mit dem Sondervermögen das Investitionsdefizit abgebaut wird und damit für eine Übergangszeit man den 2 Prozent näher kommt.
- Mit dem Einstampfen der Option, „Erreichen des 2%/BIP-Zieles“ parallel zum Schließen des Investitionsdefizits via Sondervermögen vermeidet man das folgende Szenario: bei einem BIP-Wachstum bis 2030 nominal 2,5 % p. a. → BIP erreicht in 2030 ca. 4.500 Mrd. € → Verteidigungsausgaben in Höhe 2 % vom BIP steigen dann auf ca. 90 Mrd. €; ein Zielpfad bei stetiger Annäherung an 2 % vom BIP erforderte eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts um etwa 6,5 % pro Jahr.
Mit der Entscheidung für Konstanz der Ausgaben im Haushalt des Verteidigungsresssorts ist das Schreckgespenst „40 Mrd. €/a mehr für’s Milität“ abgewendet – im stillschweigenden Konsens aller Parteien. Pfff, das war knapp.
[1] https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356
[2] https://dserver.bundestag.de/btp/20/20019.pdf
[3] https://dserver.bundestag.de/btd/20/015/2001550.pdf
[4] https://peaceful-spence.217-160-25-183.plesk.page/deutschlands-2-nato-quote-krieg-der-worte-und-der-statistik/
[5] https://dserver.bundestag.de/btd/20/010/2001000.pdf
[6] https://www.bmvg.de/de/aktuelles/deutlich-aufgestockt-verteidigungshaushalt-5372564
[7] https://cms.gruene.de/uploads/documents/F-01_vorl._Beschluss_Für_Frieden_in_der_Ukraine.pdf
[8] https://www.fdp.de/seite/antrag-a4004-frieden-freiheit-und-eine-europaeische-perspektive-fuer-die-ukraine-11