Bundeskanzler und Oppositionschef stehen sich grundsätzlich gegenüber, als politische Gegner, der eine regiert, der andere opponiert. Der eine erklärt vom Redner-Pult seine Regierung mit all den Wohltaten, der andere greift an, kritisiert und hält alles für falsch, was die jeweilige Regierung beschließt und macht und tut. Da kann es sein, dass der Kanzler von oben herab daherkommt. Er sitzt ja im Bundestag, also im Berliner Reichstag, auch über dem Ganzen, was ihn aber nicht verleiten sollte, seine Rolle falsch einzuschätzen. Ohne seine Fraktion ist er ein Regent ohne Land. Er braucht sie, sie sichern ihm die Mehrheit. In der aktuellen Koalition braucht der Kanzler Scholz die Zustimmung von SPD, den Grünen und der FDP. Nicht ganz einfach, wie man an den ewigen Streitereien sieht. Der Kanzler muss also moderieren, im Grunde sie alle bei Laune halten. Sonst fliegt ihm eines nicht zu fernen Tages der ganze Laden per Misstrauensvotum um die Ohren. Und wer weiß, ob der Kanzler, dieser oder sein Nachfolger, eines nicht zu fernen Tages die Opposition braucht, weil eine Zweidrittel-Mehrheit verlangt wird, um Änderungen im Grundgesetz herbeizuführen.
Die stärkste Oppositionspartei, in diesem Fall die Union, ist grundsätzlich eine Regierung im Wartestand. Im Falle von Friedrich Merz, dem CDU-Chef und Vorsitzenden der Fraktion aus CDU und CSU, ist das sicherlich ein wenig anders. Der Sauerländer, gestützt von Umfragen, die der Union rund 30 Prozent der Stimmen geben, würde am Sonntag gewählt, sieht sich quasi schon mit einem Bein im Kanzleramt. Die Rolle eines Schattenkanzlers spielte er fast von Anfang an. Was mit seinem Selbstverständnis zu tun haben mag. Er hält sich für den Größten. Also reiste er einst in geheimer Mission nach Kiew, um sich dort mit Ministerpräsident Selenskij zu treffen. Merz im Kriegsgebiet, das lieferte die erhofften Bilder von der Front, Merz mittendrin. Scholz sei not amused gewesen. Hieß es.
Was Merz wiederum unterschätzt, dass Olaf Scholz nun nicht gerade der Politiker ist, der vor anderen in die Knie geht. Vor einem wie Merz schon gar nicht. Über Scholz wird erzählt, der könne ganz schön arrogant auftreten. Obwohl der kühle Hanseat nicht gerade über ein Gardemaß verfügt, sieht er sich über allen anderen stehend. Scholz wird nachgesagt, er wisse (fast) alles und vor allem alles besser. Und dass er den Oppositionschef Merz auf Distanz hält und diesen nicht dadurch aufwertet, indem er ihn quasi jeden Monat einmal zum Essen und zum politischen Austausch ins Kanzleramt lädt, wird den CDU-Politiker nicht gerade erfreuen. Zumal er dem Regierungschef unterstellt, dass der ihn nicht nur nicht mag, sondern ihm auch nicht viel Gutes zutraut. Höflich formuliert.
Nun müssen Kanzler und Herausforderer nicht unbedingt Freunde sein, aber Respekt voreinander sollten sie schon haben. Sie sind beide Demokraten, einig im Ziel, dieses Land weiter nach vorn zu bringen und es im Notfall gegen die Feinde zu schützen. Und diese gibt es in Form von Verfassungsfeinden, die einen anderen Staat wollen als diese Bundesrepublik. Die in großen Teilen rechtsextreme AfD will eine andere Republik, allein ihre Vorstellungen von einem völkischen Staat, von einer Art Umvolkung, einer Remigration von Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund ist ein klarer Bruch mit dem in Artikel 1 Grundgesetz festgelegten Satz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Diese Partei will eine völlig andere Erinnerungskultur, der Massenmord an Juden, die Shoa, soll nur noch wie ein „Vogelschiss“ in der ach zu wundervollen deutschen Geschichte erscheinen und die Leistungen und Errungenschaften der Wehrmacht in den Weltkriegen sollen gepriesen werden. Der Vernichtungskrieg gegen die Völker der Sowjetunion? Geschichte. Die Verbrechen der Wehrmacht in Polen und in anderen Ländern Europas? Vielleicht eine Randnotiz. Das Nationale soll ins Zentrum Deutschlands rücken, deshalb will man auch raus aus der Europäischen Union.
Und diese AfD schickt sich an, Mehrheitspartei in mindestens drei Bundesländern im Osten zu werden, sie will regieren, will Ministerpräsidenten stellen, sie will den Verfassungsschutz ändern, und man darf davon ausgehen, dass sie wie ihre Brüder im Geiste in Polen und in Ungarn das Bundesverfassungsgericht unter ihre Kontrolle nehmen will. Um das zu erreichen, muss sie die Wahlen der Richter für das höchste deutsche Gericht in ihren Griff kriegen, muss sie ihre eigenen Leute dort durchsetzen, um zu bestimmen, was Sache ist oder mindestens blockieren. Sie wird die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten in ihre Machtbefugnis bringen. Und so weiter.
Wenn sie dafür die Mehrheiten hat. Verhindern können das nur die Demokraten, die Union, die SPD, die Grünen und die FDP. Mit einer Zweidrittel-Mehrheit kann das Bundesverfassungsgericht sturmfest gemacht werden, mit der Mehrheit der Demokraten können die Geschäftsordnungen der Länder-Parlamente so verändert werden, dass sie dem Ansturm der Rechtsextremen standhalten. Mit der Mehrheit der Demokraten kann, muss es gelingen, Kandidatinnen und Kandidaten von Parteien zu Ministerpräsidenten zu wählen, die demokratisch sind und so handeln. Die dafür stehen, dass die Würde des Menschen unantastbar bleibt. Dass wir Toleranz leben und Vielfalt, aber Rassismus und Fremdenhass bekämpfen. Dass das Grundgesetz ein Fundament des Rechtes bleibt. Die Stärke des Rechts muss gelten und nicht das Recht des Stärkeren. Damit Minderheiten ihre Rechte und ihren Schutz in diesem Land behalten, Minderheiten, Ausländer, Juden, Moslems.
Die nötige Zusammenarbeit von SPD und Union, von Union und SPD könnte schon in diesem Jahr dringend werden. Sie könnte erforderlich werden, wenn der Krieg, den Russland über die Ukraine gebracht hat, länger andauert, wenn Putins imperiales Gehabe eines Tages zum Übergriff auf Nato-Staaten führt. Wer weiß schon, wie lange Amerika noch seinen Schutzschirm über Europa hält, wer weiß schon, wer die nächsten Wahlen in den USA gewinnt? Wenn es einer wie Trump werden sollte, ist Europa gefragt, Deutschland, Frankreich, Polen und all die anderen, damit wir uns wehren können. Dafür braucht es Große Koalitionen und nicht das kleinkarierte, das immer durchschimmert in den parteilichen Auseinandersetzungen in Berlin.
Jawohl, es ist kleinkariert, wenn Friedrich Merz den Kanzler als Klempner der Macht beschimpft, es ist kleinkariert, wenn Scholz seinen Herausforderer eine feige Mimose nennt. Es ist kleinkariert, wenn Merz Scholz zuruft, ersparen Sie sich und uns künftig weitere Angebote der Zusammenarbeit. Herr Merz, Sie könnten noch früh genug auf die Stimmen der Sozialdemokratie angewiesen sein, wenn die Union bei den nächsten Wahlen stärkste Partei wird und Sie, Herr Merz, eine regierungsfähige Mehrheit brauchen. Das könnten die Grünen sein, was aber nicht garantiert, dass es reicht. Es könnte die SPD sein, die schon oft genug bereit stand, um einem Unions-Kanzler eine Mehrheit zu verschaffen. Einer wie Willy Brandt, der vor den Nazis einst ins Ausland floh, um seine Haut zu retten, nahm das Angebot von Kurt-Georg Kiesinger an, wissend, dass Kiesinger Mitglied der NSDAP gewesen war. Ich weiß selbst, dass die SPD in die Regierung wollte, um zu beweisen, dass sie regierungsfähig war. Die SPD hat viele Jahre mit Angela Merkel gemeinsam regiert. Koalitionen zwischen CDU und SPD gab es immer auch in den Ländern. Zum Beispiel jetzt in Berlin. Und nicht zum Schaden des Volkes.
Friedrich Merz und Olaf Scholz werden miteinander reden, sie werden sich zusammenraufen müssen, wenn Not am Mann ist. Ich will gar nicht wissen, warum sie sich nicht leiden können. Sie müssen sich nicht lieben, nicht gemeinsam in Urlaub fahren und auch nicht gemeinsam Geburtstag feiern. Aber Sie müssen um ihre Verantwortung wissen für dieses Land. Und wenn Gefahr in Verzug, müssen persönliche Animositäten beiseite geräumt werden. Das ist ihre Pflicht. Als Demokraten.