Kanzlerkandidat ist kein Amt, für das man bezahlt wird. Es steht nicht mal in der Verfassung. Wenn man gewinnt, entfällt das mit dem Zusatz „Kandidat“, dann hat man das wohl schwerste Amt im Land, steht ganz oben. Der- oder diejenige weiß, dass er/sie ab sofort keine freie Minute mehr hat. Weil er/sie vorn steht, auf der Bühne, im Licht der Fernseh-Kameras, ständig unter Beobachtung. Wenn man aber verliert, war es das mit dem Griff nach dem wichtigsten Amt, das diese Republik zu vergeben hat. Das hart und heiß umkämpft ist. Wie zuletzt in der Union, als Friedrich Merz den bayerischen Möchte-Gern-Kanzler Markus Söder auf Distanz hielt wie 2021, als Armin Laschet gegen Söder gewann-und dennoch nicht Kanzler wurde, weil er im Wahlkampf an Söder und bei der Wahl an Olaf Scholz gescheitert war.
Man frage die anderen Kandidaten und Kandidatinnen, die vergeblich ans Tor des Kanzleramtes klopften, ohne je den Schlüssel für den Zugang in Händen gehalten zu haben. Nicht wahr, Edmund Stoiber? Auch sein großes Vorbild, Franz-Josef Strauß, hielt sich zwar für den Größten, Helmut Schmidt konnte er nicht verdrängen. Oder nehmen wir Johannes Rau, den SPD-Hoffnungsträger in den 80er Jahren, der gegen Helmut Kohl keine Chance hatte. Wie zuvor Hans-Jochen Vogel, der ebenso gegen Kohl unterlag wie später Rudolf Scharping, beide Sozialdemokraten. Und ja, auch einer der ganz Großen in der deutschen Nachkriegszeit, Willy Brandt, brauchte mehrere Anläufe, um es zu schaffen. Brandt verlor gegen Adenauer 1961 und 1965 gegen Ludwig Erhard, der dann das Vertrauen der Union verlor und deshalb dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt-Georg Kiesinger Platz machen musste. Drei Jahre war Kiesinger Kanzler der ersten Großen Koalition, ehe er als vermeintlicher Wahlsieger 1969 spätabends ins Bett ging, um am nächsten Morgen als Oppositionspolitiker aufzuwachen. Brandt und Scheel hatten sich auf die erste sozialliberale Koalition verständigt.
Rhöndorfer Konferenz
Es fällt bei einem Rückblick auf 75 Jahre Bundesrepublik auf, dass die CDU-Kanzler Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel lange Amtszeiten schafften: Adenauer hielt sich trotz seines Alters 14 Jahre im Amt. Erstmals wurde der „Alte“ mit 73 Jahren Bundeskanzler der Bundesrepublik. Übrigens war Adenauer auch der erste Kanzlerkandidat der Unionsparteien, nominiert bei den Rhöndorfer Konferenzen, die am 21. August 1949 begannen. Helmut Kohl war 16 Jahre Bundeskanzler, eine Periode, die auch Angela Merkel erreichte. Möglich, dass sie ein paar Tage länger im Amt war als Kohl. Dagegen war der SPD-Bundeskanzler Willy Brandt lediglich fünf Jahre Kanzler, ehe er im Verlauf der Giullaume-Affäre zurücktrat, sein Nachfolger wurde Helmut Schmidt, der am 1. Oktober 1982, nach acht Dienstjahren, durch ein konstruktives Misstrauensvotum durch Helmut Kohl gestürzt wurde.
Die SPD benötigte einige Anläufe, um Helmut Kohl als Kanzler abzulösen. Zu den schon erwähnten Vogel, Rau und Scharping kam noch Oskar Lafontaine, der aber gegen den Einheitskanzler Kohl ohne Chance war. Die Kanzlerkandidatur von Lafontaine war nicht umstritten, aber der Kandidat, körperlich geschwächt durch ein Attentat, zögerte ein wenig, ehe er dem Drängen der Parteispitze um Vogel und Brandt nachgab.
Glücklos verlief die Kanzlerkandidatur von Rudolf Scharping, auf den die SPD große Hoffnungen gesetzt hatte, endlich den „Schwarzen Riesen“ aus Oggersheim zu besiegen. Doch der als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz erfolgreiche Scharping schaffte den Sprung ins Kanzleramt 1994 auch deshalb nicht, weil seine partei-internen Konkurrenten- den Begriff Parteifreund erspare ich mir- Schröder und Lafontaine ihm das Leben im Wahlkampf schwer machten. Vielleicht waren die Kanzler-Schuhe auch einfach eine Nummer zu groß für Scharping. Nach der verlorenen Bundestagswahl 1994 geriet die SPD in Turbulenzen, weil sie in Umfragen auf 23 Prozent absackte. Auf dem Parteitag in Mannheim 1995 wurde Scharping dann als SPD-Parteichef gestürzt, Nachfolger wurde Oskar Lafontaine. Übrigens musste für die Wahl erst die Satzung der Partei geändert werden, weil der Kongress in Mannheim kein Wahlparteitag war. Hans-Jochen Vogel sprach deshalb von „Putsch“. Drei Jahre später wurde Gerhard Schröder Bundeskanzler. Nach nur sieben Jahren im Amt wurde der Niedersachse von Angela Merkel nach einem verlorenen Misstrauensvotum und dem Sieg bei den Neuwahlen erste Bundeskanzlerin in der Geschichte der Republik.
Übrigens: Schröder war Kanzlerkandidat der SPD geworden, weil er mit Lafontaine, dem damaligen Parteichef, eine Vereinbarung getroffen hatte. Die besagte, wenn der niedersächsische Ministerpräsident Schröder bei der Landtagswahl im Frühjahr 1998 seinen Wahlsieg vom letzten Mal(1994) um zwei Prozentpunkte verbessern würde, wäre er der Kandidat. Gegen 17 Uhr am Wahlsonntag 1. März 1998 rief der Saarländer seinen damaligen Noch-Parteifreund in dessen Wohnung in Hannover an und gratulierte ihm mit den Worten: „Hallo Kanzlerkandidat.“
Als Engholm stürzte
Viele andere Kanzlerkandidaturen waren kaum erwähnenswert, weil die Herausforderer keine oder nur eine geringe Chance gegen die Amtsinhaber hatten. Man denke an Kurt Schumacher, der bei der ersten Wahl gegen Adenauer verlor. Erich Ollenhauer erging es ähnlich und zwar 1953 und 1957, wo Adenauer sogar die absolute Mehrheit gewann. Ein besonderer Fall war Björn Engholm, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Er wurde schon im Mai 1991 zum SPD-Kanzlerkandidaten für die Wahl 1994 ausgerufen. Doch der im Zuge der Barschel-Affäre zunächst zum Regierungschef von Kiel gewählte SPD-Politiker musste im Mai 1993 eben wegen der Barschel-Affäre zurücktreten, weil er an irgendeiner Stelle die Unwahrheit gesagt hatte. Hinzuweisen wäre noch auf Frank-Walter Steinmeier, den früheren Amtschef des Kanzlers Schröder, der nach der Wahl 2005 zunächst Außenminister im ersten Kabinett von Merkel wurde, um diese dann vier Jahre später, 2009, als Kanzlerkandidat-vergeblich- herauszufordern. Peer Steinbrück, Ex-Ministerpräsident von NRW, führte die SPD 2013 in den Bundestagswahlkampf. Aber auch mit der von ihm verlangten und von der SPD-Spitze gewährten Beinfreiheit konnte der gebürtige Norddeutsche die Kanzlerin nicht in Schwierigkeiten bringen.
Und jetzt ist Friedrich Merz der Kanzlerkandidat der Union, er hat es geschafft, die Union in allen Umfragen auf über 30 Prozent zu bringen, teilweise erreichen CDU und CSU schon 33 und mehr Prozent Zustimmung. Damit liegt die Union mit Merz weit vor der SPD mit ihrem Kanzler Olaf Scholz. Die SPD, würde jetzt gewählt, müsste sogar befürchten, auf Platz vier abzurutschen, hinter Union, AfD und Grünen. Im besten Fall kommen die Sozialdemokraten zur Zeit auf 16 Prozent, viele Bundestagsabgeordnete der SPD würden demnach ihr Mandat verlieren. Grund des schlechten Abschneidens ist auch die Unbeliebtheit des amtierenden Kanzlers Scholz. Im entsprechenden Ranking liegt er auf dem letzten Platz, während Verteidigungsminister Boris Pistorius(SPD) auf Platz 1 ist. Das ist mit der Grund, warum es in der SPD eine Debatte darüber gibt, ob Olaf Scholz als gewählter Kanzler nochmal antreten oder ob er nicht Platz machen sollte für Pistorius. Altkanzler Gerhard Schröder, wegen seiner anhaltenden Freundschaft mit dem russischen Despoten Wladimir Putin bei vielen in der SPD in Misskredit geraten, warnte die Genossen, ihren eigenen Kanzler zu stürzen. Das wollen die meisten Sozialdemokraten nicht, die sich in dieser heiklen Diskussion zu Wort melden, sie möchten, dass Scholz von sich aus verzichtet, weil er einsieht, er kann die Wahl nicht gewinnen. Nicht mal die SPD steht geschlossen zu ihrem Kanzler, anders als 2021, als Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken zusammen mit Lars Klingbeil das Kunststück fertiggebracht hatten, die SPD hinter ihrem Kanzlerkandidaten Scholz zu versammeln. Deshalb gelang der Aufstieg aus den Niederungen der Umfragen bis zu jenen 26 Prozent am Wahlabend.
Auch Pistorius würde gegrillt
Olaf möge verzichten? Niemals, ruft mir jemand zu, nie werde Scholz das tun. Einsehen, dass er Fehler gemacht habe, der? Niemals. Olaf verliert die Wahl? Wird der nie annehmen, er hält sich für unbesiegbar. Und Pistorius wartet ab, natürlich meldet er sich nicht freiwillig und fordert den Stuhl des Kanzlerkandidaten für sich. Das müssten dann andere tun. Und ist es klug, wenn Pistorius statt Scholz antritt? In dem Moment, wo diese Meldung das Licht der Öffentlichkeit erblickt, würden dieselben Medien, die Scholzens Rückzug fordern, damit beginnen, Pistorius zu grillen oder zu schleifen, wie das ein Betroffener mal ausdrückte. Und wäre denn ein Wahlergebnis von 21 Prozent für die SPD mit einem Pistorius wirklich ein Erfolg? Würde nicht das Fazit lauten: Im Vergleich zur letzten Wahl habe die SPD fünf Prozentpunkte eingebüßt. Trotz Pistorius und schon wäre auch der angeschlagen.
In der SPD wächst der Unmut über Scholz, an der Basis nimmt das Grummeln zu wie in der Bundestagsfraktion. Wer sagt es Scholz? Ein Zeitgenosse erinnert sich an den Fall Scharping 1995, kurz vor dem Mannheimer Parteitag. Miese Stimmung in der SPD. Scharping habe zwar die Kritik an seiner Person vernommen, gewusst, dass einer wie Schröder ihn beerben mochte, dass Lafontaine sich für eher befähigt hielt, die älteste deutsche Partei zu führen, aber, so Scharping damals: Die trauen sich nicht. Er hatte sich verkalkuliert, zehn Tage später war er weg, gestürzt von Oskar mit Hilfe von Gerhard. Wer macht den Oskar?
Beim Versuch einer Analyse der Möglichkeiten, die sich der deutschen Sozialdemokratie bieten, findet man folgendes: Beliebtheitswerte gründen sich auf Gerede. Und auf Unwissen. Auf „Verzäll“ – wie man im Rheinland sagt. Der „Verzäll“ ist nichts Verbotenes, er hat freilich auch keine dauerhafte Wirkung. Die Eltern dieses rheinischen Phänomens heißen ja auch „Hui“ und „Pfui“.
Das gegenwärtige, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten beschäftigende Problem ist nicht Gerede an sich, sondern die Tatsache, dass es in die SPD – Mitgliedschaft und in die Funktionsschichten „übergeschwappt“ ist. Die sind nicht immun gegen Gerede, sie können in Teilen leider nicht unterscheiden, wo Leistungen für alle oder viele erbracht wurden, wo es Auslassungen oder auch Fehler vom „Spitzenpersonal“ gab. Ein Fehler ist zweifelsohne das Verhältnis zur polnischen Regierung, das rasch verbessert werden muss! Ich mache in diesem Zusammenhang aus meinem Herzen keine Mördergrube. Heißt: wenn Sigmar Gabriel sich zu Personalien äußert, schalt ich ab. Punkt.
Das Zweite in der Analyse der Möglichkeiten: Man wechselt die Spitzenkraft „mitten im Strom“ nicht aus. Das könnte sich als fürchterlicher Fehler entpuppen. Allein schon deswegen nicht, weil ziemlich rasch von vieler derer, die bislang an der Spitzenkraft herumkritisiert hätten, erklärt würde: Das ist aber sehr unanständig, was ihr da macht, denn so darf man mit einem ehrenwerten Mann nicht umgehen.
Andere würden schreiben und erzählen: Warum erst jetzt. Der war schon viel früher reif. In keinem Fall würde das Geerde aufhören, sondern frisch gefüttert weitergehen.
In der Kernfrage, um die es geht, kann ich nur raten: Manche sollten die Klappe halten.
Es ist gut, dass Boris Pistorius den Stecker gezogen und die unselige und überflüssige Medien-Debatte beendet hat. Er hätte es besser ein paar Tage eher getan, und die wenigen Sozialdemokraten, die meinten, das Kandidaten-Gerede mit ihren Ratschlägen befeuern zu müssen, hätten besser geschwiegen. Dass der ganze Zirkus nie eine Partei-, sondern immer eine reine Mediendebatte war, merkte man den säuerlichen Kommentaren der Journalistinnen und Journalisten in den öffentlich-rechtlichen und den privaten Redaktionen an. Sie wollten es nicht glauben, dass ihnen ihr Lieblingsthema abhanden gekommen ist, stellten bohrende und sinnlose Fragen, behaupteten, Pistorius habe „verzichtet“ obwohl es gar nichts gab, auf das er verzichtet hatte, außer vielleicht auf den Titel „beliebtester Politiker“. Einige warfen ihm nicht nur Feigheit vor, sondern sogar Hinterhältigkeit: Sehenden Auges lasse er zu, dass Olaf Scholz in eine sichere Niederlage schlittert. Was hätten sie wohl geschrieben, wenn er ihren Ratschlägen gefolgt und gegen Scholz angetreten wäre?