Das Grundgesetz gibt dem Bundestag zwei Möglichkeiten, einen von ihm gewählten Bundeskanzler wieder loszuwerden. Die eine ist das konstruktive Misstrauensvotum. Das Parlament kann den Kanzler abwählen, wenn es zugleich einen neuen Regierungschef mit absoluter Mehrheit wählt.
Den Kanzler nur in die Wüste zu schicken, ohne zu entscheiden, wer es an seiner Stelle besser machen soll, lässt die Verfassung nicht zu. Das geht auf die Erfahrungen der Weimarer Republik zurück und trägt den Gefahren eines Machtvakuums und der Unregierbarkeit des Landes Rechnung.
Dieser Weg ins Kanzleramt ist Friedrich Merz versperrt. Der Oppositionsführer hat im Bundestag erkennbar keine Mehrheit hinter sich. Anders als 1982 beim Wechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl fehlen dem CDU-Chef erheblich mehr Stimmen zur Kanzlermehrheit, als die kleine FDP-Fraktion selbst bei größter Geschlossenheit aufbringen kann.
Bleibt der zweite Weg, zu dem sich Olaf Scholz (SPD) nach dem Bruch der Ampelkoalition entschlossen hat: die Vertrauensfrage. Auch die hat Helmut Kohl 1982 nach seiner Wahl zum Bundeskanzler gestellt, um die vorzeitige Auflösung des Parlaments und Neuwahlen zu erwirken. 2005 griff Gerhard Schröder mit dem gleichen Motiv zum gleichen Mittel.
Beide verfügten über ausreichende Mehrheiten, rechneten sich aber bessere Chancen in vorgezogenen Neuwahlen aus. Bei Kohl ging die Rechnung auf, bei Schröder nicht. Sie beide hatten die Vertrauensfrage mit der Absicht gestellt, dass das Parlament ihnen das Vertrauen verweigert. Das ist nicht unzulässig, aber auch nicht im eigentlichen Sinn des Grundgesetzes, weshalb es bei Verfassungsrechtlern durchaus ein Naserümpfen hervorruft.
Olaf Scholz trickst nicht mit der Vertrauensfrage. Ihm ist bewusst, dass er eine rot-grüne Minderheitsregierung führt. Er hat tatsächlich keine Mehrheit mehr im Parlament und muss nicht bitten, man möge ihn bei der Abstimmung doch bitte durchfallen lassen.
Allerdings: Scholz ist im Amt und er ist der vom Bundestag gewählte Herr des Verfahrens. Er entscheidet, wann er die Vertrauensfrage stellt, und er hat seinen Terminvorschlag Mitte Januar sachlich gut begründet. Da stehen noch einige Gesetzesvorhaben an, die so gut wie verabschiedungsreif sind – Steuern, Renten, Pflege, Mieten – und die der Bundestag in der laufenden Wahlperiode noch beschließen kann.
Die vorgesehenen Gesetzesänderungen sind vergleichsweise unstrittig. Statt die Vorarbeiten allesamt in die Tonne zu schlagen und die Gesetzgebungsverfahren nach Neuwahlen und wer weiß wie zäher Regierungsbildung ganz von vorne zu beginnen, sollten sich die Abgeordneten konstruktiv und verantwortungsbewusst verhalten. Schnellere Neuwahlen bedeuten eben nicht schnellere Lösungen, sondern das genaue Gegenteil.
Einmal ganz davon abgesehen, dass Wahlen organisatorische Vorbereitungszeit sowohl auf Seiten der Parteien, als auch in den Behörden brauchen. Das taktische Argument, dass vor allem die kleineren Parteien an den Rändern von einem möglichst frühen Neuwahltermin überrumpelt und nicht kampagnenfähig sein würden, hat der französische Präsident Emmanuel Macron mit seiner überraschenden Parlamentsauflösung nach der Europawahl entkräftet.
Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach den Motiven von Merz, Scholz dermaßen unter Zeitdruck zu setzen (was bei dem offenbar sogar Wirkung zeigt, wenn er nun signalisiert, über den Termin sei noch nicht das letzte Wort gesprochen). Klar kann es Merz nicht schnell genug gehen, bis er – wenn der Wähler es will – ins Kanzleramt einzieht. Doch die einzigen realistischen Perspektiven dafür sind die Große Koalition und – weit dahinter – Jamaika. Er wird also mit denen zusammenarbeiten müssen, die er jetzt auflaufen lässt. Verantwortungsvolle Regierungspolitik sieht anders aus. Merz hätte jetzt Gelegenheit zu zeigen, dass er auch davon etwas versteht.