Die Wahlen in den Freistaaten Thüringen und Sachsen haben Ergebnisse gezeitigt, die die Bürgerinnen und Bürger so gewollt und deswegen auch so gewählt haben.
Dies missfällt den „traditionellen Parteien, die sich besser als „Parteien des Verfassungsbogens“ (übersetzt nach dem italienischen „arco costituzionale“) bezeichnen sollten. Denn die Ergebnisse machen ihnen „das Leben schwer“, jedenfalls, solange sie in den gewohnten und eingeübten Bahnen und Prozeduren von Koalitions- und Regierungsbildungen denken und handeln.
Es haben sich in den letzten 25 Jahren Phänomene und Rituale herausgebildet, die an Kompliziertheit kaum noch zu überbieten sind: Vor-Sondierungen, Haupt-Sondierungen, Koalitionsgespräche in kleinen und in großen Runden, vorgeschaltete Haupt- und Unter-Arbeitsgruppen, die Formulierungsvorschläge erarbeiten sollen, sogenannte „Beichtstuhl-Gespräche“, in denen Kompromisse ausgelotet werden.
Das ganze System gleicht einem Irrgarten oder jenem Labyrinth, in dem der Sage nach der kretische König Minos den Minotaurus gefangen hielt. Der sagenhafte Stier sollte nach dem Willen des Königs den Irrgarten nicht verlassen können, sondern für immer gefangen bleiben.
Will aber die Politik aus dem „Gefängnis“ der eingeübten Prozeduren und der gewohnten Rituale ausbrechen – und das zu tun, gebietet die politische Vernunft –, dann muss sie einen Schnitt machen und auf bisherige Gewohnheiten verzichten.
Ein Blick zurück in die fernere Vergangenheit: Die Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und FDP aus dem Jahr 1961, mit welcher der Abschied Konrad Adenauers vom Amt des Bundeskanzlers besiegelt wurde, umfasste weniger als 10 Seiten und beschrieb, ohne sich in Details zu verlieren, die Hauptziele der zu bildenden Regierung in fünf großen Feldern der Politik.
Und wie sieht es in der jüngeren Vergangenheit aus? Die Ampel-Vereinbarungen von 2021 waren 177 Seiten lang und umfassten 61.000 Wörter, die der letzten Großen Koalition 2018 175 Seiten und 52.000 Wörter. Seit Jahrzehnten hat es sich eingebürgert, in Koalitionsvereinbarungen im Vorhinein alle denkbaren (und oft sogar alle undenkbaren) Fälle kasuistisch und detailverliebt abzuklären. Man verzichtet auf politische Gestaltung in der Regierung und auch in den Parlamenten, weil man mitunter sklavisch daran arbeitet, die Bestimmungen des Koalitionsvertrags umzusetzen.
Die Wirklichkeit ist also schuld, wenn sie einfach die Festlegungen des Koalitionsvertrags durcheinanderwirbelt, wie dies zum Beispiel der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine getan hat. Dieser war zwar bei Ampel-Start nicht auszuschließen, sondern höchstens zu befürchten. Aber er ließ sich gleichwohl nicht konkret vorhersagen und „einplanen“.
Die Detail-Besessenheit führt dann zu Sätzen wie diesem: „Die Weiterentwicklung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) geht mit einer ausreichenden Folgefinanzierung einher, mit der eine klare Standardisierung und Vereinheitlichung von IT-Verfahren nach dem Einer-für-alle-Prinzip (EfA) unterstützt wird“ (Ampel-Vertrag). Die Beispiele ließen sich beliebig erweitern. Solche Festlegungen sind stilistische Ungetüme und sollten aus politischen Absichtserklärungen – und mehr sollen und müssen Koalitionsvereinbarungen nicht sein – auf Nimmerwiedersehen verschwinden, auf Bundes- wie auf Länderebene.
Wenn sich die möglichen politischen Arbeitspartner in Sachsen und Thüringen (und vielleicht demnächst auch in Brandenburg) darauf verständigen würden, sich auf die Formulierung lediglich von Zielen und Prinzipien zu konzentrieren und zu verständigen, würde ihnen das eine Einigung sehr viel leichter machen. Migration und innere Sicherheit, Innovation und Wirtschaftspolitik, Schul- und Bildungspolitik, Klima- und Umweltschutz, Verkehr und Infrastruktur – in all diesen Bereichen lassen sich sicherlich ohne Schwierigkeiten gemeinsame Ziele formulieren. Selbst in der Außenpolitik, die nun wirklich keine Länder-Angelegenheit ist, dürften Einigungen möglich sein, mit denen alle Seiten leben können. Und über die Personalien werden sich alle Beteiligten – das hat die Vergangenheit gezeigt – immer recht schnell einig. Sichergestellt werden müsste in den Vereinbarungen, dass sich alle Partner „wiederfinden“ können in den Verabredungen.
Es ist allerdings richtig, dass der „Teufel im Detail“ steckt. Dennoch muss nicht jedes Detail und jede Facette im Vorhinein geklärt und festgeschrieben werden. Das kann man getrost der konkreten Regierungsarbeit und vor allem den Beratungen in den Parlamenten überlassen, die damit die ihnen ohnehin zustehende Bedeutung zurückerobern würden. Sie wären nicht länger reine Vollzugsmaschinen vorher festgelegter Koalitionsvereinbarungen, sondern könnten Entscheidungen selbstbewusst beraten und dann treffen. So lassen sich Mehrheiten finden, die auf Minderheiten wie die AfD nicht angewiesen sind.
Eine Verständigung auf ein solches Vorgehen wäre ein Fortschritt. Wenn er dann noch einherginge mit einem Verzicht auf die Festlegung, dass wechselnde Mehrheiten in den Parlamenten auszuschließen sind, wäre ein weiterer Pluspunkt zu verzeichnen. Warum eigentlich sollen sich Probleme nicht ihre jeweilige Mehrheit in den Parlamenten suchen? Dazu sind Volksvertretungen da. Wenn die Parlamente ire Aufgaben tatsächlich wahrnehmen würden, wären Einrichtungen wie Koalitionsausschüsse überflüssig. Solche Gremien sind vom Grundgesetz nicht vorgesehen, ebenso wenig wie – ein anderes Spielfeld – die Ministerpräsidentenkonferenzen. Beide Einrichtungen verstehen sich faktisch als eine Art „Über-Regierung“, der sich alle übrigen vom Grundgesetz gewollte Institutionen zu fügen haben.
Das Wort Parlament kommt vom italienischen Verb „parlare“, das heißt reden. Miteinander reden – das ist allemal besser, als sich gegenseitig Gestaltungskraft und guten Willen abzusprechen.
Sehr gute Idee ! Keep it simple ! Dann verstehen es die Bürger und die Akzeptanz steigt !