Das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) verstößt gegen Grundregeln wissenschaftlichen Arbeitens, um politisch gewünschte Ergebnisse zu produzieren
Der ökologische Nutzen von Elektroautos hängt entscheidend davon ab, wie viel CO2 bei der Produktion des Ladestroms entsteht. Eine Reihe von Institutionen wie z.B. das Ministerium des Bundes für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit hat sich dazu klar positioniert:
„Ein heute auf die Straße kommendes Elektroauto stößt über seinen Lebensweg zwischen 16 und 27 Prozent weniger Klimagase aus, je nachdem mit welchem Verbrenner-Typ man vergleicht.“
Allen diesen Institutionen ist gemein, zur Abschätzung der CO2-Emissionen bei der Erzeugung des Ladestroms vom deutschen Strommix auszugehen, der auch grünen Strom enthält. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dieses Vorgehen nicht zu begründen.
Auch das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) schloss sich der obigen Einschätzung im März 2019 an. In einem Papier mit dem Titel „Die aktuelle Treibhausgasemissionsbilanz von Elektrofahrzeugen in Deutschland“ heißt es in Kap. 7:
„Ein heute in Deutschland gekauftes elektrisches Batteriefahrzeug (BEV) weist über seine durchschnittliche Nutzungsdauer von 13 Jahren eine deutliche Treibhausgas(THG)-Einsparung auf.“
Im Unterschied zu den anderen Institutionen hat das ISI wenigstens versucht, seine Annahmen zu erklären – und fiel dabei tüchtig auf die Nase.
Bekanntlich liegt der Ökostromanteil in Deutschland bei nur ca. 40 %. Wie sollen die regenerativen Quellen da zusätzlich einen Teil des Strombedarfs der E-Autos decken? In Kap. 4.7 heißt es zu dieser Frage:
„Teilweise werden in Studien auch die stündlichen THG-Emissionen des Grenzkraftwerks zur Bewertung der THG-Emissionen für BEV angesetzt … Kritisch hieran ist, dass die Wahl der Anwendung, die die letzte nachgefragte stündliche Kilowattstunde Strom nachfragt, stark Annahmen getrieben ist. Jede der Anwendungen, die dann diese letzte Kilowattstunde nachfragt, schneidet schlecht ab, weil, wie in Abschnitt 4.1 dargestellt, das Grenzkraftwerk i.d.R. ein fossiles Kraftwerk ist und damit höhere THG-Emissionen aufweist als der durchschnittliche Strommix der jeweiligen Stunde.“
Ob gewollt oder nicht, die Frage nach der „letzten Kilowattstunde“ lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf das einzelne Elektrofahrzeug. Thema der Studie ist allerdings die generelle CO2-Bilanz des Elektroautos an sich, nicht die des einzelnen Fahrzeugs. Da Elektroautos selbst kein CO2 emittieren, müssen die zusätzlichen CO2-Emissionen der Stromproduzenten zur Produktion des gesamten Ladestroms ermittelt und auf alle E-Autos umgelegt werden. Dafür ist es vollkommen irrelevant, in welcher zeitlichen Reihenfolge die Stromabnahme der einzelnen Verbraucher erfolgt; wichtig ist nur, welche Kraftwerksarten dazu herangezogen werden, den Mehrbedarf zu decken.
Dass die Herkunft des Stroms für den Ladevorgang eines bestimmten Fahrzeugs bei Entnahme aus dem öffentlichen Netz grundsätzlich nicht nachweisbar ist, wird de facto als Scheinbegründung genutzt, um allen Verbrauchern stets denselben Strommix zuzuweisen.
Kurz darauf folgen bemerkenswerte Anmerkungen zum aggregierten Strombedarf der Elektroautos:
„Sagt man, dass die Wärmepumpen bis 2030 einen hohen Anteil an der Stromnachfrage haben und untersucht dann die THG-Emissionen für BEV, dann schneiden diese als „Grenznachfrager“ schlecht ab, die Wärmpumpen hingegen gut. Dreht man es um und lastet zuerst die BEV in das Stromsystem ein und untersucht anschließend die Effekte der Wärmepumpe, dreht sich das Ergebnisse gerade andersherum. Zur Illustration siehe Abbildung 5. Diese zeigt, dass Veränderungen der Gesamtstromnachfrage sowie der Systemlast bis zum Jahr 2030 durch eine Reihe an neuen Nachfragern verursacht ist. Deshalb wird dieser Ansatz verworfen.“
Indem sie den BEV eine weitere Gruppe von Stromverbrauchern gegenüberstellen, schienen die Autoren einen Weg gefunden zu haben, um auch aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive am Grundsatz „Strommix für alle“ festhalten zu können. Dazu mussten sie allerdings einen hohen Preis zahlen und gegen Grundregeln wissenschaftlichen Arbeitens verstoßen. Denn wenn das Ziel darin besteht, den Einfluss einer Variablen (den gesamten Strombedarf aller Elektroautos) auf eine andere Variable (den CO2-Ausstoß aller Stromproduzenten) zu untersuchen, liegt der Fall einer so genannten Partialanalyse vor. Dabei ist es methodisch unzulässig, mehrere voneinander unabhängige Größen gleichzeitig zu verändern. Genau dies tut das ISI, indem es suggeriert, die Anzahl der Wärmepumpen habe einen Einfluss auf die CO2-Bilanz von E-Autos. Da es zwischen den beiden Produkten keine direkten Wechselwirkungen gibt, liegt eine Verletzung der so genannten Ceteris-paribus-Regel vor.
Zur Bekräftigung ihrer Überzeugungen schoben die Autoren gleichwohl noch ein Kapitel 4.8 nach:
„Weiterhin geht die Nachfrage nach Strom aus klassischer Weißer Ware (Kühlschränke, Waschmaschinen…) eher zurück (siehe Abbildung 5) und man müsste die Frage beantworten, welche neue Anwendung die entstehende Lücke füllt. Zusätzlich ist zu bedenken, dass die Ausbauziele in Deutschland – und auch der EU17 – für EE-Strom keine absoluten, sondern relative Ziele darstellen (BMUB 2016); d. h. eine erhöhte Stromnachfrage durch Elektromobilität führt zu einem entsprechenden höheren Ausbau an EE-Strom, wenn man ein Erreichen der politischen Ziele unterstellt.“
Thema des Papiers ist die CO2-Bilanz von E-Autos. Darum geht es in diesem Absatz nicht; stattdessen werden gleich mehrere andere Themen gestreift. Ein argumentativer Zusammenhang mit den vorherigen Abschnitten ist nicht erkennbar. Für dieses Verhalten (dem eigentlichen Thema auszuweichen und stattdessen über andere Dinge zu reden) hat sich die Bezeichnung „Whataboutism“ eingebürgert.
Weitere Auffälligkeiten:
- Der Verweis auf den sinkenden Strombedarf der so genannten Weißen Ware stellt eine erneute Verletzung der Ceteris-paribus-Regel dar.
- Zwischen E-Autos und EE-Kapazitätsausweitung besteht kein Junktim. Bei richtigen Anreizen können die Erneuerbaren Energien auch ohne mehr E-Autos stärker ausgebaut werden. Und selbst bei beschleunigtem Ausbau würde unverändert gelten: Für jede Kilowattstunde Ladestrom könnte ein fossiles Kraftwerk heruntergeregelt werden. Damit würde nur der Zeitpunkt der hundertprozentigen Ökostromversorgung näher rücken, einen Einfluss auf die CO2-Bilanz der Elektroautos hätte dies bis dato aber nicht (dazu im Folgenden mehr).
Weiter geht es mit einem Strohmann-Argument:
„Dass nur der Strom aus Braunkohlekraftwerken für die Herstellung von Strom für BEV unterstellt wird, ist auch aus einer anderen Perspektive kaum begründbar.“
Das wäre in der Tat kaum begründbar, und darum macht das auch so gut wie niemand. In seriösen Untersuchungen wie etwa denen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung wird für die Versorgung von E-Auto-Akkus mit einem Mix aller fossilen Kraftwerkstypen gerechnet:
„Im Modelllauf mit zwölf Millionen Fahrzeugen wird der zusätzliche Strombedarf gegenüber dem Referenzfall ohne Elektrofahrzeuge zu fast 90 Prozent durch Stein- und Braunkohlekraftwerke gedeckt.“
Im Beitrag des ISI finden sich sogar offensichtlich falsche Behauptungen:
„Braunkohlekraftwerke sind typische Grundlastkraftwerke, die fast das ganze Jahr über konstant laufen. … Aus einer rein technischen Sichtweise wird man Braunkohlekraftwerke nur in seltenen Fällen schnell herunterfahren, wenn mehr EE-Strom aus fluktuierenden Quellen eingespeist wird.“
Auf öffentlich zugänglichen Grafiken eines anderen Fraunhofer-Instituts lässt sich die Stromproduktion in Deutschland beobachten. Darauf ist zu erkennen, wie die Leistung der Braunkohlekraftwerke stündlich an den Bedarf angepasst werden kann (und z.B. am 26.1.2019 von 15,4 GW Leistung um 19:00 Uhr auf 8,5 GW am darauffolgenden Morgen um 02:00 Uhr verringert wurde). Minimale und maximale Leistung betrugen im Februar 2019 4,3 GW bzw. 17,6 GW (siehe die Tabelle unter dem Diagramm).
Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) gibt diese Zusammenhänge korrekt wieder:
„Steinkohle wurde in 2012 zu Niedrigpreiszeiten mit einer Auslastung von etwa 10% bis 15% gefahren, Braunkohle hingegen mit 53% bis 74%. In 2013 variierte die Auslastung von Steinkohle hingegen zwischen 5% und 28%, bei Braunkohle zwischen 42% und 83%.“
Die Inhalte der Kapitel 4.7 und 4.8 gehen über eine unwissenschaftliche Argumentationsweise bereits deutlich hinaus. Stellenweise wird schlicht die Unwahrheit gesagt; die Einschränkung, es handele sich um „eine rein technische Sichtweise“, macht es kaum besser.
Insgesamt hinterlässt dieses Papier nicht den Eindruck einer wissenschaftlichen Studie. Es erweckt vielmehr den Anschein einer Auftragsarbeit zur Unterstützung des Elektroauto-Absatzes.
Neben dem bereits zitierten DIW gibt es durchaus noch weitere Beispiele für fachlich korrekte Argumentationen zur CO2-Bilanz von E-Autos. Die Schweizerische Energiestiftung etwa konzentriert sich im Gegensatz zum ISI auf den zu untersuchenden Einflussfaktor und kommt zu klaren Schlussfolgerungen:
„Wird der bereits zur Verfügung stehende erneuerbare Strom exklusiv für die Elektromobilität abgezweigt, wird dafür in anderen Stromverbrauchsgruppen wie Haushalt, Gewerbe oder Industrie ein entsprechend höherer Anteil nicht erneuerbarer Strom konsumiert.“
Die ISI-Autoren waren gedanklich zunächst auf dem richtigen Weg gewesen. Sie ahnten, dass der E-Auto-Ladestrom als zusätzlich zu produzierende Strommenge gesondert zu bewerten ist, und brachten immerhin den Begriff des „Grenzkraftwerks“ ins Spiel. Leider wussten sie mit dieser Einsicht aber nichts Rechtes anzufangen; den Weg zu einer der Fragestellung adäquaten Herangehensweise fanden sie nicht.
Bildquelle: Wikipedia, Edward Kimmel, CC BY-SA 2.0
Prof. Wietschel, den leitenden Verfasser der Studie des ISI, habe ich per E-Mail direkt kontaktiert und u.a. diese Fragen gestellt:
„Würden Sie nicht auch zustimmen, dass jede Studie über die CO2-Bilanz von Elektroautos, welche für die Ladestromproduktion vom Strommix ausgeht, zu falschen Ergebnissen kommen muss?
Kann es sein, dass sich dahinter ein Denkfehler verbirgt, der darin besteht, eine mikroökonomische Perspektive einzunehmen, wo eine makroökonomische Betrachtungsweise zwingend notwendig ist?“
Die kurze Antwort (die ich ohne sein Einverständnis nicht veröffentlichen darf) enthält keine neuen Argumente, wohl aber einen Verweis auf – die eigene Studie.