Meinungsjournalismus, zumal der unterm Stahlhelm, folgt oft einer simplen Dramaturgie: Zustände zum Haare-Ausraufen werden ins Helle, Offene überführt, Ästhetik einer zur S-Kurve kupierten Achterbahn. Da nehmen sich bürgerlicher Großjournalismus und Boulevardschmiererei nichts. Unter Jacken und Hosen derselbe Mief.
Einer der großen Simple Minds vom Main, Claudius Seidl, hat das am 04.04.2024 im Feuilleton der FAZ am Thema Kriegstüchtigkeit vorgeführt, die Überschrift in gekonnter Brecht-Nähe: „Tapfer sind die Verweichlichten“. Bevor ich eine kleine Führung durch das von ihm veranstaltete blei- wie zuckerhaltige Sprachgewitter gebe, noch eine kurze Begriffsklärung: Kriegstüchtigkeit meint zweierlei. Einmal das Vorhandensein einer ausreichenden Zahl von Tötungs- und Zerstörungswerkzeugen, letztlich eine funktionierende ressourcenstarke Kriegswirtschaft, zum anderen die entsprechende Bereitschaft, Menschen, die zum „Feind“ erklärt wurden, zu töten und dabei, was meistens weniger laut gesagt wird, das eigene Leben gegebenenfalls zu opfern. In beiderlei Hinsicht tut Seidl so, als stehe Pistorius „auf verlorenem Posten“. Auf Entwarnung lenkt aber sofort und subtil ein unscheinbares Verb: Das „scheint“ so zu sein.
Auf politischer Ebene ist die Inkarnation der „Feigheit“ und Hauptfeindin der geforderten Kriegstüchtigkeit, wie man ahnen kann, Sahra Wagenknecht, dann kommt aber schon gleich der „Mützenich-Flügel der SPD“. Man kennt solche trennscharfe Sortierung der Sozialdemokraten aus der Geschichte: Einen großen Teil der Sozialdemokraten verfolgen, ängstigen ( = terrorisieren) und gegebenenfalls töten oder ins Exil treiben, den Noske-Flügel ob seiner Verdienste beim Arbeitermorden hätscheln und mit satten Pensionen ungestört altern lassen. Nach diesem Muster treiben bellizistische Meinungsmacher und Politiker seit Monaten, nein Jahren die SPD vor sich her, damit diese selbst das letzte ihr noch verbliebene politisch-intellektuelle Kapital vernichtet.
FDP und CDU/CSU haben zwar Politiker mit der richtigen Kriegsgesinnung, fallen aber bei Seidl durch, weil sie einmal an der Schuldenbremse festhalten (ohne deren Aufhebung nicht genügend Ressourcen für den Krieg mobilisiert werden können), zum anderen weil sie noch zögern, den Unteren klar und hart zu sagen, dass sie auf einen „Teil des Wohlstands“ verzichten müssen. Die AfD wird von Seidl unterschätzt. Er sieht sie als Partei von Windmachern, erkennt aber etwas Richtiges am faschistischen Männerkult der Krahs und Höckes: „Tapfer sind diese Rechten nur, wenn es gegen Flüchtlinge geht … Es gibt ein Wort für diese Art von Tapferkeit. Man nennt sie Feigheit.“ Gut gefaucht, alter Hauskater. Nur ist es die halbe Wahrheit: Diese feige faschistische Totschlägerwut kann sich nur deshalb an deutlich und stets Schwächeren austoben, weil sie nicht strafrechtlich verfolgt oder wenn doch mit lächerlich milden Strafen geahndet wird. Halb ist diese Wahrheit auch deshalb, weil niemand vorhersehen kann, wie sich dieses Gewaltpotential, das nicht nur in den über 1000 Waffenscheinbesitzern im rechten Lager besteht, entlädt, wenn es der Disziplin einer militanten Strategie der Demokratiezerstörung unterstellt wird und zielgerichtet zum Einsatz kommt.
Gesellschaftlicher Unterbau des von Seidl gerügten Parteienversagens vor den kommenden Kriegen bilde die durchgehende „Verweichlichung“ einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich vor allem durch ihre Verletzlichkeit, „Vulnerabilität“, charakterisieren: Zu oft zitterten die morschen Knochen schon beim ersten „drastischen“ (Männer- und Macht-)Wort und immer mehr flüchteten in die „Safe Spaces“, um ihre empfindlichen Seelen vor Verstörungen durch Wirklichkeit und Fiktionen zu schützen. Da lache sich nun Putin in die Fäuste angesichts einer von der „sogenannten Generation Schneeflöckchen“ geprägten Gesellschaft: „weich und weibisch, dekadent, verschwult, verwöhnt“. Wer spricht? Seidl, Putin? Immer wieder Putin.
Aber warum in die Ferne schweifen, wo doch solche Befunde um die nächste Ecke zu haben sind. Schon 2007 klagte Herfried Münkler aus Friedberg darüber, dass „postheroischen Gesellschaften“ die „Idee des Opfers“ verloren gegangen sei, „bei dem einer sich hingibt, um das Ganze zu retten“. Ja, wir müssen wieder sterben, damit Deutschland leben kann. So überrascht es nicht, dass er den am übermäßigen Coca-Cola-Genuss kränkelnden Dekadenten des Westens mit kaum verhohlener Bewunderung „die zum Selbstopfer bereiten Todesvirtuosen terroristischer Netzwerke“ als Vorbild entgegenhält. Todesvirtuosen! Sieben Jahre später lobte er anlässlich der 100 jährigen Wiederkehr des Ersten Weltkrieges die „ästhetische Anmutung“ des deutschen Stahlhelms und den Mut adliger oder großbürgerlicher „Stoßtruppführer“. Die vertrieben sich die Langeweile in den Schützengräben und Unterständen der Materialschlachten durch militärische Ausfälle, die den Kampf Mann gegen Mann simulierten, militärisch völlig sinnlos waren, aber ungezählten Soldaten das Leben kosteten. Diesen Stoßtrupps folgten übrigens Soldaten wie Treiber auf der Jagd mit dem Auftrag, jeden, der dieser Sinnlosigkeit zu entkommen versuchte, niederzuschießen. Soviel zum aufopfernden Heldenmut im Krieg.
Seidls Wendung besteht nun darin, im grünen akademischen Milieu der Verweichlichung und Selbstergriffenheit zugleich das Rettende zu sehen, seien doch die Grünen und ihr Milieu „am ehesten bereit zur Kriegsertüchtigung“. Der Spott über den langhaarigen Problembären Hofreiter oder über die so gar nicht amazonenhafte Erscheinung der Annalena Baerbock gehe fehl, weil im Krieg schon lange nicht mehr „starke Körper auf andere starke Körper“ stießen wie in den Schwertkämpfen der Vergangenheit. Vielmehr komme es im modernen Krieg auf supermoderne Waffen an, die nicht von Muskelprotzen, sondern „womöglich von Nerds, Brillenschlangen, Veganern“ entwickelt worden sind und gesteuert werden. Nicht Rambo macht den Unterschied, sondern Dr. Seltsam auf Taurus. Man liegt nicht falsch, hierbei an Leute wie Sascha Lobo zu denken. Auf das Nervenkostüm solcher Bombenliebhaber kommt es im grünen, vermeintlich ökologischen Krieg in der Tat am wenigsten an. Dass sie bereitwillig Einschränkungen an „Wohlstand, Komfort, Bequemlichkeit“ in Kauf nehmen, will man glauben, solange sich diese Einschränkungen in Grenzen halten, den Überschuss und Überfluss nur unwesentlich kürzen und die Hauptrechnung wie immer die Proleten und Prekarisierten zu zahlen haben. Schon 1967 wusste Franz Josef Degenhardt, mit welchem Kriegertypus wir es zu tun bekommen werden: „Das schlägt zu mitten im Flennen, aus Rotz und Blut ist dieser Brei“. Natürlich weist die Tradition dieses Typus noch weiter zurück und nicht nur auf den Hühnerzüchter Himmler. Bei Götz Aly und Susanne Heim kann man lernen: Die „Vordenker der Vernichtung“ waren deutsche Akademiker, Schmiss geschmückte Absolventen von Universitäten, die allerdings keine Zivilklausel kannten.
Das verweist auf eine Differenz, die Seidls halbierter Realismus verschweigt. Auch in den modernen Kriegen kämpfen nicht nur Nerds gegen Nerds, zerstören intelligente Waffen nicht nur Infrastruktur und Panzer, sondern auch diejenigen, die sie fahren, die in den bombardierten Fabriken und Krankenhäuser arbeiten und in den Häusern leben. Es gibt keinen modernen Krieg ohne mit jedem wissenschaftlich-technischen Fortschritt potenziertes Massensterben und -morden. „Unsere Freiheit“, sagt man uns, werde in der Ukraine verteidigt und verschweigt, dass und wie sie gestern noch am Hindukusch verteidigt worden ist. Für diese Art von Freiheit müsse man Opfer bringen. Wohlstand gehört nicht zu den Menschenrechten und es gibt Wichtigeres, als im Frieden zu sein. Wie immer werden diese Opfer bei den Rüstungsakademikern anders ausfallen als beim Kanonenfutter aus den Unterklassen. Und ganz andere, die im Feuilleton nicht Genannten und nicht zu Nennenden, werden gar keine Opfer bringen, sondern prächtige Profite einfahren, aus Stahl und Elektronik und auf den Rotz- und Blutböden dieser Welt.